KAPITEL NEUNZEHN

Rowan

Nach meinem Meeting mit Jenny und Sam laufe ich wie die streunende Katze, als die Zahra mich beschrieben hat, an ihrem Büro vorbei. Falls ihr mein wachsendes Interesse an ihr aufgefallen sein sollte, lässt sie es sich zumindest nicht anmerken.

Ich bleibe vor der Wand direkt vor ihrer Bürozelle stehen. An die graue Verkleidung ist ein weißes Blatt Papier mit vorgeschnittenen Abschnitten gepinnt, die im Luftzug flattern und von denen bisher nur ein einziger abgerissen wurde. Darauf steht fett gedruckt:

Werde Teil unseres Buddy-Teams und noch heute ein Mentor! Bei Fragen ruft mich gerne an. Wir freuen uns, wenn du dabei bist.

Die restliche Beschreibung bleibt recht vage; es wird nur erwähnt, dass es die Möglichkeit gibt, an einem Mentorenprogramm für Dreamland-Mitarbeiter teilzunehmen. Ich meine mich zu erinnern, dass Martha es bei unserem Morgen-Meeting erwähnt hat, aber nachdem das Wort ehrenamtlich gefallen war, habe ich nur noch mit halbem Ohr zugehört. Meine Zeit ist knapp bemessen, und mir Gedanken über irgendein Angestellten-Meeting zu gemeinnütziger Arbeit zu machen, gehört nicht zu meinen Aufgaben.

Auf dem Abriss steht die Adresse, wo das Treffen stattfinden soll, und eine Kontakt-Telefonnummer, die mir sehr bekannt vorkommt. Etwas an der Vorstellung, dass jeder sie einfach so anrufen könnte, lässt meine Haut glühen.

Es fehlt nur ein einziger Abschnitt von insgesamt zehn. Ich könnte mir die Aufzeichnungen der Überwachungskameras ansehen, um rauszufinden, wer ihn abgerissen hat, aber das wäre selbst für mich ein Schritt zu viel.

Wer könnte die Nummer genommen haben? Es gibt nicht besonders viele junge Entwickler, die Interesse an Zahra haben könnten. Da ist dieser blonde Typ aus dem Beta-Team, den ich ein- oder zweimal dabei beobachtet habe, wie er Zahras Arsch anstarrt. Als er gemerkt hat, dass er erwischt worden ist, hat er mir tatsächlich zugegrinst, und ich musste die Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballen. Am Ende habe ich mich damit begnügt, seine Präsentation auseinanderzunehmen.

Auch jetzt spüre ich, wie sich meine Finger unwillkürlich zu Fäusten ballen. Nachdem ich mich kurz umgesehen habe, reiße ich die restlichen Abschnitte herunter. Hastig stopfe ich sie in meine Hosentasche, bevor ich die Gelegenheit habe, mich selbst für diese lächerliche Aktion zu ohrfeigen.

Ich führe mich auf wie ein verdammter Irrer.

Wen interessiert es bitte, wer ihr schreibt?

Mich. Mich interessiert es.

Aber warum?

Stöhnend fahre ich mir mit einer Hand über das Gesicht.

In diesem Moment streckt Zahra ihren Kopf aus dem Büro. Als ihr Blick auf mich fällt, verblasst ihr Lächeln. »Oh, Sie sind’s.«

»Erwarten Sie jemanden?« Lass sie nicht auf Chad warten. Oder heißt er Brad? Passt beides zu dem blonden Arsch.

Du klingst wie ein eifersüchtiger Idiot.

Sie zieht die Brauen zusammen. »Was? Nein. Ich wollte nur nachsehen, ob jemand Fragen zu …« Mit aufgerissenen Augen starrt sie auf das Info-Blatt vor mir. »Wahnsinn! Ich hätte nicht gedacht, dass sich so viele Leute für das Programm interessieren.« Sie strahlt übers ganze Gesicht – so hell, dass alles andere im Vergleich damit verblasst. Ich fühle mich hilflos in ihrem Magnetfeld gefangen, so nah an der Sonne, dass ich überzeugt bin, jeden Moment in Flammen aufzugehen. Eine passende Art, diese Welt zu verlassen, basierend auf der Lüge, die als Nächstes aus meinem Mund kommt.

»Es war nur noch ein Abschnitt übrig.« Ich sollte mich schuldig fühlen, aber das tue ich nicht.

Zahras Lächeln erreicht ihre Augen. »Heißt das, Sie haben den letzten Abriss genommen?«

Verdammt. Warum muss sie bloß so schlau sein?

»Ja«, murmele ich. Mir dreht sich der Magen um, und meine Kehle fühlt sich auf einmal an, als würde sich eine unsichtbare Hand darum legen und zudrücken.

»Super! Heute Abend um 20 Uhr. Punkt 20 Uhr.« Ihre Augen glitzern, als ob es sie amüsieren würde, sich über meine Pünktlichkeit lustig zu machen.

Ich runzele die Stirn. »Sollten Sie um die Zeit nicht arbeiten?«

»Was, wenn ich Ihnen sage, dass die Aktion etwas mit einer Idee zu tun hat, die ich gerade entwickle?«

Ich nehme das Blatt Papier von der Wand und lese noch einmal den Text. »Ich würde es bezweifeln. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass ich irgendwas absegnen werde, das mit Cupcakes und Scharade zu tun hat. Ich habe keine Ahnung, wem Sie als Mentor zur Seite stehen wollen, aber wir haben kein Interesse daran, Kleinkinder einzustellen.«

Ihr Lächeln verschwindet. »Vergessen Sie, das jemals gelesen zu haben, und werfen Sie meine Nummer weg.« Sie reißt mir den Zettel aus der Hand und verschwindet in ihrem Büro, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Noch nie habe ich Zahra dermaßen wütend erlebt. Was an dieser ganzen Aktion bringt sie so auf die Palme?

Wen interessiert’s? Jetzt hast du wenigstens einen Grund, nicht hin zugehen.

Aber was verbirgt sie?

Ich verlasse das Lagerhaus und entsorge alle Abrisse bis auf einen im nächsten Mülleimer.

* * *

Als ich durch die Tür des kleinen Konferenzraums trete, fange ich Zahras Blick auf. Der Raum, für den sich Zahra entschieden hat, befindet sich im hinteren Teil des Parks innerhalb des Wohnkomplexes für die Angestellten. Bisher war ich nur ein einziges Mal hier, um mir einen Überblick über das Gelände zu verschaffen.

Ihr Lächeln fällt in sich zusammen, als ich mein Jackett aufknöpfe und Platz nehme, als würde ich hierhergehören. Mein Hals brennt unter ihrem Blick, mit dem sie jeder meiner Bewegungen folgt, als ich die Hand ausstrecke, um mir einen Cupcake von einem Tablett zu nehmen.

Ihre kleinen Hände ballen sich an ihren Seiten zu Fäusten. Eigentlich mag ich gar keine süßen Sachen, aber ich tue so, als sei es der beste Cupcake, den ich jemals gegessen habe.

Komm schon. Zeig mir, was du wirklich unter deinem aufgesetzten Lächeln und den unschuldigen Pins versteckst.

Apropos, die heutige Dosis Serotonin besteht aus einer albernen Geisterfigur mit einem Sombrero und den Worten Ami-Ghost. Wo findet sie diese Dinger, und warum trägt sie sie?

Zahra sieht mich aus schmalen Augen an. »Was machen Sie hier?«

Ich sehe mich in dem leeren Raum um, als wäre die Antwort offensichtlich. Der Mangel an Teilnehmern erfüllt mich mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben.

»Ich nehme am Meeting teil. Fahren Sie fort.«

Sie beugt sich über den Tisch in dem Versuch, mich einzuschüchtern, was ihr nicht gelingt. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe. Außerhalb der Arbeitszeiten sind Sie nicht mein Vorgesetzter.«

»Solange Sie sich auf dem Firmengelände aufhalten, sind Sie immer noch meine Angestellte.«

»Hier gehört alles zum Firmengelände.«

»Scharfsinnig beobachtet, wie gewohnt.«

Zahras Augen werden noch schmaler, während ihre Wangen eine rote Färbung annehmen, die ich bisher noch nicht bei ihr gesehen habe. Aus irgendeinem Grund bin ich gespannt, mehr über diese Version von ihr zu erfahren. Sie steht in starkem Kontrast zu ihrem fröhlichen, anstecknadeltragenden Selbst, das sie der Welt sonst zeigt.

Eine junge Frau mit braunen Haaren und einer Limoflasche in der Hand betritt den Raum, hinter ihr folgt ein blonder Typ. Aufgrund ihrer Gesichtszüge vermute ich, dass sie mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen sind.

Okay, jetzt weiß ich, um was für ein Mentorenprogramm es sich handelt. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit empfinde ich aufrichtige Reue. Kein Wunder, dass Zahra so wütend wegen meiner Bemerkung war.

Verdammt, du kannst manchmal so ein beschissenes Arschloch sein.

Zahra grinst. »Ihre letzte Chance zu gehen, bevor es zu spät ist.«

»Ich glaube, ich würde das gerne durchziehen.« Ich habe gemeint, was ich über Herausforderungen gesagt habe. Je mehr Zahra mich wegstoßen will, desto stärker werde ich dagegenhalten.

Die Frau mit den braunen Haaren stößt Zahra einen Ellbogen in die Rippen. »Sei nett. Er ist süß.« Ihre braunen Augen leuchten und bringen ihre sanften Züge zum Vorschein.

Sie ist ab sofort offiziell mein neuer Lieblingsmensch.

Zahra starrt sie an. »Ich bin nett.«

Darauf hebe ich eine Augenbraue.

»Warum sind Sie wirklich hier?« Zahra sieht sich in dem Konferenzraum um, der bis auf uns vier leer ist.

Ich könnte darauf hinweisen, dass sonst niemand aufgetaucht ist, aber das ist meine verdammte Schuld.

»Ich interessiere mich für das Mentorenprogramm.«

Sie schnaubt spöttisch. »Was ist aus dem fehlenden Interesse daran geworden, Kleinkinder einzustellen?«

»Ich habe mich geirrt.«

Ihre Augenbrauen heben sich. »Sie … Nun ja … Wow. Okay. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in der Lage sind, einen Fehler einzugestehen.«

»Setzen Sie lieber kein Geld drauf, dass es noch mal vorkommt.« Mein Kommentar bringt mir ein kleines Lächeln ein. »Also, fangen wir jetzt an, oder haben Sie vor, mich den ganzen Abend lang anzustarren?«

Die Frau neben Zahra kichert.

Zahras Blick wandert von ihr zu mir. »Wissen Sie was, Rowan? Ich weiß, für wen Sie der perfekte Mentor wären.«

Mentor?

Ich habe nie zugestimmt, irgendjemandes Mentor zu werden. Ich bin nur hier, um mir das Ganze anzusehen, nicht um an dem Programm teilzunehmen. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie jemandes Mentor. Es erfordert zu viel reden und zu viel Zeit, und am Ende erledigt man den Job sowieso selbst, indem man alles noch mal überarbeitet.

Die Art, auf die Zahra mich anlächelt, löst ein Prickeln auf meiner Haut aus. »Ani, du und Rowan werdet Partner sein.«

Die junge Frau kichert. »Juchu!«

Verdammt, dieses Lachen sollte mir Sorgen machen.

* * *

»Meine Schwester hat mir von dir erzählt.« Ani und ich setzen uns auf eine Bank in der Nähe des Apartmentkomplexes. Zahra und der junge Mann unterhalten sich irgendwo anders, damit wir alle in Ruhe unser erstes offizielles Mentorentreffen planen können.

»Wie heißt deine Schwester?«

Sie sieht mich an, als sei ich der dümmste Mensch auf dem Planeten. »Zahra.«

Ich lasse den Kopf sinken. »Ich wusste gar nicht, dass sie eine Schwester hat.«

»Überraschung!« Sie grinst.

»Kannst du dann nicht noch die Schwesterkarte ausspielen und einen Rückzieher machen?«

Ani mustert mich mit zusammengezogenen Brauen. »Warum?«

»Weil keine Schwester, die dich liebt, mich als Partner für dich aussuchen würde.«

»Quatsch, ich glaube nicht, dass du so schlimm bist.«

»Und das weißt du nach den zwei Sekunden, die wir uns kennen?«

Ani schüttelt den Kopf. »Das weiß ich, weil nicht viele Männer zu so einem Treffen kommen würden. Lance wollte nie.«

»Wer ist Lance?«

»Zahras Ex.«

»Er klingt nach einem Arsch.«

Sie stößt mir ihren Ellbogen in die Seite. »Nicht fluchen.«

Ich hebe entschuldigend die Hände.

Sie beginnt an dem Haargummi an ihrem Handgelenk herumzuspielen. »Ich mochte ihn nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil er mich immer so komisch angeguckt hat. Und manchmal habe ich ihn am Telefon Sachen sagen hören, wenn ich heimlich gelauscht habe.« Sie schaut auf ihre Füße. Beim Anblick ihrer Miene frage ich mich, was für schreckliche Sachen das gewesen sein müssen.

»Was hat er gesagt?«

Sie schüttelt heftig den Kopf. »Nichts.«

»Warum nimmst du ihn in Schutz?«

»Tue ich nicht. Das ist lange her, und ich will Zahra nicht wieder traurig machen.« Ihre Unterlippe zittert.

Wow, Ani muss ihre Schwester sehr lieben. Und auch wenn ich von meinen Brüdern das Gleiche behaupten würde, bezweifle ich, dass sie wegen etwas in Tränen ausbrechen würden, um mich zu schützen.

Ani stößt mich mit der Schulter an. »Und, warum bist du heute Abend gekommen?«

»Ich war neugierig.«

»Auf meine Schwester?« Ihr Grinsen wird breiter.

»Auf das Treffen. Ich war mir nicht sicher, ob sie eventuell einen Putsch gegen mich plant.«

Ani kichert. »Keine Sorge, ich behalte dein Geheimnis für mich.«

»Was für ein Geheimnis?«

»Du wolltest meine Schwester sehen«, flötet sie im Singsangton.

Ich stibitze ihr den Cupcake aus der Hand. »Den nehme ich als Bezahlung.« Ich hatte ganz vergessen, wie Zucker schmeckt, aber was auch immer Zahras Geheimzutaten sind, diese Cupcakes machen mir Lust auf mehr.

»Hey! Bezahlung für was?« Sie versucht, mir den Cupcake wieder wegzunehmen.

»Für alles, was ich mir noch von dir anhören muss, bis wir hiermit durch sind.«

»Und das ist erst der erste Tag. Du hast noch Monate vor dir.«

»Dann bringst du besser jede Menge Cupcakes mit.«

Ich lasse mich als Anis Mentor eintragen. Nicht, weil Zahra mich dazu verpflichtet, sondern weil ich sie irgendwie mag.

Vielleicht kann Ani dir ein besseres Verständnis dafür vermitteln, wer Zahra wirklich ist.

Ich knirsche mit den Zähnen.

Und was, wenn Zahra wirklich eine nette Person ist und du nur zu verbittert bist, das zu akzeptieren?

Etwas an diesem Gedanken beunruhigt mich. Denn sollte Zahra tatsächlich nett sein, würde das mein ganzes Weltbild durcheinanderbringen.

Ich schüttele den Kopf. Es wäre dumm, jemandem aufgrund einiger weniger Interaktionen zu vertrauen.