KAPITEL EINUNDZWANZIG

Rowan

Was unternimmst du normalerweise am Wochenende?« Ani stibitzt etwas von meiner Zuckerwatte, bevor sie sich wieder neben mich auf die Bank setzt.

Die Bank in einer Ecke des Dreamland-Geländes ist zu unserem wöchentlichen Treffpunkt geworden. Auch wenn meine Gründe, am Mentorenprogramm teilzunehmen, ursprünglich keinen altruistischen Hintergrund hatten, genieße ich inzwischen die kleine Pause von meinem hektischen Arbeitsalltag; ich empfinde es als angenehm, Zeit mit Ani zu verbringen. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass sie einige von Zahras besten Eigenschaften teilt. Sie übernimmt die Gesprächsführung in einer Unterhaltung, sodass ich die Chance habe, mich einfach mal zurückzulehnen und zuzuhören. Dank ihr kann ich eine Stunde lang in der Woche alles vergessen, was mit Dreamland und den Forderungen meiner Mitarbeiter zu tun hat.

»Außerhalb meiner Arbeit unternehme ich nicht wirklich viel.«

Sie schnaubt übertrieben verächtlich. »Langweiler.«

»Was machst du denn an den Wochenenden?«

Sie beginnt zu strahlen. »Ich verbringe Zeit mit JP . Schaue Filme. Gehe in die Mall, shoppen.«

»Klingt nett«, sage ich tonlos.

Sie kichert. »Magst du solche Sachen auch?«

»Nein. Bei der Vorstellung, in eine Mall gehen zu müssen, stellen sich mir die Nackenhaare auf.«

»Zahra hasst die Mall auch.« Ani grinst.

»Was du nicht sagst.« Ich presse die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Ani findet bei jeder unserer Unterhaltungen einen Grund, Zahra zu erwähnen. Zuerst dachte ich, dass es daran liegt, dass Ani ihre ältere Schwester auf ein Podest stellt – was sie tatsächlich tut –, aber nach den ersten Treffen sind mir ihre wahren Absichten hinter den Bemerkungen klar geworden. Sie möchte mich verkuppeln. Ani versucht, subtil zu sein, aber selbst mit geschlossenen Augen würde einem nicht entgehen, wie sehr sie sich darüber freut, wenn ich ihr im Gegenzug ein oder zwei Fragen über Zahra stelle. Sie befriedigt meine Neugier, während ich ihre kleine Mission unterstütze.

Auch diesmal wird sie sofort hellhörig. »Apropos, du und Zahra, ihr habt einiges gemeinsam.«

Was ich bezweifle. Zahra ist in jeder Hinsicht mein Gegenteil. Ich kann mich unmöglich mit einer Frau vergleichen, die es schafft, mit einem einzigen Lächeln einen ganzen Raum zum Leuchten zu bringen. Sie ist wie die Sonne – die Leute kreisen um sie, um in ihrer Wärme zu baden. Ganz im Gegensatz zu mir, der es schafft, Menschen mit nichts als seinem mürrischen Blick auf Abstand zu halten.

»Dir fällt jedes Mal ein Grund ein, deine Schwester zur Sprache zu bringen.«

Ani schiebt sich eine braune Locke hinters Ohr. »Weil ihr euch mögt.«

»Und das weißt du woher so genau?« Mein Tonfall ist nach wie vor neutral, obwohl mein Interesse mit jeder Sekunde wächst.

»Sie sieht dich an, als wollte sie Babys mit dir haben.«

Ich verschlucke mich an meinem Atem und beginne zu husten. Hastig klopfe ich mir mit der Faust auf die Brust und hole tief Luft. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht stimmt.«

»Du hast recht. Ich wollte nur deine Reaktion sehen.« Sie zuckt mit den Schultern.

Unfassbar .

»Du bist eine sehr grausame Frau.« Als Strafe klaue ich ihr ein Stück Brezel.

»Aber was meine Schwester wirklich macht, ist, dich anzulächeln«, bemerkt sie in süßem, unschuldigem Tonfall.

»Sie lächelt jeden an«, murmele ich.

»Woher willst du das wissen?«

Verdammt . So harmlos Anis Frage klingt, entlarvt sie, wie viel Aufmerksamkeit ich Zahra schenke. Und Anis Grinsen verrät mir, dass ihr das vermutlich ebenfalls nicht entgangen ist.

»Es ist kaum zu übersehen.«

»Wie süß!«, quietscht sie. »Wusste ich es doch!«

»Was wusstest du?«

»Du magst meine Schwester.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Stimmt, aber du hast gelächelt.«

Mist, das ist mir gar nicht aufgefallen. Reiß dich zusammen .

»Menschen lächeln.«

Ani schüttelt lachend den Kopf. »Du nicht.«

»Lass uns einfach so tun, als hätte diese Unterhaltung niemals stattgefunden.«

»Sicher, Rowan. Sehr gerne.« Und damit nimmt sie sich eine weitere Handvoll Zuckerwatte von mir als Bezahlung für ihr Schweigen.

Aber etwas an ihrem Lächeln lässt mich vermuten, dass ich mich alles andere als in Sicherheit wiegen sollte.

* * *

Ich lösche die Lichter in meinem Büro und ziehe mein Handy aus der Tasche.

Ich: Hey. Ich bin mit deiner Zeichnung fertig. Schicke sie dir morgen.

Ich müsste Zahra nicht schreiben, aber es fühlt sich komisch an, einen ganzen Tag lang nicht mit ihr gesprochen zu haben. Mit jeder hektischen Arbeitsstunde, die vergangen ist, bin ich unruhiger geworden. Was mir eine Warnung sein sollte, dass ich immer abhängiger von ihrer Gesellschaft werde. Trotzdem kann ich mich nicht davon abhalten.

Mein Handy vibriert in meiner Hand. Zahra hat mir ein Foto aus ihrem Büro geschickt, dessen eine Wand sie mit mindestens hundert Post-its tapeziert hat.

Ich: Du arbeitest noch? Es ist zehn Uhr abends.

Zahra: Ja, Opi. Ich hatte eine lustige Idee, die ich fertigstellen wollte, bevor ich nach Hause gehe.

Ich: Was könnte besser sein als Schlaf?

Zahra: Abendessen.

Mit gerunzelter Stirn tippe ich meine nächste Nachricht.

Ich: Dann hast du noch gar nichts gegessen?

Zahra: Exakt. Und meine Snacks sind seit Stunden aufgebraucht.

Ich: Mein Mitleid ist dir sicher.

Ich: Deine Arbeitseinstellung erinnert mich an Rowans.

Ich bin ein Arschloch, dass ich auf mich selbst Bezug nehme, aber mich interessiert ihre ungefilterte Meinung über mich.

Zahra: Na klar. Schön wär’s …

Zahra: Der Mann muss ein eingebautes Solar-Panel haben, das ständig neue Energie produziert – der ist auf keinen Fall menschlich.

Ich stoße ein raues Kichern aus. Das wäre ziemlich praktisch und sehr viel zeiteffizienter als schlafen.

Ich: Klingt plausibel. Zumindest würde das erklären, warum er während seiner Mittagspause spazieren geht.

Zahra: Woher weißt du das alles?!

Verdammt. Ja, genau, Scott, woher weißt du das alles?

Ich: Jeder weiß, dass man der Pausen-Hinterhof-Tratschrunde besser fernbleibt.

Zahra schickt mir mehrere lachende Emojis und eine weitere Nachricht.

Zahra: Oh, davon wusste ich gar nichts.

Ich: Weil du in einem Lagerhaus lebst. Geh nach Hause.

Zahra: Mach ich. Mach ich. Wahrscheinlich in einer Stunde.

Kopfschüttelnd stecke ich mein Handy ein. Auch wenn ich froh bin, dass es Entwickler bei uns gibt, die ihren Job so ernst nehmen wie Zahra, gefällt mir der Gedanke, dass sie so spät und mit leerem Magen arbeitet, nicht.

Der Weg von meinem Büro bis zum Katakombeneingang ist nicht weit. Als ich durch den Tunnel gehe, merke ich, wie ich langsamer werde, als ich dem Entwickler-Lagerhaus näher komme.

Du könntest reingehen und Zahra dazu zwingen, nach Hause zu gehen, um morgen mit einem gefüllten Magen und ausreichend Schlaf wiederzukommen .

Ohne länger darüber nachzudenken, steige ich die Stufen hinauf und öffne die Tür. Den Weg zu Zahras Büro kenne ich inzwischen auswendig; davor bleibe ich stehen und sehe ihr bei der Arbeit zu. Das ist meine Art von Unterhaltungsprogramm, zu beobachten, wie sie auf ihrer Unterlippe kauend ein Post-it von der Wand nimmt und es zu einem ordentlichen kleinen Quadrat zusammenfaltet. Sie dreht sich um und versucht, das Papier in ein großes Einmachglas zu werfen, allerdings verfehlt sie ihr Ziel um einige Zentimeter, und das Post-it fällt zu Boden.

»Netter Wurf.«

Zahra zuckt zusammen und fährt zu mir herum. »Sie haben mich erschreckt!« Sie mustert mich von oben bis unten. »Was machen Sie überhaupt hier?«

Ich bin sprachlos. Was ich hier mache?

»Ich wollte nachsehen, ob noch jemand arbeitet.« Das ist immerhin die Wahrheit.

»Warum?« Sie hebt eine Augenbraue.

»Ich wollte eine zweite Meinung zu etwas haben.«

Verdammt noch mal, geh nach Hause, solange du noch eine Chance dazu hast.

»Alles klar. Dann schießen Sie mal los.« Sie lehnt sich lächelnd gegen ihren Schreibtisch.

Wozu um alles in der Welt könnte ich sie um ihre Meinung bitten?

»Rowan?«

»Ich bin mir unsicher, ob es sich lohnt, unser ältestes Fahrgeschäft weiter zu betreiben.«

Ihr ganzes Gesicht leuchtet auf. »O nein, bitte reißen Sie es nicht ab. Ich liebe die …« Ihr knurrender Magen lässt sie innehalten, und von einem Moment auf den anderen wird sie knallrot.

Ich sehe sie finster an. »Sie haben das Abendessen ausfallen lassen.«

»Äh … woher wissen Sie das?« Ihre Wangen werden tatsächlich noch röter.

Ja, Rowan. Woher weißt du das? Fuck, heute Abend vermassele ich wirklich alles. Wer hätte gedacht, dass es dermaßen schwierig ist, zwei Identitäten zu haben?

»Sie sind immer noch hier, bei der Arbeit.«

»Stimmt. Ich wollte aber gleich los, also …« Ihr Magen knurrt schon wieder, diesmal sogar noch lauter, und mein Puls beschleunigt sich.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. »Wie wäre es mit Chinesisch?«

Sie öffnet erstaunt den Mund, doch es dauert einen Moment, bevor sie herausbringt: »Ähm … Ja, gerne.«

Ich wähle die Nummer von einem Restaurant, die ich nach viel zu vielen durchgearbeiteten Nächten irgendwann abgespeichert habe. Da ich mir nicht sicher bin, was Zahra gerne mag, bestelle ich von allem etwas. Wahrscheinlich ist es viel zu viel Essen, aber ich möchte, dass sie etwas isst, das ihr schmeckt.

Nachdem ich aufgelegt habe, stelle ich fest, dass Zahra mich noch immer fassungslos anstarrt. »Sie müssen mir nichts zu essen bestellen.«

»Ich habe Hunger. Sie können die Reste haben«, gebe ich zurück, als wären damit alle Fragen geklärt.

»Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das gesamte Essen des Restaurants aufgekauft haben.«

Darauf schweige ich.

Ihre Brauen ziehen sich zusammen, bevor sich ihr Gesichtsausdruck verändert. »Okay. Also, warum denken Sie darüber nach, unser ältestes Fahrgeschäft abzuschaffen?« Sie setzt sich auf den Boden, der mit Post-its, Papieren, Markern und anderen Dingen übersät ist.

Stimmt, ich wollte ihre Meinung hören.

Ich folge ihrem Beispiel und lehne mich mit dem Rücken an die hintere Trennwand ihrer Bürozelle. Zahra lacht, als ich mein Jackett ausziehe und es neben meine Beine fallen lasse.

»Was ist so lustig?«

Sie beschreibt eine Geste, die meinen Körper einschließt, als würde das bereits meine Frage beantworten. »Sie sitzen auf dem Boden.«

Ich sehe an mir herab. »Und?«

»Das ist komisch.« Sie legt ein Bein über das andere.

Ich beschließe, ihre Bemerkung zu ignorieren. »Das Fahrgeschäft ist alt. Ich bin mir unsicher, ob es sich lohnt, es weiterzubetreiben.«

Sie holt tief Luft. »Ich hoffe, das ist ein Scherz. Ob es sich lohnt?!«

Ich nicke in dem Wissen, dass diese Art Frage eine stundenlange Diskussion nach sich ziehen könnte. Und genau so ist es. Während wir auf den Lieferdienst warten, erzählt mir Zahra die Geschichte hinter dem ersten Fahrgeschäft meines Großvaters, als ob ich die nicht selbst auswendig kennen würde. Dabei geht sie ausführlich ins Detail und setzt mir haarklein auseinander, warum wir nicht mal darüber nachdenken dürfen, auch nur eine Winzigkeit daran zu ändern. Und da ihr Enthusiasmus und ihre Leidenschaft ansteckend sind, ertappe ich mich dabei, wie ich häufiger als üblich lächele.

Als das Essen kommt, bin ich fast ein wenig enttäuscht, dass sie unterbrochen wird.

»Mussten Sie wirklich alles von der Karte bestellen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich wusste nicht, was Sie gerne essen.«

Sie sieht mich mit einem herausfordernden Blick an. »Und warum haben Sie mich dann nicht gefragt?« Sie nimmt zwei kleine Schalen mit Essen aus der Papiertüte und drückt sie sich mit einem Seufzen an die Brust.

Ohne ihr zu antworten, suche ich mir ein Gericht mit gebratenem Reis aus, und nachdem Zahra mir eine Plastikgabel gereicht hat, beginnen wir beide zu essen.

Nach dem ersten Bissen stöhnt Zahra leise auf. Ich spüre, wie mir der Laut ohne Umwege direkt in die Lenden fährt und sich Blut an Stellen sammelt, wo es das gerade nicht tun sollte.

Ich hole tief Lust. »Jetzt mal ganz im Ernst, warum sind Sie so spät noch hier?«

Sie deutet mit dem Daumen über die Schulter zu dem mit Post-its gefüllten Einmachglas. »Ich habe an einer neuen Idee gearbeitet.«

»Und?«

»Und ich habe die Zeit aus den Augen verloren.«

»Passiert das häufiger?«

Sie zuckt mit den Schultern. »In meinem Leben ist sonst nicht besonders viel los.«

»Was unternehmen Sie denn außerhalb der Arbeit so?« Die Frage klingt ganz natürlich, als ob ich mich einfach nur dafür interessieren würde, was für Freizeitaktivitäten meine Mitarbeiterin nachgeht. Vielleicht färbt Ani mit ihren persönlichen Fragen langsam auf mich ab.

Zahra lächelt. »Ich lese gerne.«

»Zum Spaß?«

Worauf sie lachend den Kopf in den Nacken wirft. Der Gedanke, dass ich für dieses Lachen verantwortlich bin, löst ein warmes Gefühl in meiner Brust aus, und ich bin fast ein wenig stolz auf mich.

»Ja, zum Spaß. Es gibt Menschen, die noch aus anderen Gründen als nur für die Arbeit lesen.« Sie ist vom Lachen ganz atemlos. »Was machen Sie denn so, wenn Sie nicht arbeiten?«

Dir schreiben.

»Joggen.«

»Dachte ich mir.«

Ich mustere sie aufmerksam. »Was soll das heißen?«

Sie räuspert sich, als wollte sie damit überspielen, dass sich ihre Wangen ganz leicht rot gefärbt haben. »Nichts. Sie haben den Körper eines Läufers.« Sie sieht überall hin, nur nicht in mein Gesicht.

Hmmm, sie hat mich ausgecheckt .

»Nicht, dass ich Sie ausgecheckt hätte oder so«, stammelt sie, und ihre Wangen färben sich noch röter.

Erfreut über diese neue Entwicklung richte ich mich ein Stück auf. »Natürlich nicht.«

»Nur Masochisten laufen zum Spaß durch die Gegend.«

»Es hilft mir, den Kopf freizubekommen.«

»Ich nehme Sie beim Wort.«

Ein Lachen steigt mir die Kehle hinauf.

Zahra grinst. »Es ist wirklich schade, dass Sie nicht häufiger lachen.«

Weil es in meinem Leben nicht viel zu lachen gibt.

Ich ziehe an meiner Krawatte, um sie zu lockern. »Gewöhnen Sie sich nur nicht dran.«

»Würde ich niemals wagen. Irgendwie gefällt es mir, dass Sie so selten lachen – das macht es zu etwas Besonderem.« Ihr Lächeln ist ansteckend; wie von selbst heben sich meine Mundwinkel, um es zu erwidern.

Noch nie hat jemand mein Lachen als etwas Besonderes bezeichnet. Verdammt, um ehrlich zu sein, hat mich noch nie jemand als besonders bezeichnet, außer auf abwertende Weise. Es fühlt sich … gut an. Wertschätzend. Es fühlt sich an, als käme es ausnahmsweise nicht darauf an, wie viel Geld ich besitze oder was mein Job ist.

Ich möchte mich auf die gleiche Weise sehen, auf die sie mich sieht. Weil ich in ihren Augen nicht wie jemand wirke, der einen Berg Erwartungen mit sich herumschleppt. Ich bin einfach Rowan, ein Typ, dem es gefällt, in einer teuren Anzughose auf dem Fußboden zu sitzen und Take-out aus einer Pappschachtel zu essen. Als Zahra mich angrinst, spüre ich, dass ich mir mehr solcher Situationen mit ihr wünsche. Nur muss ich einen Weg finden, das umzusetzen, ohne dass sie merkt, dass ich ein Mann mit zwei Identitäten bin.

Wenn ich nur wüsste, wie dieser Weg aussehen könnte.