KAPITEL DREIUNDZWANZIG

Rowan

Ich schicke die Nachricht ab, bevor ich mich davon abhalten kann.

Ich: Was machst du gerade?

Ich stopfe die Kissen in meinem Rücken für die Nacht zurecht. Es ist zu meiner abendlichen Routine geworden, nachdem ich spät nach Hause gekommen bin, gegessen und geduscht habe, Zahra zu texten. Ich bin erst seit wenigen Monaten bei Dreamland und bereits in einen komfortablen Rhythmus verfallen, der nur in eine Richtung führen kann: Abhängigkeit.

Auf dem Display erscheint eine abfotografierte Seite einer Hausaufgabe.

Ich: Du lernst endlich das Alphabet? Sehr schön.

Zahra: Nein, ich gebe Nachhilfe.

Ich: Um zehn Uhr abends? Müssen Kinder nicht um diese Zeit im Bett liegen?

Zahra: Ja, aber mit meinem neuen Arbeitsplan kann ich meine Schützlinge nicht mehr zu den gewohnten Zeiten treffen.

Schützlinge? Ich wusste nicht mal, dass sie – neben allen anderen Dingen, die sie tut – auch noch Nachhilfe gibt. Wie findet sie jemals Zeit für sich, wenn sie ständig damit beschäftigt ist, anderen zu helfen?

Etwas, das verdammt viel Ähnlichkeit mit einem schweren Stein hat, nistet sich in meiner Magengrube ein. Schuldgefühle?

Nope. Vielleicht eine Magenverstimmung.

Ich: Bezahlen sie dich als Entwicklerin so schlecht?

Zahra: Es ist ein Gefallen, den ich einer alleinerziehenden Mutter tue, mit der ich im Salon zusammengearbeitet habe. Es ist auch nur einmal die Woche, also keine große Sache.

Ich: Warum?

Zahra: Weil sie noch einen anderen Job hat und sich keine Nachhilfestunden leisten kann. Deswegen habe ich meine Hilfe angeboten.

Ich: Umsonst?

Das Konzept ergibt absolut keinen Sinn für mich. Wer arbeitet nach seinem Vollzeitjob noch bis spät in die Nacht weiter, nur um jemand anderem zu helfen?

Zahra: Natürlich. Sie braucht das Geld dringender als ich, und ich helfe gerne.

Ich: Aber warum hat sie zwei Jobs? Das Mittagessen kostet uns nichts, und die Mieten für Dreamland-Angestellte sind auch sehr günstig.

Ich bin davon ausgegangen, dass diese Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Lebenshaltungskosten der Mitarbeiter zu senken.

Zahra: Nicht jeder kann von den miesen Dreamland-Löhnen leben.

Da ist es wieder, dieses starke Brennen, das sich einen Weg durch meine Brust bahnt.

Bedeutet das, ich fange an, mir um andere Gedanken zu machen? Ich schlucke mein Unbehagen herunter.

Zahra: Aber wir kommen zurecht.

Bevor ich die Nerven verlieren kann, tippe ich schnell eine Nachricht.

Ich: Würden die Leute nicht kündigen, wenn sie wirklich so unzufrieden mit der Bezahlung wären?

Zahra: Ja, vielleicht machen sie das irgendwann. Ich würde es ihnen auf jeden Fall nicht verübeln.

Im Ernst? Unsere jährlichen Mitarbeiterumfragen zeigen jedes Mal hohe Zufriedenheitswerte.

Zahra: Aber viele Leute hier lieben ihren Job. Manche sogar generationenübergreifend.

Ich: Wie du.

Zahra: Genau!

Sie schickt ein Herz-Emoji mit, was neu ist. Es bringt mich zum Lächeln.

Es ist lächerlich, dass mir so eine Kleinigkeit auffällt, geschweige denn, dass sie mich so freut.

Ich: Es ist schwer, die Ukulele spielende, Elvis liebende Familie aus dem Kopf zu bekommen, die mal hier gearbeitet hat.

Zahra: Es ist irgendwie schön, dass du dir solche Dinge merkst.

Ich: Du solltest deine Maßstäbe nicht so niedrig ansetzen.

Zahra: Glaub mir, Maßstäbe habe ich schon lange keine mehr.

Das Brennen in meiner Brust verstärkt sich. Ich möchte etwas tun, weiß aber nicht, was, also entscheide ich mich für die einzige Sache, von der ich mir vorstellen kann, dass sie es vielleicht besser macht.

Ich: Wer hat dir wehgetan? Müssen wir die HP -Adresse von jemandem rausfinden?

Zahra: Haha, sehr witzig. Erweiterst du deine Talente jetzt ums Hacking?

Ich: Für dich würde ich es mir auf jeden Fall überlegen.

Und ich meine jedes meiner Worte ernst.

* * *

Ich war immer stolz darauf, Arbeitsentscheidungen unabhängig von meinen Gefühlen zu treffen. Es hat mich Mühe gekostet, diese Fähigkeit zu entwickeln, aber über die Jahre habe ich sie perfektioniert. Nachdem unsere Firma nach zwei schlechten Filmen Millionenverluste eingefahren hatte, war ich der Erste, der vorschlug, zehn Prozent der Mitarbeiter der Kane Company zu entlassen. Ich bin für meine fordernde und nüchterne Art bekannt, die sich in Aufforderungen an die Angestellten niederschlägt, auch am Weihnachtsabend zu arbeiten, oder darin, unser Krankenversicherungsprogramm abzubauen, um unser Geschäftsergebnis zu verbessern. Kein Jammern, Betteln, Weinen oder Schreien der Mitarbeiter kann mich je vom Gegenteil überzeugen.

Trotz dieser Fähigkeit schafft es Zahra, mir unter die Haut zu gehen. Ihre ruhige, unaufgeregte Darstellung der finanziellen Situation vieler Mitarbeiter unserer Firma ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Und der Gedanke spukt mir bei jedem Termin im Kopf herum.

Martha ist schließlich diejenige, die das Fass zum Überlaufen bringt.

Ich sehe sie mit gerunzelter Stirn an. »Warum arbeiten Sie zusätzlich an der Bar? Bezahlen wir Ihnen nicht genug?«

Ihr Lächeln wackelt, genau wie ihr kaputter Knöchel, der dringend operiert werden muss. »Doch, natürlich.«

»Lügen Sie mich nicht an, Martha. Ich dachte, wir haben eine gute Verbindung.« Ich habe sie letzte Woche sogar einen Tag früher nach Hause gehen lassen, verdammt noch mal.

»Sir, nehmen Sie es mir nicht übel, aber unsere Verbindung ist schwächer als die DFÜ -Internetverbindung in der Stadtbibliothek.«

O Mann, es gibt noch DFÜ -Internetverbindungen?

»Warum haben Sie einen zweiten Job?«

Sie beißt auf ihrer Unterlippe herum.

»Ich möchte die Frage nicht noch einmal wiederholen müssen.«

»Weil mein Mann Herzprobleme hat und die Medikamente mehr kosten als eine monatliche Kreditrate für ein Haus.« Martha presst die Lippen wieder zusammen.

»Warum deckt das Ihre Krankenversicherung nicht ab?«

Ihr Blick jagt mir einen Schauer über den Rücken. Sie war in meiner Gegenwart nie etwas anderes als respektvoll und freundlich, aber in diesem Moment hätte das Feuer in ihren Augen auch einem schwächeren Mann erhebliche Verletzungen zugefügt. »Die Kosten liegen weit über dem, was die Betriebskrankenversicherung abdeckt.«

»Und Ihr Gehalt reicht dafür nicht aus.«

Sie nickt. »In manchen Monaten ist es schwerer als in anderen. Jetzt, wo die vielen Feiertage bevorstehen …« Sie lässt den Satz in der Luft hängen.

Ich spüre, wie sich Zahras kleiner Eispickel mit der Gewalt eines Vorschlaghammers in mein kaltes Herz bohrt. Unwillkürlich reibe ich mit einer Hand über die Stelle an meiner Brust.

»Kommen Sie mit.« Ich gehe ihr voraus in mein Büro. Martha folgt mir humpelnd. »Nehmen Sie Platz.« Ich gehe um meinen Schreibtisch herum und lasse mich auf meinen Stuhl fallen.

Sie setzt sich mir gegenüber. Ihr Blick wandert zwischen mir und der Standuhr in der Ecke hin und her. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich darf nicht zu spät zu meinem Job kommen. Für mich zählt jede Minute; ich mache nicht so viel Umsatz wie die anderen, jüngeren Kollegen.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie der Kommentar um weitere zehn Jahre hat altern lassen.

Als ich schwer ausatme, zuckt Martha zusammen. »Schenken Sie mir noch eine Minute. Wie lange hat Ihr Mann schon Herzprobleme?«

»Die Diagnose hat er mit fünfundvierzig bekommen, kurz nachdem unser Enkelkind ganz plötzlich verstorben war.«

Herrgott verdammt noch mal. Ein Enkelkind?

»Der Stress hat ihm zugesetzt«, fährt sie fort. »Als unser Baby beerdigt wurde, lag er im Krankenhaus. Er ist bis heute nicht darüber hinweggekommen.« Ihre Augen werden feucht, aber es fallen keine Tränen.

Ich kneife mir in den Nasenrücken. Etwas daran, dass Martha bis spät in die Nacht mit ihrem kaputten Knöchel arbeitet, weil ich ihr nicht genug bezahle, gefällt mir nicht. Es ist meine Schuld, dass sie sich die Medikamente nicht leisten können.

Fühlt sich plötzlich nicht mal mehr halb so gut an, das Geschäftsergebnis zu verbessern, was?

Auf einmal ist mir in meinem Anzug viel zu heiß. In diesem Moment fällt mir nur eine temporäre Lösung ein.

Schnell tippe ich eine E-Mail an unseren Finanzchef mit der Bitte um Auszahlung eines Bonus.

»Was machen Sie da?« Ihre Stimme ist so leise wie ein Flüstern.

Ich drehe den Monitor, sodass sie die E-Mail lesen kann. »Ihr Weihnachtsbonus.«

»Aber es ist erst Oktober.« Sie holt ihre Brille aus der Tasche und keucht auf. Dann verdreht sie die Augen und verliert das Bewusstsein.

Fuck . Wegen solcher Dinge mache ich normalerweise keine netten Sachen.

* * *

Irgendetwas an meinen Gesprächen mit Zahra und Martha hat mich herausgefordert, mehr über die verdeckten Probleme von Dreamland herauszufinden. Etwas verfolgt mich und raubt mir den Schlaf, wenn ich an den täglichen Kampf der Mitarbeiter denke. Krankenversicherung. Altersvorsorge. Sparkonten. All das zerrt an mir wie Wellen auf einem stürmischen Meer, und ich habe das Gefühl, darum zu kämpfen, mich inmitten meiner wachsenden Schuld über Wasser zu halten.

Mein Großvater hat sich um seine Mitarbeiter gekümmert, als wären sie eine Familie, und obwohl ich das nicht nachvollziehen kann, kann ich zumindest so tun.

Also habe ich heute Morgen beschlossen, meinem Bauchgefühl zu folgen und mit Zahra zu reden. Es ist an der Zeit, dass ich als Rowan mit ihr über ihre Bedenken spreche. Als der Mann, der etwas unternehmen kann, und nicht als Scott, das einsame Arschloch, das keinen Einfluss auf oder Anteile an Dreamland hat. Und wenn es jemanden gibt, der in Bezug auf Mitarbeiterangelegenheiten ehrlich zu mir sein wird, dann ist sie das.

Als ich Zahras Büro leer vorfinde, stoße ich ein Seufzen aus. Ein paar Schritte weiter, und ich stehe in Jennys Büro.

»Wo ist Zahra?«

Jenny sieht von ihrem Computer auf. »Sie leistet Aufklärungsarbeit. Sie wissen schon, diese ganze Bootcamp-Mentalität.«

»Befinden wir uns in einer Schlacht, von der mir niemand was erzählt hat?«

Sie zeigt ein seltenes Lächeln. »Sie hat mich um einen etwas anderen Arbeitstag gebeten, und ich bin neugierig, was am Ende dabei herauskommt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie möchte den Freizeitpark aus Sicht einer Besucherin erleben und macht sich dabei Notizen.«

»Aus Sicht einer Besucherin«, wiederhole ich.

Ihre Wangen färben sich rot, während sie mich aufmerksam mustert, als würde sie versuchen, meine Reaktion abzuschätzen. »Ich finde die Idee ziemlich genial, und ich habe vor, dem ganzen Team die Möglichkeit dazu zu geben. Auch wenn einige noch zögern, einen unbezahlten Urlaubstag zu nehmen.«

Interessant … Warum bin ich selbst noch nicht darauf gekommen? Vielleicht befördert ein frischer Blick auf Dreamland die Kreativität.

Ich räuspere mich. »Es gibt dafür einen bezahlten Urlaubstag extra.«

Ihre Augen werden groß. »Wirklich? So was gab es seit Jahren nicht mehr.«

Du bist wirklich ein herzloses Arschloch. Noch eine Sache, an der du schuld bist.

Ich verlasse Jennys Büro und texte Zahra – diesmal über meinen persönlichen Account. Dabei rede ich mir ein, dass es nur ums Geschäft geht. Dass ich mich nur mit ihr treffen möchte, um über Zahlen und Löhne und Krankenversicherungsleistungen und Arbeitnehmerthemen zu sprechen, die ich im Laufe der Jahre verschärft habe.

Nur dass mich die leise Stimme in meinem Kopf entlarvt, indem sie mir zuflüstert, dass ich nichts anderes tue, als zu lügen.