Zahras Hand zittert in meiner. »Verrätst du mir, wo wir hinwollen?«
»Wenn ich es dir sagen würde, wäre es doch keine Überraschung mehr.«
Sie wickelt den Schal enger um ihr Gesicht. Sie bebt am ganzen Körper, obwohl ich ihr meine einzige dicke Jacke gegeben habe, weil Ani ihr nur eine Jeansjacke eingepackt hat.
Die beiden Bommel auf ihrer Mütze wackeln hin und her, während sie mir die belebte Straße hinunter folgt. »Beinhaltet diese Überraschung etwas Warmes zu trinken? Ich kann meine Zehen kaum noch spüren.«
»Das liegt daran, dass deine Turnschuhe nicht für dieses Wetter gemacht sind.«
»Ich glaube, meine Schwester hatte keine Ahnung, wie kalt es hier wird.« Sie reibt ihre behandschuhten Hände aneinander.
Ich hätte ihr gleich zu Anfang Winterkleidung kaufen sollen. Sie zittert wie Espenlaub, und ich habe Angst, dass sie beim nächsten Windstoß wegfliegt.
»Wenn du denkst, dass es hier gerade kalt ist, bist du für einen Winter in Chicago definitiv nicht bereit.«
»Ich wusste gar nicht, dass ich für einen Winter in Chicago bereit sein muss.«
Ich stupse einen ihrer Bommel an. »Du bist mein Date für die Silvestergala.«
»Was für egoistische Menschen veranstalten bitte an Silvester eine Gala? Verbringen die nicht gerne Zeit mit ihren Familien?«
»Menschen, die neunzig sind und im Altersheim leben.« Ich nehme ihre Hand und überquere mit ihr die Straße. Trotz ihrer neonfarbenen Jacke traue ich ihr nicht zu, dass sie es alleine heil durch den Verkehr schafft, so fasziniert ist sie von all den Lichtern und den vielen Menschen.
»Fragst du auch mal, anstatt Befehle zu erteilen? Zuerst ging es nach New York. Jetzt ist da plötzlich diese Silvestergala. Habe ich überhaupt eine Wahl?«
»Klar. Heute Abend darfst du zuerst entscheiden, in welcher Position wir Sex haben.« Ich grinse. Die Muskeln in meinem Gesicht fühlen sich inzwischen weniger verkrampft dabei an, als würde ich mich endlich an diese Art von Mimik gewöhnen.
Sie schlägt mit dem Schalende nach meinem Arm. »Wie großzügig von dir.«
»Na los, wir sind fast da. Nur noch eine Straße weiter.«
Endlich kommen wir beim Rockefeller Center an. Eine Menschenmenge umringt den riesigen Baum, der in bunten Lichtern erstrahlt.
Zahra legt den Kopf in den Nacken, um die fünfundzwanzig Meter bis zur Spitze hinaufzusehen. »Wow. Der stellt den Dreamland-Baum auf jeden Fall in den Schatten!«
Sofort bin ich versucht, für die Feiertage im nächsten Jahr einen mindestens genauso gigantischen Baum in Dreamland aufstellen zu lassen, nur um sie glücklich zu machen.
Ich lege meinen Arm um sie und drücke sie an meine Seite. »Woran denkst du?«
»Dass wir hiermit echter Magie am nächsten kommen. Im Ernst, wo findet man überhaupt einen so großen Baum? Am Nordpol?«
Ich stoße ein ersticktes Lachen aus. »Eher irgendwo in Connecticut.«
»Womit meine schöne Fantasie zerstört wäre.«
Zahra sieht weiter auf die funkelnden Lichter, während ich sie betrachte. Bescheuerte Traditionen wie der Besuch des Rockefeller-Weihnachtsbaums haben mich nie interessiert, aber Zahra beim Lächeln zuzusehen, wie sie etwas Neues erlebt, erweckt einen verloren geglaubten Teil von mir zum Leben. Es motiviert mich, mir andere Unternehmungen zu überlegen, die sie in Erstaunen versetzen könnten, und sei es nur, um erneut diesen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern.
Ich bin am Arsch. Verliere meinen gottverdammten Verstand.
Ihre Augen leuchten wie die Lichter am Baum, als sie sich umdreht und die Eislaufbahn hinter uns mustert. »Wie schwer wäre es, dich davon zu überzeugen, Eislaufen zu gehen?«
Ich kann nicht Schlittschuh laufen. Nicht mal, wenn es darum ginge, mein Leben zu retten. Während Declan und Cal in Minor-League-Hockeyteams gespielt haben, habe ich mir die Zeit lieber mit Zeichnen vertrieben. Es ist wahrscheinlicher, dass ich mir heute Abend noch einen Zahn abbreche, als flachgelegt zu werden, aber das ist mir egal.
»Nenn mir deine Konditionen.«
Sie verdreht die Augen. »Für dich ist alles ein Deal.«
Ich tippe ihr auf die rote Nase. »Du lernst schnell.«
Ihr Lächeln konkurriert mit dem Stern an der Spitze des Baumes.
Jepp, ich bin absolut am Arsch.
* * *
»Da ist noch eine letzte Sache, die ich tun möchte.« Zahra klammert sich an meine Hand.
Schneeflocken fallen um uns herum herab und bedecken unsere Jacken und Mützen.
»Das Eislaufen hat dir nicht gereicht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Können wir einen Spaziergang durch den Central Park machen? Bitte .«
»Ich habe vor ungefähr dreißig Minuten jegliches Gefühl unterhalb meiner Knie verloren.« Ich hole seufzend Luft, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. Meine Atemwolke verschwindet in der Nacht.
»Das liegt daran, dass du mehr Zeit auf Händen und Knien verbracht hast als mit Eislaufen.«
Meine Lunge brennt vor Lachen. Die Wärme, die sich in meiner Brust ausbreitet, bekämpft die kalte Abendluft.
Sie zieht mich an der Hand in die entgegengesetzte Richtung. »Komm schon! Es ist nicht weit von hier. Ich hab’s gegoogelt.«
»Nein.«
»Sei nicht so ein Langweiler.« Ihr Schmollmund, obwohl süß, beeindruckt mich nicht im Geringsten.
»Betrachte mich als vollkommen ungerührt von deiner Schauspielkunst.«
»Bitte? Es gibt noch eine letzte Kleinigkeit, die ich tun möchte.« Ihre Unterlippe zittert. In ihren Wimpern hängen winzige Schneekristalle.
Meine Entschlossenheit schmilzt dahin, und ich lege eine Hand an ihre vom Wind gerötete Wange. Ihr Lächeln wird breiter, als ich mit dem Daumen über ihre kalte Haut fahre.
Verdammt, meine Eier befinden sich offiziell in Gefangenschaft.
»Meinetwegen. Aber nicht länger als eine Viertelstunde. Deine Nase ist schon dabei, sich von deinem Körper zu lösen.« Ich tippe auf die rote Spitze.
Zahra strahlt. Für ihr Lächeln würde ich fast alles tun.
* * *
Es war dumm von mir anzunehmen, fünfzehn Minuten seien genug Zeit. Auf keinen Fall könnte ich Zahra jetzt aus dem Park bugsieren, ohne dass sie sich mit Händen und Füßen wehren würde. Aus der einen Kleinigkeit, die sie machen wollte, sind zwei und dann drei geworden. Und bevor ich mich versehe, baue ich einen Schneemann, nachdem ich eine lächerliche Schlittenfahrt durch den gesamten Park unternommen habe.
»Hast du Knöpfe gefunden?« Zahra atmet keuchend aus und lässt drei Zweige neben meine Stiefel fallen.
Ich stecke dem Schneemann die drei kleinen Kieselsteine an, die ich aus zentimeterhohem Schnee ausgebuddelt habe.
»Perfekt.« Zahra betrachtet die Steine, als wären es Diamanten.
Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass es so viel Spaß machen kann, einen Schneemann zu bauen. Zuzusehen, wie Zahra zum ersten Mal Schnee erlebt, ist, als wäre man am Weihnachtsmorgen mit einem kleinen Kind zusammen. Ich habe noch nie zuvor so eine Freude empfunden. Zumindest nicht, seit ich selbst ein kleines Kind war.
Ich möchte mehr von Zahras ersten Malen stehlen, um das Lächeln wiederzusehen, das sie zeigt, während sie einen schiefen Schneemann betrachtet. Ich möchte dieses Lächeln ebenso besitzen wie jeden anderen Teil von ihr.
Sie lacht, während sie den Kopf des Schneemanns durch den Schnee rollt, wodurch er immer größer wird.
»Bist du sicher, dass du dreiundzwanzig bist?«, ziehe ich sie auf.
»Ach, komm schon. Was in meinem bisherigen Leben einem Schneemann am nächsten gekommen ist, war einer aus Sand. Lass mir den Spaß.«
»Erinnere dich an diesen Moment, wenn du in ein paar Tagen mit einer Schüssel Hühnersuppe und Tee im Bett liegst.«
»Wen interessiert’s? Wir leben jetzt.«
»Ja, das ist alles total toll – bis ich neun von zehn Fingern durch Erfrierungen verliere.«
»Ooooh, armes Baby.« Sie greift nach meiner behandschuhten Hand und drückt einen Kuss auf jeden Finger.
»Ich kenne da etwas, das sich etwas tiefer an meinem Körper befindet und auch nichts gegen einen warmen Kuss einzuwenden hätte.«
Ein Lachen bricht aus ihr heraus.
Ich beuge mich vor und drücke einen sanften Kuss auf ihren Hals, verführt von ihrer für einen kurzen Moment entblößten Haut.
Als sie sich wieder beruhigt hat, flackert Hitze in ihren Augen auf. »Na los, Jack Frost, wir sind fast fertig.« Damit fährt sie mit einer behandschuhten Hand über meinen Reißverschluss und erweckt meinen Schwanz zum Leben.
Zahra hat diese Art von Macht über mich. Eine kleine Berührung von ihr, und mein Schwanz ist zu allem bereit.
* * *
»Wo zum Teufel warst du? Du hast meine Nachrichten und Anrufe komplett ignoriert«, fährt Declan mich an, als ich seinen Anruf entgegennehme.
»Beschäftigt.« Ich schließe die Tür zu meinem Büro ab, falls Zahra schneller als erwartet aus der Dusche kommt.
»Mit was genau? Signierstunden in New York, die du aus keinem anderen Grund geplant hast außer dem, dass du deinen gottverdammten Verstand verlierst?«
Mein Griff um das Handy wird fester. »Woher weißt du davon?«
»Ich weiß von allem, was im Unternehmen passiert, einschließlich der Tatsache, dass du zum ersten Mal seit Jahren Urlaub genommen hast. Was ist verdammt noch mal mit dir los?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzähl mir die Kurzfassung.«
Ich lasse mich in meinen Ledersessel fallen. »Ist das der Grund für deinen Anruf?«
»Nein, aber ich möchte wissen, warum du dich so wenige Wochen vor der Abstimmung wie ein Idiot aufführst.«
»Ich habe beschlossen, ein Wochenende mit etwas zu verbringen, das mir Spaß macht.«
»Erspare mir die Scheißausrede wegen New York.«
»Ich bin dir keine Ausrede schuldig. Du bist nicht mein Boss.«
»Nein, aber ich bin derjenige, der dich zur Vernunft bringen wird, wenn du wegen einer Frau eindeutig deinen gottverdammten Verstand verlierst.«
Was zur Hölle? Er weiß von Zahra?
»Wer hat dir das erzählt?«
»Ich habe überall Augen und Ohren, Rowan.«
»Hör auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen. Wenn ich dir hätte sagen wollen, was ich vorhabe, hätte ich es getan.«
»Nein, hättest du nicht. Das tust du nie.«
Ich unterdrücke ein Lachen.
Er seufzt, als würde das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern lasten. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
Ich verdrehe die Augen. »Musst du nicht.« Sinnlose Worte. Declan mag sich wie ein harter Hund aufführen, aber ich weiß, dass er es gut meint. Sein Beschützerinstinkt ist ihm bereits mit in die Wiege gelegt worden.
»Mir gefällt nicht, dass dich eine Frau so kurz vor der Abstimmung manipuliert, eine Auszeit zu nehmen. Das ist verdächtig.«
Ich spanne den Kiefer an. »Ich habe keine Ahnung, wie das möglich sein sollte, nachdem es meine Idee war.«
»Magst du sie wirklich?« Er lacht spöttisch.
»Ist das so schwer zu glauben?«
»Dabei habe ich dich immer für den intelligenteren meiner Brüder gehalten. Was für eine Enttäuschung.«
Meine Backenzähne knirschen. »Declan, ich hab noch was vor, also komm entweder zum Punkt oder ich lege auf.«
»Die Briefe wurden an das von Grandpa ausgesuchte Wahlkomitee geschickt.«
Scheiße . Der Stressfaktor hat mir gerade noch gefehlt.
»Haben wir irgendeine Ahnung, wen er ausgesucht hat?«
»Nein, aber du musst dich verdammt noch mal zusammenreißen, weil wir alle auf deine Präsentation angewiesen sind.«
»Ich bereite mich seit Monaten darauf vor. Ich hab diese Abstimmung so gut wie in der Tasche.«
»Gut. Sobald du die nötigen Stimmen erhalten hast, wirst du einen Monat haben, deinen Nachfolger einzuarbeiten, dann übernimmt er das Projekt.«
»Ich dachte, während du alles mit deinem Teil des Briefs regelst, könnte ich bleiben und das Projekt selbst beaufsichtigen.« Die Idee kommt mir spontan über die Lippen. Wenn ich in Dreamland bleibe, wird mir das Zeit geben, meine Gefühle für Zahra zu entwirren, ohne dabei irgendetwas zu überstürzen. Falls die Sache im Sande verläuft, gehe ich wie geplant nach Chicago zurück.
Und falls nicht?
Declans Schweigen lässt meinen Nacken prickeln.
»Ich dachte, du machst Witze«, sagt er schließlich, nachdem eine volle Minute vergangen ist.
»Nein. Warum sollte ich zurückgehen, solange du noch nicht geheiratet hast?«
»Du wirst mich unterstützen und einen Teil meiner Aufgaben übernehmen, damit ich mich darauf konzentrieren kann, meine zukünftige Frau zu finden.«
»Gib mir noch sechs Monate als Direktor. Wenn ich ein ganzes Jahr bleibe, ist das für die Mitarbeiter weniger verwirrend.«
»Seit wann interessiert es dich, ob Mitarbeiter verwirrt werden?«
»Es ist meine Aufgabe, mir um solche Dinge Gedanken zu machen.«
Declans leises Lachen dringt durch den kleinen Lautsprecher. »Nein. Es ist deine Aufgabe, nach der Abstimmung nach Chicago zurückzukehren.«
»Grandpa hat gesagt, ich muss für mindestens sechs Monate Direktor sein, aber nicht erwähnt, wann ich gehen muss.«
»Ich weiß genau, was Großvater gesagt hat. Das Ergebnis ändert sich dadurch nicht für dich. Ich habe bereits den nächsten Direktor ausgewählt; er wird sich nach der Abstimmung mit deiner Assistentin in Verbindung setzen.«
»Du bist noch nicht CEO . Du kannst mich nicht zwingen zurückzugehen.«
»Jetzt mal im Ernst, der einzige Grund, aus dem du daran interessiert bist zu bleiben, ist diese Frau. Du magst Dreamland nicht mal, also lass die Scheiße.«
Meine Nägel graben sich in meine Handfläche. »Das ist nicht wahr. Mir macht dieser Job wirklich Spaß.«
Er seufzt auf eine Weise, die mich an die Zeit erinnert, als wir noch Kinder waren und ich ihn vor dem Abendessen um einen Nachtisch angebettelt habe. »Rowan, wenn du wirklich Direktor sein willst, dann kannst du nach Dreamland zurückkehren, sobald ich meine Position als CEO gesichert habe. Lass uns erst alles mit unseren Briefen klären, bevor du irgendwelche Pläne umschmeißt.«
Verdammt . Ich schalte das Handy auf Lautsprecher und fahre mir mit den Händen durch die Haare.
Wie soll ich mich zwischen meinem Bruder und Zahra entscheiden? Meine Zerrissenheit ist lächerlich nach allem, was Declan mein ganzes bisheriges Leben lang für mich getan hat.
Ich hasse es, dass mein Bruder recht hat. Ich hasse es, dass ich weiß, dass ich ihm trotz meiner Gefühle für Zahra so viel schulde. Declan war immer für mich da, wenn mein Vater betrunken oder abwesend war. Er war derjenige, der mir das Fahrradfahren beigebracht hat und bis spät in die Nacht aufgeblieben ist, um mir bei den Hausaufgaben zu helfen, obwohl er hinterher noch seine eigenen machen musste. Verdammt noch mal, er hat sogar eine Ivy-League-Ausbildung geopfert, damit er in Chicago bleiben und sich um Cal und mich kümmern konnte. In gewisser Weise ist er zu einer Elternfigur für mich geworden, als ich keine hatte.
Bei der Vorstellung, mich gegen Zahra zu entscheiden, zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Nichts daran, nach Chicago zurückzukehren, scheint einfach zu sein, besonders jetzt nicht mehr.
Du warst derjenige, der eine lockere Affäre mit Zahra wollte. Komm darüber hinweg.
Ich stoße einen schweren Seufzer aus. »Okay.«
Ich erwarte eine gewisse Erleichterung zu verspüren, nachdem ich seinem Plan zugestimmt habe, aber stattdessen legt sich ein schweres Gewicht auf meine Brust. Denn um es meinem Bruder recht zu machen, muss ich zwangsläufig den einen Menschen verletzen, der mir ans Herz gewachsen ist.