Ich verabschiede mich vom Arzt und schließe die Haustür.
Eine Lungenentzündung? Vor einer knappen Woche hat Zahra noch Schneeengel im Central Park gemacht, und nun soll sie eine Lungenentzündung haben? Am Anfang war es nur ein Schnupfen, doch dann ging es schneller bergab, als ich es jemals zuvor bei jemandem erlebt habe.
Etwas prallt von oben gegen die Zimmerdecke und lässt sie erzittern.
»Zahra?« Ich stürme die Treppe hinauf und stoße die Schlafzimmertür am Ende des Flures auf. Mein Puls rast viel zu schnell, als ich den leeren Raum betrete.
Die Bettlaken sind durcheinander, aber die Frau, die im Bett schlafen sollte, liegt nicht mehr darin.
Ich schaue zur Badezimmertür. »Scheiße!« Mit einem Mal höre ich auf zu denken und zu atmen und renne auf die Stelle zu, wo ich zwei Beine über der Türschwelle liegen sehe. Ich komme schwer mit den Knien auf dem Marmor auf, auf dem sich eine kleine Blutlache gebildet hat. »Zahra? Zahra! Geht es dir gut?« Meine Stimme bricht. Ich ziehe ihren schlaffen Körper in meine Arme und streiche ihr mit einer zittrigen Hand das Haar aus dem Gesicht.
Sie ist blass. Zu blass. Als wäre innerhalb der letzten fünf Minuten, seit ich den Arzt verabschiedet habe, jegliches Leben aus ihr gewichen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass soeben ein kleiner Splitter aus meinem gefrorenen Herzen herausgebrochen ist.
Sie reagiert nicht, und ihre Augen bleiben geschlossen. Ihre Brust hebt und senkt sich in flachen Atemzügen.
Ich stoße langsam die Luft aus, erleichtert darüber, dass sie überhaupt atmet.
Ein kleines Blutrinnsal tritt aus einer Wunde oben an ihrer Stirn.
Ich bemühe mich, sie nicht zu abrupt zu bewegen, während ich in meiner Tasche nach meinem Handy suche, um einen Krankenwagen zu rufen. Die Person am anderen Ende der Leitung stellt zu viele Fragen, die ich nicht zu beantworten weiß. Alles, was ich herausbringe, ist, dass sie sich beeilen sollen.
»Zahra.« Ich greife nach einem Handtuch und presse es auf ihre Kopfwunde.
Sie zuckt nicht zusammen und verzieht nicht das Gesicht. Sie liegt einfach in meinen Armen, und alles, was sie zu der Person macht, die ich kenne, ist verschwunden. Ihr Lächeln. Ihr Lachen. Ihre ständig geröteten Wangen, wenn ich in ihrer Nähe bin.
Meine Brust zieht sich zusammen. »Zahra!« Ich drücke ihren Körper an meinen und hoffe, dass sie aufwacht, doch sie bleibt weiterhin regungslos. Ihr leiser Atem ist das Einzige, was mich davon abhält, die Fassung zu verlieren. »Zahra! Wach auf!« Ein Tropfen landet auf ihrer Stirn. Ich schaue zur Decke, doch ich entdecke keine nasse Stelle. Ein weiterer Tropfen fällt auf ihr Gesicht und vermischt sich mit dem Blutrinnsal.
Es dauert eine Sekunde, bis ich erkenne, dass ich die Ursache dafür bin. Es sind meine Tränen.
Immer weinst du, wie ein kleines Mädchen. Die Stimme meines Vaters kommt mir in den Sinn.
»Komm schon, Zahra. Wach auf!« Ich schüttele ihren Körper.
Sie ächzt und will sich an den Kopf fassen, doch ich halte ihre Hand fest.
»Gott sei Dank.«
Ich kann die gemurmelten Worte, die ihr über die Lippen kommen, nicht verstehen. Was sie sagt, klingt zusammenhanglos, und mit einem Mal mache ich mir noch größere Sorgen, dass ihre Kopfverletzung vielleicht wirklich ernst ist. Ich habe Angst, dass ich alles nur noch schlimmer gemacht habe, indem ich sie geschüttelt habe.
»Fuck!« Ich lasse das Handtuch fallen und ziehe sie fester an meine Brust. Habe ich ihr Schaden zugefügt? In meiner Verzweiflung habe ich nicht nachgedacht und nicht abgewogen, was dafür- und was dagegenspricht, sie zu bewegen. Ich habe einfach reagiert – wieder einmal.
Ihr Blut zieht in mein Hemd ein und lässt es an meiner Haut kleben. Mein gesamter Körper zittert, während ich sie festhalte.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, sie so zu schütteln? Sie hat ohnehin schon eine Kopfverletzung.
Verflucht. Das ist es ja. Ich habe nicht nachgedacht und mich von meinen ohnehin nutzlosen Emotionen bezwingen lassen.
Sie stößt einen pfeifenden Atemzug aus und bekommt einen Hustenanfall.
Der Klang von Sirenen nähert sich. Erst jetzt versiegen meine Tränen.
* * *
Ich bin noch nie in einem Krankenwagen mitgefahren, aber meine Haut bleibt auf dem gesamten Weg klamm, während die Sanitäter daran arbeiten, Zahras Zustand zu stabilisieren.
Sie ist mittlerweile halb bei Bewusstsein und beantwortet mit geschlossenen Augen ein paar Fragen. Als ihr die Stirn verbunden wird, zuckt sie zusammen.
Das Piepen der Monitore wird schneller, ein Stakkato, das dem Rhythmus meines Herzens gleicht.
Ihr Schmerz macht mich rasend. Ich habe das Bedürfnis, Dinge durch den Krankenwagen zu werfen und zu schreien, weil ich mich fühle, als sei das alles meine Schuld. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen, als sie nicht ganz bei Bewusstsein war. Ich hätte zu der Hälfte der Dinge, die sie in New York unternehmen wollte, Nein sagen sollen, dann wären wir jetzt vielleicht nicht in dieser Lage.
Ob sich mein Dad wohl auch so gefühlt hat, als meine Mutter wieder und wieder ins Krankenhaus gebracht wurde? Hat er die gleiche brennende Verzweiflung empfunden, weil er etwas unternehmen wollte und gleichzeitig wusste, dass er ihr nicht helfen konnte?
Der Gedanke macht mir Angst. Wie konnte ich mich nur derart lächerlich machen? Ich bin willentlich wie mein Vater geworden, habe mich einer Frau hingegeben, bis sie all meine Gedanken bestimmt und mein Handeln beeinflusst hat. Ich habe meine Pläne geändert, mir Abende freigenommen, um Mentor-Events zu besuchen, und bin in den Urlaub gefahren, obwohl ich hätte arbeiten sollen. Verdammt. Ich war sogar bereit, meine Position in Chicago aufzugeben, um bei ihr zu bleiben.
Was zur Hölle ist los mit mir?
Die Wahrheit ist, dass ich weich geworden bin und mich von ihr habe beeinflussen lassen. Und für was? Um mich freiwillig diesem Gefühl der Machtlosigkeit hinzugeben?
Scheiß darauf. Ich verabscheue das, was meinen Verstand vernebelt und mein Herz zerstört. Wenn ich diese Gefühle niemals wieder empfinde, bin ich dankbar.
Das ist der Grund, warum ich auf mein Bauchgefühl hätte vertrauen sollen, als ich Zahra zum ersten Mal begegnet bin. Sie hatte etwas an sich, das mich alarmiert hat, aber ich habe das Gefühl ignoriert.
Mein Körper zittert, aber das Adrenalin, das immer noch durch meine Adern strömt, verhindert, dass ich mich der Erschöpfung hingebe.
Als die Türen geöffnet werden, stößt man mich aus dem Weg, und Zahra wird aus dem Krankenwagen und in die Notaufnahme gerollt.
Ich fühle mich, als würde ich die Situation von außen betrachten, als ich durch die Tür gehe, die sich automatisch öffnet. Sofort steigt mir der unangenehme Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase.
Ich habe auf Autopilot umgeschaltet und bekomme nicht mit, dass die Krankenpflegerin mich anspricht.
»Sind Sie ein Familienangehöriger?« Sie tippt mir erneut auf die Schulter und reißt mich aus meinen Grübeleien.
»Was?«
»Familie oder Freund?« Sie schürzt die Lippen.
»Verlobter.« Ich habe genügend Fernsehserien gesehen, um zu wissen, wie so etwas funktioniert.
Sie schaut mich kurz prüfend an, als würde sie meine Lüge durchschauen, aber dann nickt sie schockierenderweise.
»In Ordnung. Folgen Sie mir.« Sie führt mich in ein Wartezimmer. Die abblätternden Linoleumfliesen und das flackernde Licht in einer Ecke des Raumes lassen meinen Brustkorb noch enger werden. Ein paar Leute sitzen verstreut auf den Stühlen.
Meine Hände zittern. Ich war seit dem Unfall meines Großvaters nicht mehr in einem Krankenhaus. Und das letzte Mal davor war, als meine Mutter gestorben ist. Krankenhäuser und ich haben keine gute Beziehung. Und nun ist es ein Ort, an dem meine Gegenwart und meine Vergangenheit miteinander kollidieren.
Die Krankenpflegerin dreht sich um und will gehen, aber ich rufe ihr hinterher. »Ich möchte, dass meine Verlobte ein Einzelzimmer bekommt«, platze ich heraus.
Sie schaut auf ihr Klemmbrett. »Wenn sie stabil ist, können wir nachschauen, welche Art von Versicherung sie hat – davon hängt es ab. Ist sie bei Ihnen mitversichert?«
Ich beiße die Zähne zusammen. Ich habe keine Ahnung, welche Art von Versicherung Zahra hat, ganz zu schweigen davon, ob ein Einzelzimmer darin inbegriffen ist.
Erwartest du das wirklich? Du weißt schließlich, wie deine Angestellten versichert sind.
Mein eigener Egoismus macht mir in diesem Fall einen Strich durch die Rechnung. Und das Schlimmste ist, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist.