KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

Zahra

Ich genieße mein Glas frisch gepressten Orangensaft. Nach meinem Krankenhausaufenthalt hat es eine ganze Woche gedauert, meinen Geschmackssinn wiederzuerlangen. Auch wenn ich nach der Bettruhe unbedingt wieder etwas zu tun haben wollte, war ich dankbar dafür, eine Pause von Rowan und dem Entwickler-Team zu bekommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich stark genug sein würde, im selben Raum wie er zu sein, ohne zu weinen oder ihn anzuschreien.

Gestern wurde meine Stärke dem Test unterzogen, und ich habe ihn mit Bravour bestanden. Statt einzuknicken, habe ich Rowan direkt in sein niedergeschlagenes Gesicht geblickt und habe seine Einladung nicht angenommen.

»Der ist irgendwie in meinen Poststapel geraten.« Claire lässt einen Umschlag neben meinen Teller fallen.

»Der Brief ist zwei Wochen alt!« Ich deute auf das Datum.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich weiß, und es tut mir leid. Ich verspreche dir, dass ich ab nächster Woche organisierter bin.«

Heute lache ich, ohne Schmerzen zu haben. »Das sagst du immer!«, rufe ich.

Sie lacht ebenfalls leise, als sie in ihr chaotisches Zimmer zurückkehrt.

Mit den Fingern fahre ich über meinen Namen, der in kursiver Schrift mit einem altmodischen Füller geschrieben wurde. Als Absender ist The Kane Company angegeben.

Das ist merkwürdig. Ich greife nach einem Messer und öffne den Umschlag.

Meine Finger zittern, während ich das gefaltete Blatt Papier heraushole. Als ich es öffne, klappt mir die Kinnlade herunter.

Brady Kane hat mir einen Brief geschrieben.

Das Datum war noch vor dem Unfall, ungefähr zu der Zeit, als wir am letzten Schliff von Nebula Land gearbeitet haben.

Liebe Zahra,

ich entschuldige mich im Voraus dafür, falls ich nicht die richtigen Worte finde. Es ist schwer, meinen Dank zum Ausdruck zu bringen, aber ich werde es versuchen, und wenn es nur ist, weil Sie es verdienen zu wissen, wie sehr Sie mein Leben verändert haben. Selbst ein alter Mann wie ich kann noch ein paar Tricks lernen oder sich zumindest an die alten erinnern, die er längst vergessen hatte.

Dankbarkeit? Von Brady Kane? Ich bin diejenige, die dankbar dafür sein sollte, dass er sich die Zeit genommen hat, einen ganzen Monat lang mit mir zu arbeiten.

Bevor ich mich mit Ihnen getroffen habe, um mir Ihren Vorschlag anzuhören, ging es mir nicht gut. Ich habe mich verloren gefühlt und war zum ersten Mal seit vielen Jahren unsicher. Aber dann sind Sie mit einem breiten Grinsen und all der aufgestauten Fantasie in mein Büro gekommen. Ich war sofort beeindruckt von Ihrer Scharfsinnigkeit und Ihrem aufrichtigen Herzen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, warum ich mich Ihnen so verbunden fühle, aber dann habe ich erkannt, dass Sie mich an mein jüngeres Ich erinnern. An jemanden, der noch unberührt war von Geld, Ruhm und den Erwartungen, die selbst den kreativsten Kopf abstumpfen lassen.

Meine Brust schmerzt, und mein Atem wird mit jedem Satz abgehackter. Es hat nichts mit den Nachwirkungen meiner Krankheit zu tun, sondern nur mit den Gefühlen, die angesichts von Bradys Geständnis in mir hochkochen.

Ich weiß, dass Sie eines Tages gern Entwicklerin werden möchten. Wenn Sie sich endlich fühlen, als seien Sie es wert (was zur Hölle das auch immer heißen mag – ich hab es schließlich mit einem öffentlichen College zu etwas gebracht, und Sie können es auch), möchte ich Ihnen dabei helfen, Ihren Traum zu erreichen. Also, wo immer Sie sind und was auch immer Sie tun, seien Sie gewiss, dass Sie immer einen Job als Entwicklerin in Dreamland haben, wenn Sie wollen. Alles, was Sie tun müssen, ist, meine alte Assistentin Martha zu kontaktieren, dann bereitet sie Ihren Vertrag vor. Es ist kein Vorstellungsgespräch nötig.

Tränen schießen mir in die Augen. Brady hat mich stets bei meinem Traum unterstützt, obwohl ich ihn immer wieder abgewiesen habe. Ich glaube, er wäre stolz auf mich, wenn er wüsste, welche Fortschritte ich in den letzten Monaten gemacht habe.

Ich möchte Sie im Gegenzug nur um einen kleinen Gefallen bitten. Als Teil meines Testaments habe ich meinen Enkelsohn darum gebeten, für sechs Monate Direktor von Dreamland zu werden und an einem besonderen Projekt zu arbeiten, um den Park zu verbessern.

Er hat was getan? Ich umklammere den Brief mit eisernem Griff.

Ich habe Sie persönlich dazu auserwählt, Mitglied mit Stimmrecht in meinem Komitee zu werden. Sie müssen Rowans Pläne entweder annehmen oder ablehnen.

Ich? O mein Gott. Wusste Rowan die ganze Zeit, dass ich in diesem Komitee sein sollte? Die Säure in meinem Magen löst einen Würgereiz in mir aus, und ich will am liebsten zur Toilette rennen, aber ich atme ein paarmal tief durch und lese weiter.

Sie haben mich daran erinnert, warum ich Dreamland erschaffen habe. Ihre Leidenschaft für den Park war das, was ich über die Jahre verloren hatte, und Ihre einzigartigen Ideen haben eine Begeisterung in mir entfacht, die ich schon lange vergessen hatte. Deshalb weiß ich, dass Sie die richtige Person sind, um mir ein letztes Mal zu helfen. Es mag Ihnen vorkommen wie eine große Bitte, aber Sie sind einer der Menschen, die ich als Teil der Veränderungen sehen möchte, die Dreamland braucht.

Meine Hände zittern, als ich den letzten Teil von Brady Kanes Brief lese, in dem es um die Formalitäten und den Zeitplan geht. Nachdem ich ihn zweimal gelesen habe, rutscht er mir aus den Fingern und flattert auf den Boden.

Wusste Rowan die ganze Zeit, dass sein Großvater wollte, dass ich meine Stimme zu dem Projekt abgebe, an dem er monatelang gearbeitet hat? Warum hätte er sonst mich – jemanden, der laut seiner Aussage nicht wichtig genug war, um vermisst zu werden – einstellen sollen?

Nein. Das kann nicht sein. Oder? Er kann es auf keinen Fall gewusst haben.

Aber warum hätte er sonst jemanden wie dich einstellen sollen, der begrenzte Qualifikationen hat und das teuerste Fahrgeschäft von Dreamland zerrissen hat?

Er hat eine riesige Auswahl an Entwicklern, die er hätte engagieren können, um sicherzustellen, dass Dreamland in den besten Händen ist, um die nötigen Stimmen zu gewinnen. Sein Grund dafür, warum er vorgegeben hat, Scott zu sein, schien logisch, aber jetzt frage ich mich, ob es nur eine weitere Masche war, um mehr über mich in Erfahrung zu bringen und zu testen, ob ich zugeben würde, dass ich zum Wahlkomitee gehöre? Was, wenn das, was er gestern in meinem Büro gesagt hat, nur dazu diente, mich zu besänftigen, damit ich ihm keinen Strich durch die Rechnung mache?

Mit jeder Frage werden meine Zweifel größer.

Was, wenn alles, was mit uns zu tun hatte, eine Lüge war?

* * *

Claire nimmt das Kissen von meinem Gesicht und drückt es an ihren Körper, während sie Platz nimmt. »Was bedrückt dich?«

»Die Tatsache, dass Rowan geboren wurde.«

»Ich dachte, wir hätten abgemacht, dass sein Name in diesen vier Wänden nicht mehr ausgesprochen wird.«

»Das war, bevor ich einen Brief von Brady Kane bekommen habe.«

Claires Augäpfel treten beinahe aus ihren Höhlen. »Was?«

Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus, als ich ihr die Geschichte von der Abstimmung und alle Theorien berichte, die ich habe. Ich erzähle ihr sogar, dass Rowan mich trotz allem, was passiert ist, zu sich nach Hause einladen wollte, was meinen Verdacht nur noch verstärkt.

Irgendwie schafft es Claire, sich zurückzuhalten, bis ich fertig bin. Dann springt sie von der Couch und holt ihr Handy aus ihrem Zimmer. Ich schaue zu, wie sie mit geröteten Wangen und zerzausten Haaren auf dem Display herumtippt.

»Dieser Scheißkerl …« Sie tippt immer noch stirnrunzelnd auf dem Display herum.

»Was machst du da?«

»Ich versuche auszurechnen, wie lange man überleben kann, ohne zu verbluten, wenn man kastriert wurde.«

Ich werfe den Kopf zurück und lache. »Körperliche Gewalt ist niemals die Antwort.«

Claire tätschelt meine Hand, setzt sich wieder hin und schiebt das Handy in ihre Tasche. »Ach Zahra. Es ist süß, wie unschuldig du durch die Welt gehst.«

»Wie meinst du das?«

»Als hätte dir niemand erzählt, dass Santa Claus nicht existiert.«

Ich öffne den Mund in gespieltem Entsetzen. »Was? Santa existiert nicht?«

Claire verdreht halbherzig die Augen. »Sehr witzig.«

»Im Ernst. Deine Antwort auf alles sind Verletzungen und Mord. Das ist nicht die Art von Lösung, an die ich gedacht habe.«

»Nur weil du dir keinen guten Anwalt leisten könntest.«

Nun lachen wir beide.

Ich stupse sie mit meinem Fuß an. »Ernsthaft? Kastration?«

»Du weißt ja, wie es heißt. Wenn du dich wie ein Schwanz aufführst, dann verlierst du ihn.«

Ein lautes Lachen entfährt mir. »Niemand sagt das.«

»Dann sollten die Leute vielleicht damit anfangen. Ich meine, der Wichser glaubt wirklich, dass er dich so manipulieren kann? Unglaublich! Hat er überhaupt ein Gewissen?«

Mein gesamter Körper schmerzt bei dem Gedanken.

»Das ist fraglich.« Ich seufze. Es gab eine Zeit, da dachte ich, dass es so wäre, aber nun bin ich mir nicht mehr sicher. Obwohl er aufrichtig gewirkt hat, als er zu meinem Schreibtisch gekommen ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, wer der wahre Rowan ist.