KAPITEL 5

Erinnerungen

Enna

Ich öffne die Augen. Um mich herum schwarze Dunkelheit. In meinem Inneren spüre ich nichts als Angst. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an die Finsternis zu gewöhnen, dann erkenne ich langsam Schemen, die sich darin abzeichnen.

Direkt vor mir liegt die nasse Straße, auf der sich das Licht der Laternen spiegelt. Ich schaue aus dem Fenster eines Autos, die Scheibe ist zerbrochen und um mich herum liegen Unmengen Glassplitter.

Irgendwann spüre ich neben meiner Angst auch noch etwas anderes: Schmerz. Er breitet sich in meinem Körper aus — von meinem Kopf, durch meine Brust bis nach unten in meine Füße. Verzweifelt versuche ich, mich zu befreien, doch es gelingt mir nicht. Ich bin eingequetscht, unfähig, mich auch nur einen einzigen Zentimeter zu bewegen.

Es dauert nicht lang, dann verwandelt sich die Angst in meinem Inneren in Panik. Ich weiß weder, wo ich bin, noch was geschehen ist. In diesem Augenblick weiß ich nur eines: Ich möchte zu meiner Mum. Ich möchte, dass sie mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles wieder gut wird. Ich möchte sie an meiner Seite haben und nicht mehr allein sein, mich beschützt fühlen.

Verzweifelt rufe ich nach ihr, doch sie scheint mich nicht zu hören. Rufe ich überhaupt? Oder stelle ich es mir nur vor?

Gerade als ich merke, dass ich erneut das Bewusstsein verliere, sehe ich sie. Sie steht vor mir auf der nassen Straße, trägt ihr geliebtes gelbes Sommerkleid, ihre kurzen braunen Haare liegen auf ihren Schultern. Nicht einmal Schuhe hat sie an. Rings um sie herum fallen Schneeflocken vom Himmel. Ist ihr denn nicht kalt?

»Enna.« Lächelnd sieht sie mich an. »Ich liebe dich. Vergiss das nie.«

Ich möchte sie so vieles fragen. Warum sie hier ist, warum ich hier bin und warum mein Bauch so unglaublich wehtut. Ich möchte, dass sie mich zu sich zieht, auf ihren Schoß, um mich zu trösten, wie sie es immer getan hat, als ich noch klein war. Doch nichts von alldem geschieht.

Stattdessen bewegt sie sich langsam rückwärts und entfernt sich immer weiter von mir. Ich höre das Aufheulen von Sirenen weit in der Ferne.

»Mum!«, rufe ich verzweifelt mit letzter Kraft nach ihr.

Und dann ist sie verschwunden.

»Mum!«, rufe ich erneut und fahre erschrocken aus dem Schlaf hoch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und das Atmen fällt mir schwer. Tränen laufen mir über das Gesicht, das ich mit den Ärmeln meines Pyjamas trockne.

Alles ist gut, Enna. Du hast nur geträumt.

Albträume wie dieser verfolgen mich seit dem Unfall vor fünf Jahren. Es läuft immer gleich ab: Ich träume, schrecke dann aus dem Schlaf, versuche, mich zu beruhigen und wieder in der Realität anzukommen, was mir meistens sehr schwerfällt. Meine Träume fühlen sich extrem real an und ich benötige oft mehrere Minuten, um mich wieder in das wahre Leben zurückzuholen.

Nun sitze ich in meinem Bett und versuche, meinen Herzschlag wieder in einen normalen Rhythmus zu bringen. In meinem Schoß halte ich eines meiner vielen Kissen krampfhaft umklammert. Beth muss sich vor meinem Schrei erschrocken haben, denn nun liegt sie nicht mehr neben mir auf dem Bett, sondern daneben auf dem Teppich. Noch immer läuft meine Serie über den Bildschirm meines Laptops, die Episode ist mittlerweile eine andere. Lorelai und Rory laufen lachend durch die Straßen von Stars Hollow auf dem Weg zu Luke’s Diner.

Ich drücke auf Pause, schlage meine Decke zur Seite und stehe auf. In der Küche mache ich mir eine neue heiße Milch mit Honig, stelle mich an die Wand gelehnt ans Fenster und schaue nach draußen. Die Straße liegt ruhig da. Es ist dunkel, nur die Laternen werfen ihr Licht auf den Fußweg.

Nach einer Weile habe ich mich wieder gefangen und lege mich zurück in mein Bett. Nun bin ich allerdings hellwach und erkenne nach einigen Minuten, in denen ich mich hin und her geworfen habe, dass das mit dem Einschlafen wohl erst mal nichts mehr wird.

Eine Nachricht von Mira ist gekommen.

Hey, Enna. Es war schön heute mit dir. Gerne wieder! Und meinen herzlichen Glückwunsch zum Job! Sehen wir uns morgen?

Lächelnd blicke ich auf ihre Nachricht. Ich bin unglaublich glücklich darüber, dass Mira mich wiedersehen möchte, und das so schnell schon. Kurz überlege ich, was ich für den morgigen Tag geplant habe. Ein Blick auf die Uhrzeit zeigt mir, dass es bereits der heutige Tag ist. Ich sollte wirklich dringend schlafen.

Ich würde mich freuen! Hast du Lust, mit mir einkaufen zu gehen? Mein Kühlschrank schreit nach Lebensmitteln!

Mit der freudigen Erwartung, Mira morgen wiederzusehen, finde ich wieder in den Schlaf. Und diesmal bleiben die Albträume aus.

Am nächsten Morgen wache ich auf und stelle erschrocken fest, dass es bereits elf ist. So lange wollte ich eigentlich gar nicht schlafen, doch nach meinem blöden Albtraum war es wahrscheinlich gut, noch mal eine ordentliche Mütze voll Schlaf zu bekommen. Trotz der rund sechs Stunden Schlaf bin ich wahnsinnig müde.

Anstatt aufzustehen, drehe ich mich zur Seite und stopfe mir ein Kissen unter den Kopf. Mein Handy blinkt auf dem Nachttisch.

Sehr gern. Dann zeige ich dir gleich den besten Supermarkt im Ort. Gibst du mir deine Adresse? Dann hole ich dich ab! Um eins?

Ich schicke ihr meine Adresse. Ich habe noch zwei Stunden Zeit, bevor Mira mich abholt. Ich richte meine Kissen und die Decke und mache mich auf die Suche nach Beth, die ich schlafend im Flur finde. Neben der Kommode scheint sie am liebsten zu liegen. Im Vorbeigehen streichle ich ihr Köpfchen, woraufhin sie mich anbrummt und aufsteht, nur um sich kurz darauf wieder zusammenzukugeln.

Nachdem ich eine große Tasse Kaffee getrunken habe, fühle ich mich schon besser und mache mich anschließend im Bad zurecht. Meine Haare binde ich zu einem hohen Pferdeschwanz, gönne mir eine warme Dusche, putze meine Zähne und entscheide mich heute für etwas Schminke. Normalerweise gehe ich ganz ohne Make-up aus dem Haus. Nur wenn ich mal Lust darauf habe, trage ich einen leichten Concealer und etwas Wimperntusche auf — so auch heute.

Zurück im Zimmer, schäle ich mich aus meinem kuscheligen Pyjama und suche mir ein Outfit für den heutigen Tag aus. Kurzerhand entscheide ich mich für eine dunkelblaue Jeans und einen langärmligen schwarzen Pullover — schlicht, aber schick.

Die restliche Zeit verbringe ich mit Lesen, bis es irgendwann an der Tür klingelt. Ich laufe zum Türöffner, halte ihn einige Sekunden gedrückt und dann taucht auch schon Mira im Treppenhaus auf. Lächelnd kommt sie auf mich zu und zieht mich zur Begrüßung in eine herzliche Umarmung.

»Bist du bereit für deinen ersten Einkauf in Starfall?«, fragt sie mich grinsend.

»Und wie!« Ich greife hinter mich nach meiner Jacke und meinem Rucksack, in den ich vorhin noch Einkaufsbeutel gepackt habe.

Auf dem Weg zum Supermarkt unterhalten wir uns über den morgigen Tag. Ich erzähle Mira, welche Veranstaltungen ich besuchen möchte und in welchen Gebäuden diese jeweils stattfinden. Natürlich habe ich meinen Plan bereits auswendig gelernt, um bestens vorbereitet zu sein. Irgendwann schlägt Mira vor, dass wir uns vor unseren ersten Kursen auf dem Campus treffen, damit sie mich zu meinem Hörsaal begleiten kann, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Wir beschließen, heute Abend noch mal zu schreiben, um uns auf eine Uhrzeit zu einigen.

Nach einer Viertelstunde stehen wir schließlich vor dem Lebensmittelgeschäft. Wir holen uns einen Einkaufswagen und ich krame in meinem Rucksack nach dem Einkaufszettel, den ich mir vorhin noch schnell geschrieben habe.

Während wir durch die Gänge laufen, unterhalten wir uns über Miras Studium. Ich bin dankbar, dass sie mir nun doch etwas darüber erzählt, nachdem sie gestern dem Thema eher ausgewichen ist.

»In welchem Semester studierst du denn?«, frage ich Mira schließlich.

Ich schnappe mir eine Packung Erdbeeren und lege sie zu dem restlichen Obst in den Einkaufswagen.

»Jetzt im dritten. Ein Jahr habe ich also schon hinter mir.«

»Das klingt, als würde es dir nicht so viel Freude machen, richtig?« Ich werfe Mira einen Blick von der Seite zu, den sie schulterzuckend erwidert.

»Jura zu studieren ist nicht schlecht. Ich habe später gute Berufsperspektiven, und verdienen würde ich auch ganz gut.«

»Aber?« Ich greife nach einer Packung Spaghetti. Mira nimmt sie mir kurzerhand wieder weg und legt mir stattdessen eine andere Sorte in die Hand.

»Die sind viel besser«, sagt sie und beantwortet schließlich meine Frage, während wir zum nächsten Regal laufen. »Es ist nicht das, was ich mir für mich vorstelle. Ich studiere gern Jura, aber noch viel lieber würde ich etwas anderes lernen.«

»Was würdest du denn lieber tun? Etwas anderes studieren?«

»Trinkst du gern Tee? Wenn ja, musst du diesen hier probieren!« Sie zeigt auf eine Packung Früchtetee. Auf mein Nicken hin reicht sie sie mir.

»Am liebsten würde ich gar nicht studieren, sondern eine Ausbildung machen.«

Sofort taucht ein Bild von Mira in meinem Kopf auf, wie sie in einer Bäckerei hinter dem Tresen steht und ihre eigenen Backwaren verkauft. Ihren Traum, von dem sie mir bereits erzählt hat, konnte ich bisher gar nicht mit ihrem Jurastudium in Verbindung bringen.

»Darf ich raten?«, frage ich sie, und als sie nickt, äußere ich meine Vermutung. »Du würdest gern eine Ausbildung zur Bäckerin machen, oder?«

»Genau. Um genau zu sein, bezeichnet man das Ganze als Ausbildung zur Konditorin.«

Wir müssen beide grinsen.

»Genau diese Ausbildung meinte ich.« Begeistert erzählt sie mir, wie so eine Ausbildung ablaufen würde, während wir meinen Einkauf fortsetzen.

»Darf ich dich fragen, weshalb du studierst, wenn du viel lieber diese Ausbildung machen würdest?«

»Klar darfst du. Die Antwort ist simpel: Meine Eltern möchten, dass ich studiere. Ihrer Meinung nach sollte ich etwas Vernünftiges lernen.« In die Luft malt sie Anführungsstriche.

»Was ist denn an einer Ausbildung unvernünftig?«

Meine Eltern haben mich immer in meinen Träumen unterstützt. Als kleines Mädchen wollte ich immer Tierpflegerin werden, was Mum und Dad mit einem Lächeln quittierten. Einige Jahre später hatte ich mir in den Kopf gesetzt, einen eigenen Blumenladen zu eröffnen, woraufhin Mum mir ein Buch mit einem Register der verschiedensten Blumensorten schenkte. Selbst als ich noch Prinzessin werden wollte, blieben die beiden ernst und sprachen mir Mut zu, so unrealistisch dieser Wunsch auch war. Und als ich beschloss, Literatur zu studieren, war Mum zwar nicht mehr bei uns, doch Dad unterstützte mich. Gemeinsam sparten wir das nötige Geld, um meine Wohnung und das Studium finanzieren zu können. Meine Familie stand immer hinter mir. Scheinbar hatte Mira dieses Glück nicht erfahren.

»Ich glaube an dich«, sage ich und bleibe einfach mitten im Gang stehen.

Lächelnd sieht sie mich an. »Danke, dass du das sagst.«

Ich drücke sanft ihre Hand, dann gehen wir weiter.

»Mein Bruder war zum Glück immer an meiner Seite und einer der wenigen Menschen, die an mich glauben.«

Verständnisvoll nicke ich und werfe eine Packung Zwieback in den Wagen.

»Neben Finn«, fügt Mira hinzu.

Die bloße Erwähnung seines Namens jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Noch immer habe ich ständig seine grünen Augen vor mir. Seit gestern geht er mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Ich greife nach einer Packung Milch und stelle sie in den Wagen.

Die Arme verschränkt, steht Mira an eine Kühltruhe gelehnt, zwischen uns der Einkaufswagen. Verwundert sehe ich sie an.

»Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die ein Grinsen auf dem Gesicht hat, während sie Milch in den Händen hält.« In ihrem Blick liegt Belustigung.

Kurz überlege ich, wie offen ich Mira gegenüber sein kann — immerhin ist Finn nicht nur ihr Mitbewohner, sondern auch der beste Freund ihres Bruders. Dann erinnere ich mich daran, wie ehrlich sie eben zu mir war, und beschließe, es auch ihr gegenüber zu sein. Außerdem war Finn mein bester Freund und die seltsamen Gefühle, die gerade in mir toben, sind doch in dieser Situation ganz normal.

»Ich habe Finn unglaublich vermisst in den letzten Jahren.«

Bei den Getränken greife ich nach einem großen Packen Orangensaft und stelle ihn unten in den Einkaufswagen. Ich bleibe daneben stehen und lege meine Hände auf das kühle Metall. Dann schaue ich Mira an, die nun am anderen Ende des Wagens steht.

»Vor einiger Zeit ist meine Mum gestorben.« Der Supermarkt mag nicht der passendste Ort sein, um mich meiner neuen Freundin anzuvertrauen und vom Tod meiner Mum zu sprechen. Doch wann ist denn schon der richtige Zeitpunkt dafür?

»Ich war vierzehn Jahre alt. Wir hatten einen schlimmen Unfall. Ich habe überlebt, aber Mum war sofort tot.« Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen steigen.

Mira sieht mich mitfühlend an und gibt mir die Zeit, die ich brauche, um fortzufahren. Sie drängt mich nicht, und das schätze ich sehr.

»Als ich einige Tage später aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zurück nach Hause kam, wollte ich niemanden bei mir haben — niemanden, außer Finn«, fuhr ich schließlich fort. »Doch er kam nicht zu mir. Und kurze Zeit später zog er mit seinen Eltern weg.«

Mira sieht mich an. Noch immer liegt Mitgefühl in ihrem Blick. Sie scheint nach den richtigen Worten zu suchen, um auf meine Worte zu reagieren. Schließlich geht sie einfach um den Einkaufswagen herum, löst sanft meine Hände von dessen Rand und schließt mich in ihre Arme. In langsamen Bewegungen streicht sie mir über den Rücken, was mich augenblicklich beruhigt. Miras Umarmung gibt mir wieder neue Kraft.

Manchmal sind da auf einmal keine Worte mehr, die gesagt werden können. In solchen Momenten kann man nur mit Zuwendung antworten, so wie Mira es gerade macht. Sie könnte in diesem Augenblick nicht besser für mich da sein.

Langsam löst sie sich von mir. Sie zieht sich den Ärmel ihrer Strickjacke über die Hand und wischt mir damit vorsichtig die Tränen von den Wangen. Ich sehe, dass auch sie mit ihren Gefühlen kämpfen muss.

Plötzlich müssen wir beide kichern.

»Wir stehen gerade neben unzähligen Flaschen in einem Supermarkt und heulen.«

Aus Dankbarkeit streiche ich ihr mit der Hand liebevoll über den Arm, dann schieben wir den Einkaufswagen in Richtung Kasse.

Jede mit zwei Tüten bewaffnet, machen wir uns schließlich auf den Weg zurück zu meiner Wohnung. Während wir die schweren Einkäufe schleppen, unterhalten wir uns über ganz banale Dinge wie unsere liebsten Künstler und Serien. Dabei entdecken wir eine gemeinsame Leidenschaft für die Serie Jane the Virgin , die ich schon vor einer Weile gesehen habe und die Mira vor Kurzem erst begonnen hat anzuschauen. Natürlich klären wir dabei auch die alles entscheidende Frage: Team Michael oder Team Rafael? Wir sind uns schnell einig, dass Rafael das Rennen macht.

Immer wieder legen wir kleine Pausen ein, um die Tüten kurz abzustellen und zu verschnaufen, doch irgendwann kommen wir vor meinem Wohnhaus an. Ich krame meinen Schlüssel aus meinem Rucksack, schließe die Haustür auf und mit letzter Kraft tragen wir die Einkaufstüten bis nach oben in meine Wohnung.

»Wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken?«, frage ich Mira, die mein Angebot dankend annimmt.

Wir stellen die Tüten in der Küche ab. Mira hilft mir dabei, die Einkäufe einzuräumen, anschließend gebe ich ihr eine kleine Führung durch meine Wohnung. Im Zimmer angekommen, bleibt sie erstaunt vor meinem Bücherregal stehen.

»Du hast vergessen zu erwähnen, dass du in einer Buchhandlung wohnst«, sagt sie und geht an meinen Regalen entlang, um sich all die vielen Buchtitel anzuschauen, bis sie einen überraschten Laut von sich gibt und ein Buch aus dem Regal zieht. »Wenn ich bleibe«, liest sie den Titel laut vor.

»Hast du es gelesen?«, frage ich sie und trete zu ihr.

»Gelesen nicht, aber den Film habe ich geschaut. Er ist so toll!« »Das ist er. Aber das Buch ist noch besser!«

»Wirklich?« Mira streicht mit ihrer Hand über das Cover.

»Du kannst es dir gern ausborgen und dich selbst davon überzeugen.«

»Echt? Danke!« Glücklich presst sie sich das Buch an die Brust.

Lachend drehe ich mich wieder in Richtung Küche, um unseren Kaffee zuzubereiten. Ich schalte die Maschine an und hole gerade zwei Tassen aus dem Schrank, als ich ein entzückendes Quietschen aus dem Zimmer vernehme. Da hat wohl jemand Beth entdeckt .

Während der Kaffee in die erste Tasse läuft, gehe ich zurück ins Zimmer. Dort finde ich Mira und Beth kuschelnd auf meinem Bett vor. Mira sitzt auf der Matratze, ihre Beine baumeln an der Seite herunter, Beth hat sich bereits an sie gekuschelt.

»Wer ist das denn?«, fragt Mira mich, als sie mich im Türrahmen entdeckt.

»Darf ich vorstellen? Das ist Beth.«

»Hallo, kleine Beth«, begrüßt Mira meine Katze. »Sie schnurrt. Heißt das, sie mag mich?« Hoffnungsvoll sieht sie mich an.

»Sie mag dich ganz bestimmt.« Grinsend laufe ich in die Küche zurück und stelle nun die zweite Tasse unter die Maschine. Diesmal warte ich, bis der Kaffee durchgelaufen ist, und gehe dann mit beiden Tassen zurück ins Zimmer.

Unbeschwert quatschen wir noch eine Weile über Beth. Ich erzähle Mira, wie mein Dad mich mit ihr überrascht hat und wie sehr ich mich schon jetzt in dieses kleine Wesen verliebt habe. Nebenbei trinken wir unseren Kaffee. Irgendwann steht Mira auf und beginnt, sich die vielen Fotos an meiner Lichterkette anzuschauen.

»Hier seid ihr, du und Finn!« Sie deutet auf das Foto unseres Geburtstags.

Lächelnd trete ich neben sie. Ich erinnere mich immer wieder gern an unsere Zeit zurück, obwohl die Erinnerungen meistens mit einem leichten Ziehen in meinem Magen verbunden sind, das mich an den Schmerz erinnert, den ich nach Finns Verschwinden empfunden habe. Doch dieser Schmerz ändert nichts an all den schönen Erinnerungen, die ich mit Finn verbinde. Das könnte er nie.

»Warum habt ihr beide eine Krone auf?« Vorsichtig löst Mira das Foto aus der Klammer und nimmt es in die Hand.

»Das Foto entstand an unserem Geburtstag.«

»Ihr habt am gleichen Tag Geburtstag?« Begeistert sieht sie mich an. Ich nicke. »Wie cool!«

Eine Weile betrachten wir dann schweigend das Foto, bis Mira es vorsichtig wieder an die Lichterkette klemmt. Mit ernstem Gesichtsausdruck dreht sie sich dann wieder zu mir.

»Hör mal, Enna. Ich weiß nicht genau, was damals geschehen ist«, beginnt sie schließlich. »Ich kenne den Finn von früher nicht, aber den von heute. Und der ist einer der ehrlichsten und liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne.«

»Finn ist ein guter Mensch«, gebe ich ihr recht. »Er war immer für mich da. Zumindest, bis er es auf einmal nicht mehr war.«

»Aber weißt du, was ich sicher weiß?«, fragt sie mich. »Du bedeutest ihm noch immer genauso viel wie damals.«

Verwirrt und etwas zweifelnd sehe ich sie an. »Woher weißt du das? Hat er gestern noch mit dir gesprochen?«

»Nein, aber Finn verschlägt es nie die Sprache und noch nie zuvor hat er so fluchtartig das Café verlassen. Er ist mein Mitbewohner und ein enger Freund, ich kenne ihn sehr gut.«

»Er war wirklich schnell weg.«

»Seine Augen sprachen Bände, als er dich angeschaut hat«, sagt Mira lächelnd.

»Ach ja? Was haben sie dir denn gesagt?« Ich lache.

Aufrichtig sieht sie mich an. In ihrem Blick liegen weder Belustigung noch Witz. Sie möchte, dass ich ihren Worten glaube, das sehe ich ihr an.

»Endlich ist sie wieder da«, antwortet sie, und ich kann gar nicht anders, als zu lächeln.

KAPITEL 6

Der Polarstern

Finn

Wie gebannt lausche ich meinem neuen Professor, der sich uns als Mister Atkins vorgestellt hat, bei seinem Vortrag über Sternbilder und mache mir dabei Notizen. Ich sitze erst seit einer halben Stunde in dieser Vorlesung und habe schon jetzt zwei Seiten meines Notizbuches vollgeschrieben.

Bereits seit einigen Wochen freue ich mich auf diesen Kurs. Prof. Atkins ist ein absoluter Spezialist auf dem Gebiet der Astronomie und ich freue mich, nun von ihm lernen zu dürfen. Bisher wurde uns eine Menge über die Geschichte der Astronomie und die astronomischen Instrumente erzählt, was zwar sehr spannend, aber auch irgendwie eintönig war. Umso begeisterter bin ich darüber, dass wir uns in diesem Semester neben der Theorie auch viel mehr mit der Praxis beschäftigen werden.

Auf dem Plan für das Studienjahr, das mit dem heutigen Tag beginnt, stehen Stern- und Planetenentstehung sowie Kosmologie. Es wurden bereits mehrere Ausflüge zum Starfall Lake angekündigt. Starfall ist allgemein bekannt als einer der Orte im Land, an denen man die Sterne am besten beobachten kann, denn hier gibt es nur eine sehr geringe Störung durch Licht — einer der Gründe, weshalb für mich schon einige Jahre vor Beginn meines Studiums klar war, dass ich hier studieren möchte.

Noch immer bin ich sehr froh darüber, durch meine Praktika und guten Noten ein Stipendium für die Starfall University erhalten zu haben. Allein könnte ich die hohen Studiengebühren niemals stemmen, die unsere renommierte Universität verlangt.

»Wer von Ihnen kann mir sagen, was wir unter einem Protostern verstehen?«, wendet sich Prof. Atkins fragend an unseren Kurs.

Ich sehe mich um. Niemand scheint die Antwort zu kennen, also hebe ich meine Hand.

»Bitte!«, fordert mein Dozent mich auf, zu antworten.

Ich richte mich auf meinem Stuhl auf und versuche, so laut wie möglich zu sprechen, damit mich alle verstehen können.

»Ein Protostern ist so etwas wie ein Kinderstern. Er wächst immer weiter, bis er irgendwann so viel Masse angesammelt hat, dass er aufgrund der hohen Temperatur, die in seinem Inneren entsteht, die Wasserstofffusion zündet«, antworte ich auf seine Frage.

Nach und nach drehen sich immer mehr Köpfe in meine Richtung. Meine Mitstudenten scheinen sich über meine Antwort zu wundern, immerhin haben wir dieses Thema noch nicht behandelt. Allerdings interessiere ich mich so sehr für Sterne, dass ich die Astronomie als meine Leidenschaft bezeichne. Schon als kleiner Junge habe ich jeden Abend durch mein Fernrohr, das meine Eltern mir zum Geburtstag geschenkt hatten, die Sterne angeschaut. Neben meinen Hausaufgaben habe ich Astronomie-Bücher gewälzt und mich im Internet schlaugemacht, weshalb mir die meisten Themen des Studiums bereits bekannt sind.

»Sehr gut. Da kennt sich aber jemand aus.« Prof. Atkins nickt mir anerkennend zu und führt seinen Vortrag fort. Zufrieden krame ich unauffällig mein Handy aus der Hosentasche. Eine neue Nachricht von Rachel blinkt auf dem Display auf.

Sehen wir uns nachher zum Lunch?

Über meine Antwort muss ich kurz nachdenken. Eigentlich hatte ich mich für die Mittagspause schon mit Jase verabredet, doch ich möchte Rachel ungern versetzen. Gestern habe ich mir bereits eine Ausrede dafür einfallen lassen, dass ich nicht noch mal bei ihr vorbeikommen konnte, denn mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Da ich es aber für keine gute Idee halte, Rachel und Jase an einen Tisch zu setzen, schreibe ich ihm schnell, dass wir uns später beim Training sehen und ich mit Rachel esse. Meiner Freundin antworte ich, dass wir uns vor der Mensa treffen.

Nach meinem Kurs besuche ich eine Statistik-Vorlesung, die weniger spannend ist als die erste. Der Dozent erzählt etwas über Datenmengen, und wieder mache ich mir fleißig Notizen, hier aber mit weniger Begeisterung. In Mathe habe ich definitiv den meisten Übungsbedarf. Zahlen waren noch nie mein Ding.

Zwei Stunden später verlasse ich meine dritte und somit letzte Vorlesung vor der Mittagspause. Ich laufe über den Campus in Richtung der großen Mensa, um mich dort mit Rachel zu treffen. Mein Blick gleitet über die Wiese und bleibt an einem Mädchen hängen, das an einen Baum gelehnt sitzt. Enna , denke ich und spüre, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitet. Ich würde sie gern auf die Temperaturen schieben, allerdings ist heute ein sehr angenehmer Septembertag und ich trage ein schwarzes Langarmshirt, das mich definitiv nicht frösteln lässt.

Enna scheint voll und ganz in das Buch vertieft zu sein, das in ihrem Schoß liegt. Ich freue mich darüber, sie zu sehen, doch dann fällt mir wieder ein, wie seltsam mein Abgang auf sie gewirkt haben muss. Seit gestern Nachmittag kreisen die Gedanken in meinem Kopf unaufhörlich darum, dieses Verhalten wiedergutzumachen. Ich werfe also einen kurzen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass ich etwas zu früh dran bin. Nach meinem gestrigen Gespräch mit Jase bin ich fest entschlossen, mich bei Enna für mein plötzliches Verschwinden im Café zu entschuldigen. Also laufe ich auf sie zu und mein Herz schlägt plötzlich schneller.

Sie scheint so in ihr Buch vertieft zu sein, dass sie mich gar nicht bemerkt, außerdem hat sie Kopfhörer in den Ohren. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, lege ich ihr eine Hand auf die Schulter. Es fühlt sich zugleich fremd und doch wie selbstverständlich an, sie nach all der Zeit wieder zu berühren.

Enna zuckt zusammen. So viel zu meinem Vorhaben, sie nicht zu erschrecken.

Sie zieht sich die Kopfhörer raus und stoppt die Musik mit einem Klick auf ihrem Handy. Ihr Buch liegt nun offen in ihrem Schoß.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Enna sieht zu mir auf, die Überraschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Alles gut! Ich war nur so versunken in mein Buch.«

Ich gehe neben ihr in die Hocke. »Hey, Enna.«

»Hey, Finn.« Sie schenkt mir ihr Lächeln, das noch immer so bezaubernd ist, wie ich es in Erinnerung habe.

»Es tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin. Das muss sehr komisch auf dich gewirkt haben.«

»Schon okay. Ich war ehrlich gesagt auch etwas überfordert in diesem Moment.« Enna streicht sich eine kurze braune Haarsträhne hinter ihr Ohr, die der Wind in ihr Gesicht gepustet hat.

»Es ist seltsam, oder?«, fragt sie mich schließlich.

»Was meinst du?«

»Das hier. Wir. Nach all den Jahren.« Mit ihrer rechten Hand deutet sie zwischen uns beiden hin und her.

»Oh ja«, gebe ich ihr schmunzelnd recht.

In ihren Augen sehe ich all die unausgesprochenen Fragen, die sie mir nicht stellt. Ich erkenne in ihrem Blick, wie sehr sie mein damaliges Verschwinden noch immer beschäftigt, und kann dieses Gefühl so unendlich gut nachvollziehen. Denn auch meine Gedanken kreisten in den vergangenen Jahren oft darum, wie unsere Freundschaft endete. Und noch immer habe ich den Wunsch, ehrlich zu Enna zu sein, ihr von meinen damaligen Dämonen zu erzählen. Doch noch immer fühle ich mich dazu nicht in der Lage.

Um mich nicht erneut in ihrem Blick zu verlieren, greife ich nach dem Buch in ihrem Schoß und klappe es zu, um mir das Cover anzuschauen.

»Finn!«, ruft Enna. »Ich habe keine Ahnung, auf welcher Seite ich eben war!«

Empört greift sie neben sich ins Gras und hält mir ihr Lesezeichen vor die Nase.

Und plötzlich ist das Eis gebrochen. Ich muss losprusten. Auf einmal fühlt es sich so vertraut an, kaum vorstellbar, dass wir uns ganze fünf Jahre nicht mehr gesehen haben. Schon früher habe ich sie gern mit Kleinigkeiten aufgezogen, immer auf eine sehr liebevolle Art, sodass wir beide am Ende lachen mussten — so wie jetzt.

»Das ist nicht lustig!«, ruft Enna und schlägt mit ihrem Lesezeichen nach mir.

Als wir uns wieder beruhigt haben, werfe ich endlich einen Blick auf das Buchcover.

»Cinder und Ella«, lese ich den von Blumen umringten Titel laut vor und drehe das türkisfarbene Buch in meinen Händen. »Ernsthaft, Enna?«

»Hey, das ist eine wirklich bewegende Liebesgeschichte!«, verteidigt sie das Buch, nimmt es mir wieder weg und blättert darin herum. Wahrscheinlich sucht sie die Seite, auf der ich sie unterbrochen habe.

»Vielleicht überzeugt mich ja stattdessen dein Musikgeschmack. Was hörst du gerade?«, frage ich sie.

Enna legt das Lesezeichen in ihr Buch, atmet erleichtert durch, klappt es zu und reicht mir schließlich ihr Handy. Am unteren Rand des Displays sehe ich, dass sie vorhin den Song »Better Days« von Good Weather Forecast gestoppt hat.

»Die höre ich auch gern«, sage ich und will Enna gerade fragen, welchen Song der Band sie am liebsten mag, als ich jemanden meinen Namen rufen höre. Ich drehe meinen Kopf und sehe Rachel, die auf uns zugelaufen kommt. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie heute offen und der gerade geschnittene Pony fällt ihr wie immer auf die Stirn.

Obwohl es schon seit Beginn unserer Beziehung nicht immer einfach ist, bin ich gern mit ihr zusammen. Auch ich bin nicht fehlerfrei und manchmal habe ich das Gefühl, dass wir ständig aneinandergeraten, weil wir uns in vielen Dingen unterscheiden. Dennoch haben wir auch einige Gemeinsamkeiten und schöne Momente, die wir miteinander teilen. Normalerweise verbringe ich deshalb auch gern Zeit mit meiner Freundin. Umso überraschter bin ich, dass ich nun schon fast enttäuscht darüber bin, dass sie mein Gespräch mit Enna unterbricht.

Sie beugt sich zu mir herunter, um mir einen ausgiebig langen Kuss zu geben. Es fühlt sich komisch an, meine Freundin zu küssen, während Enna direkt neben uns sitzt.

Während des Kusses habe ich automatisch eine Hand an Rachels Wange gelegt, mit der ich sie nun sanft von mir schiebe. Beinahe enttäuscht sieht sie mich an, dann wandert ihr Blick zu Enna.

»Rachel, das ist Enna. Enna, das ist meine Freundin Rachel«, stelle ich die beiden einander vor.

Kurz gibt es eine leichte Verwirrung in Ennas Blick, doch die ist schnell wieder verschwunden. Jetzt lächelt sie meine Freundin an und reicht ihr die Hand.

»Hey«, sagt Rachel nur, ohne nach Ennas Hand zu greifen. Dann dreht sie sich wieder mir zu. »Gehen wir essen?«, fragt sie schließlich.

Verdutzt sehe ich meine Freundin an, dann wende ich mich entschuldigend Enna zu. »Es war schön, mit dir zu quatschen.«

»Das fand ich auch.« Sie schenkt mir ein Lächeln, das mir sagt, dass sie mir Rachels kühle Reaktion nicht übel nimmt. »Lasst es euch schmecken.«

»Danke. Bis bald, Enna«, verabschiede ich mich von ihr.

»Bis bald«, murmelt sie und stopft sich gleich darauf die Kopfhörer wieder in die Ohren.

Rachel schlingt einen Arm um mich und gemeinsam laufen wir in Richtung Cafeteria. Sofort beginnt sie, mir von ihrem aufregenden Tag zu erzählen, und ich erwische mich dabei, dass ich ihr nur mit halbem Ohr zuhöre.

Bevor wir das Gebäude betreten, werfe ich unauffällig einen Blick zurück zu dem Baum, an dem wir eben noch standen — doch Enna ist schon verschwunden.

Enna

Auf Mira wartend, sitze ich auf einer gemütlichen kleinen Parkbank auf dem Campus und esse mein Brot, das ich mir heute Morgen geschmiert habe. Um mich herum strömen Studenten in alle Richtungen, die meisten laufen aber zum Universitätsgebäude, denn die Mittagspause ist gerade vorbei und die nächsten Kurse beginnen in wenigen Minuten. Für mich endet jetzt bereits der erste Tag an der Uni — und er war unglaublich aufregend.

Mira und ich haben uns vor dem Hauptgebäude getroffen, dann hat sie mir den Weg zu meinem ersten Vorlesungssaal gezeigt und ich musste mich schweren Herzens von ihr verabschieden. Ich habe drei Vorlesungen besucht und jede einzelne davon genossen. Wir haben zwar heute erst mal einige organisatorische Dinge geklärt, doch die Themen für das erste Semester klingen unglaublich spannend. Besonders mein Dozent in amerikanischer Literaturwissenschaft, Prof. Rogers, scheint unglaublich nett zu sein mit seiner offenen und humorvollen Art. Von ihm haben wir heute eine lange Liste bekommen mit Büchern, die wir für dieses Semester lesen müssen.

Gerade liegt diese Liste auf meinem Schoß. Mit einem Stift streiche ich all die Buchtitel durch, die ich bereits zu Hause im Regal stehen habe. Die meiste Literatur habe ich tatsächlich bereits gelesen, darunter Die Abenteuer des Tom Sawyer und Der große Gatsby — beides Titel, die ich sehr mochte.

Ein Quieken entfährt mir, als sich von hinten Arme um mich schlingen. Ich drehe den Kopf und schaue in Miras warme Augen.

»Na? Wie war dein erster Tag als Studentin?«, fragt sie mich erwartungsvoll und wirft sich neben mich auf die Bank.

»Toll«, beginne ich. »Die Dozenten scheinen sehr nett zu sein und die Inhalte für das erste Semester klingen unglaublich spannend.« Ich halte ihr meine Literaturliste vor die Nase. »Ich darf ganz viel lesen!«

Schmunzelnd sieht sie erst auf meine Liste und kramt dann in ihrer Tasche nach einer Brotdose, aus der sie ein belegtes Sandwich zieht.

»Ich habe vorhin Finn und seine Freundin getroffen«, sage ich so beiläufig wie möglich und beiße ein Stück von meinem eigenen Brot ab.

»Du hast also Rachel kennengelernt«, stellt Mira fest.

Fragend sehe ich sie an und ziehe dabei eine Augenbraue nach oben. »Magst du sie nicht?«

»Lass es mich mal so ausdrücken: Rachel ist ein sehr spezieller Mensch und sie gehört nicht gerade zu meinen besten Freundinnen.«

»Sie war ziemlich distanziert, um ehrlich zu sein.« Bedrückt schaue ich auf mein Brot.

»Rachel ist superlaunisch, das darfst du nicht persönlich nehmen.« Mira zuckt mit den Schultern und hält mir ein Stück Karotte hin, das ich dankend entgegennehme.

»Wie lange sind die beiden denn schon zusammen?«

»Noch nicht besonders lange, ein paar Monate.« Sie knabbert nun selbst an einer Möhre. »Wenn du mich fragst, passen die beiden nicht wirklich zusammen. Finn ist so ein lieber Kerl und Rachel ist ... sie ist einfach Rachel.«

Ich bin niemand, der sofort über einen Menschen urteilt, den er gar nicht kennt. Dennoch habe natürlich auch ich einen ersten Eindruck von Finns Freundin bekommen, und der war leider nicht besonders positiv.

»Hör zu, Enna. Ich möchte Rachel bei dir keinesfalls in ein schlechtes Licht rücken. Dennoch sollst du wissen, dass sie wirklich sehr abweisend sein kann. Nimm dir das nicht zu Herzen.«

Nickend schiebe ich mir den letzten Bissen meines Brotes in den Mund. Kurz sitzen wir schweigend nebeneinander und essen beide unsere Karotte auf.

»Ist er glücklich?«, frage ich Mira nachdenklich.

»Ehrliche Antwort?«

Ich nicke.

»Finn ist glücklich, wenn er mit seinen Freunden zusammen ist. Er liebt sein Studium und ist ein unglaublich herzlicher Mensch«, beginnt Mira. »Ich glaube aber nicht, dass Rachel besonders viel zu seinem Glück beiträgt. Er mag sie und scheint etwas in ihr zu sehen, was uns anderen verborgen bleibt, sonst wären die beiden kein Paar. Aber als Freunde haben er und Rachel wesentlich besser funktioniert.«

Es tut gut zu hören, dass Finn in Mira und Jason enge Vertraute gefunden hat und sich bei seinen Freunden wohlfühlt. Über seine Beziehung weiß ich viel zu wenig, als mir darüber ein Urteil bilden zu können, und außerdem geht diese mich auch gar nichts an.

Plötzlich fällt mir auf, dass ich bisher noch gar nicht weiß, was Finn eigentlich studiert. Eine Vermutung habe ich, dennoch können sich seine Leidenschaften in den letzten Jahren auch komplett geändert haben. Auch wenn ich bezweifle, dass Finn seine Liebe zu den Sternen in den vergangenen Jahren abgelegt hat, ist es dennoch möglich.

»Sag mal, was studiert Finn eigentlich?«, frage ich Mira also.

»Astronomie.«

Lächelnd schaue ich in den Himmel. »Das passt zu ihm. Die Sterne hat er schon immer geliebt.«

Sieben Jahre zuvor — 2013, September

In eine dicke Decke eingekuschelt, sitze ich auf meinem Bett und höre ein Hörbuch. Gerade erzählt mir die Stimme, die aus meinem kleinen CDPlayer tönt, wie Maggies Vater Mo in Tintenherz Figuren aus einem Buch in die reale Welt hineinliest, als es leise an meinem Fenster klopft.

Augenblicklich setze ich mich auf und schaue zum Fenster. Durch die geschlossene Scheibe kann ich Finn erkennen, der mich angrinst. Sofort laufe ich zum Fenster und öffne es. Der frische Septemberwind pustet in den Raum und mir wird kalt, denn ich habe nur ein dünnes Trägertop und eine Pyjamahose an.

»Hast du Lust auf Sternegucken?«, fragt Finn mich. Er hockt auf dem großen Ast des Baumes, der direkt vor meinem Fenster steht. »Heute sieht man den kleinen Bären besonders gut.«

Lächelnd nicke ich. Ich liebe es, wenn Finn mir die Sterne zeigt und mir so ein kleines bisschen meiner Angst vor der Dunkelheit nimmt. Also greife ich nach meiner kuscheligen Strickjacke, ziehe sie mir über und klettere aus dem Fenster zu ihm auf den Baum. Wüssten Mum und Dad, was wir hier tun, würden sie es sicher unterbinden, aber die beiden sind schon vor einer Weile ins Bett gegangen.

Finn und ich klettern den Baum hinunter. Er trägt nur eine dünne Jogginghose und sein weißes Lieblingsshirt mit der Aufschrift Future Astronomer . Vor einigen Wochen hat er mir erzählt, dass er später unbedingt die Sterne erforschen möchte, kurz darauf haben seine Eltern ihm dieses Shirt geschenkt, das er seitdem beinahe jeden Tag trägt. Ich bewundere ihn dafür, dass er mit vierzehn schon weiß, was er später einmal werden möchte, und hoffe, dass es mir in zwei Jahren genauso geht wie ihm jetzt. Finn springt vom letzten Ast und nimmt meine Hände, um mir nach unten zu helfen. Nebeneinander setzen wir uns ins Gras und lehnen uns an den dicken Baumstamm.

»Schau mal«, sagt Finn und zeigt mit dem Zeigefinger seiner linken Hand in den Himmel. »Siehst du den ganz hellen Stern dort oben?«

»Ja, ich sehe ihn«, antworte ich. »Was für einer ist das?«

»Das ist der Polarstern. Er ist der hellste Stern im kleinen Bären. Dort, wo er zu sehen ist, geht es nach Norden.«

Während Finn mir das Sternbild erklärt, lege ich meinen Kopf an seine Schulter und ziehe meine Strickjacke fest um mich. Mit ihm an meiner Seite fühle ich mich sicher.

Ich höre Finn gespannt zu, bis mir irgendwann die Augen zufallen. Mit meinem Kopf an seiner Schulter und seiner Stimme, die dafür sorgt, dass es in mir ganz warm wird, schlafe ich ein und erinnere mich am nächsten Morgen gar nicht mehr daran, wie ich irgendwann in meinem Bett gelandet bin.

An meinen Traum in dieser Nacht erinnere ich mich aber noch genau: Ich träumte davon, dass Finn in vielen Jahren noch immer in die Sterne schaut und mit seiner Begeisterung und seinem Wissen viele Menschen begeistert. Und ich träumte von einem großen Bären, den die Sterne am Himmel bilden und der seine Bärenfreunde genauso beschützt wie Finn mich.

KAPITEL 7

Chaos in der Küche und im Herzen

Enna

Während 5 Seconds of Summer ihren Song »Castaway« singen, tanze ich mit einem Geschirrtuch bewaffnet durch meine Küche und trockne dabei Teller und Tassen. Nachdem ich mich mit Mira über die Begegnung mit Rachel und Finn unterhalten habe, lud sie mich für den nächsten Tag zum Backen zu sich in die WG ein. Seitdem habe ich supergute Laune und freue mich sehr darauf, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht werde ich dort auch Finn wiedersehen. Der Gedanke löst eine kribbelnde Aufregung in mir aus.

Mittlerweile habe ich Ernest ein zweites Mal im Starfall Books besucht. Nachdem ich heute meinen Stundenplan vervollständigt habe, konnte ich nun endlich meine Arbeitszeiten mit ihm absprechen. Ab nächster Woche werde ich ihm zweimal wöchentlich aushelfen, außerdem habe ich ihm angeboten, auch spontan einzuspringen, wenn er Hilfe benötigt. Noch immer bin ich sehr glücklich über diesen Job.

Während ich meine weiße Lieblingstasse mit den vielen roten Pünktchen abtrockne und mich dabei im Kreis drehe, stoppt der Song plötzlich und wird von »Family« abgelöst — mein Lieblingssong von The Chainsmokers und gleichzeitig der Klingelton, wenn mein Dad mich anruft. Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, während ich nach einem nassen Teller greife.

»Hey, Dad«, begrüße ich ihn gut gelaunt.

»Hallo, mein Schatz. Wie war dein erster Uni-Tag?«

»Es war wirklich sehr schön. Meine Dozenten scheinen sehr nett zu sein. Außerdem haben wir eine lange Literaturliste für dieses Semester bekommen. Die meisten Bücher darauf habe ich sogar schon gelesen!«

»Das hört sich toll an!«, sagt Dad und klingt dabei, als würde er sich sehr für mich freuen. »Hast du denn schon Anschluss gefunden?«

Ich erzähle ihm von Mira, wie wir uns kennengelernt haben und wie gut wir uns bereits nach dieser kurzen Zeit verstehen. Außerdem berichte ich ihm, wie wir zusammen einkaufen waren und dass sie mindestens genauso sehr in Beth verliebt ist wie ich. Der Name, den ich für meine Katze gewählt habe, gefällt ihm genauso gut wie mir.

»Wie geht es denn der Kleinen? Kommt ihr gut zurecht?«

»Mira und ich?«, frage ich verwundert.

Dad lacht. »Nein, du Quatschkopf. Beth und du!«

Ich erwidere sein Lachen. »Ups«, sage ich. »Wir kommen wirklich gut klar. Beth ist wahnsinnig verschmust, wir kuscheln ganz viel. Wir haben uns beide ganz gut hier eingelebt, würde ich sagen. Und wir passen wirklich gut zusammen.«

Schon nach den ersten zwei Tagen haben Beth und ich unsere gemeinsame Routine gefunden. Nachts schläft sie entweder in meinem Bett oder auf dem Teppich daneben. Am Morgen bekommt sie ihre erste Mahlzeit, während ich mir meinen ersten Kaffee des Tages gönne. Tagsüber schläft sie ganz viel, manchmal spielen wir auch zusammen mit einem ihrer Katzenspielzeuge, doch bereits nach wenigen Minuten rollt sie sich dann gelangweilt zusammen. Beth scheint genauso ein gemütliches Wesen zu sein, wie ich es bin.

»Na, das klingt doch fantastisch mit euch beiden. Es freut mich, dass du dich bereits so gut eingelebt hast.« Kurz macht Dad eine Pause und scheint über seine nächsten Worte nachzudenken. »Wie geht es dir denn mit dieser großen Veränderung? Kannst du gut schlafen?«

Kurz überlege ich, Dad nichts von meinem Albtraum vorgestern Nacht zu erzählen, doch dann entscheide ich mich doch dafür, ehrlich zu ihm zu sein. Mit ihm kann ich über alles sprechen, außerdem würde er sofort merken, wenn ich ihm etwas verschweige.

»In der ersten Nacht konnte ich sehr gut schlafen. Die zweite lief weniger gut. Ich habe wieder vom Unfall geträumt und konnte danach lange nicht mehr einschlafen«, beginne ich. »Aber nach deinem Geheimtipp, einer Tasse warmer Milch mit Honig, ging es mir besser.«

Dad atmet einmal tief durch. »Schaffst du das alles allein, Enna? Soll ich dich diese Woche mal besuchen kommen?«

Es tut mir weh zu hören, dass Dad sich Sorgen um mich macht. Ich weiß, wie viel er momentan in der Schule zu tun hat. Er unterrichtet an einer Highschool, weshalb er den ganzen Tag beschäftigt ist und auch zu Hause viel arbeiten muss, um den Unterricht vor- und nachzubereiten.

»Es ist okay. Ich würde mich freuen, wenn du mich mal am Wochenende oder in den Ferien besuchst. Aber momentan komme ich zurecht«, versuche ich, ihn zu beruhigen. »Und wenn etwas ist, dann melde ich mich bei dir. Versprochen.«

»Na gut, meine Süße«, sagt er, klingt dabei aber noch immer nicht beruhigt. Leider kann ich Dad seine Sorgen nicht nehmen, dennoch versuche ich, ihm zu vermitteln, dass ich gut zurechtkomme.

»Außerdem unternehme ich gerade viel mit Mira. Für morgen hat sie mich in ihre WG eingeladen. Wir wollen zusammen backen!« Automatisch muss ich lächeln, wenn ich an den morgigen Tag denke.

»Das ist aber schön! Sie wohnt also in einer WG?«

Und auf einmal taucht wieder das Bild von Finn in meinem Kopf auf. Wie konnte ich vergessen, ihn zu erwähnen?

»Ich wollte dir noch etwas Aufregendes erzählen«, beginne ich. Ich stelle die Schüssel ab, die ich eben abgetrocknet habe, und lehne mich an die Arbeitsplatte hinter mir. Nun habe ich endlich beide Hände frei und kann mir das Handy richtig ans Ohr halten.

»Na, dann mal los!«, sagt Dad erwartungsvoll.

»Ich habe dir doch von meiner ersten Begegnung mit Mira im Café berichtet. Neben Mira habe ich dort noch jemanden getroffen. Wieder getroffen, um genau zu sein.«

»Das klingt ja spannend. Wer ist es denn?«

»Es ist Finn, Dad. Ist das zu glauben? Nach all den Jahren stand er einfach vor mir. Und er sieht so anders aus! Dennoch habe ich ihn gleich erkannt und er mich auch«, erzähle ich aufgeregt.

»Das klingt ganz toll, Enna. Pass auf dich auf, ja, Liebling?« Seine Stimme klingt seltsam, beinahe besorgt.

»Was meinst du damit, Dad? Natürlich passe ich auf mich auf.« Verwundert halte ich inne, den nächsten Teller und mein Geschirrtuch in der Hand. Natürlich erinnert sich Dad daran, wie schlecht es mir ging, nachdem Finn nicht mehr zu uns kam. Daher muss seine Sorge kommen.

»Ich mache mir einfach Sorgen um dich, das weißt du doch ...«, antwortet er, doch irgendetwas gibt mir das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckt. »Hören wir uns bald wieder?«

»Natürlich«, antworte ich und werfe noch ein liebevolles »Ich hab dich lieb!« ein, in der Hoffnung, ihm so ein gutes Gefühl geben zu können. Schon immer war Dad schnell besorgt um mich, nach Mums Tod noch mehr als sonst, was ich ihm aber nicht übel nehme — im Gegenteil. Es ist schön zu wissen, dass er immer an meiner Seite steht und sich Gedanken um mich macht.

»Ich dich auch, Enna. Bis bald!«, verabschiedet er sich und legt auf.

Leicht enttäuscht darüber, dass ich Dad nicht noch mehr über mein Wiedersehen mit Finn erzählen konnte, beginne ich damit, das abgetrocknete Geschirr in die Küchenschränke einzuräumen. Die Gelegenheit wird sich bestimmt bald noch ergeben, wenn er mich besuchen kommt.

Finn

»Woher kennst du denn das Mädchen von gestern?«, fragt Rachel, während wir über den Campus in Richtung WG laufen. »Wie hieß sie noch gleich? Emma?«

»Enna«, berichtige ich sie.

Beim Mittagessen gestern haben wir uns über alles Mögliche unterhalten, nur nicht darüber. Mit meinen Gedanken war ich zwar ständig woanders, dennoch war ich dankbar dafür, dass Rachel dieses Aufeinandertreffen nicht mehr angesprochen hat. Umso überraschter bin ich, dass sie jetzt, einen ganzen Tag später, doch noch nachfragt.

»Wir sind zusammen aufgewachsen«, antworte ich ihr schließlich knapp.

Wir laufen eine der vielen Alleen in Starfall entlang. Links und rechts von uns reihen sich die Bäume aneinander, deren Blätter sich schon langsam braun färben. Der Sommer hat bald ein Ende.

»Ach so«, erwidert Rachel nur knapp. Ich merke, wie ihre Stimmung kippt, und lege einen Arm um sie in der Hoffnung, sie so etwas beruhigen zu können.

»Und seitdem seid ihr befreundet?«

»Das waren wir lange Zeit, ja. Bis ich mit meinen Eltern weggezogen bin. Das war einige Jahre vor deren Trennung.« Beim Gedanken an diese schlimme Zeit jagt es mir sofort eine Gänsehaut über den Rücken. Auch, wenn es die einzig richtige Entscheidung für unsere Familie war, denke ich noch immer nicht gern an die Trennung meiner Eltern zurück. Kein Kind sieht gern dabei zu, wie die Familie auseinanderbricht.

Rachel muss meinen plötzlichen Stimmungswandel bemerken, denn sie drückt meine Hand und streicht mit ihrem Daumen über meinen Handrücken. Sie weiß, wie sehr mich die Trennung meiner Eltern noch immer mitnimmt, auch wenn wir nicht oft darüber sprechen.

»Du hast nie etwas über sie erzählt. Wieso wart ihr denn später nicht mehr befreundet?«, führt sie das Gespräch so auf Enna zurück.

»Es war sehr kompliziert damals«, gebe ich ihr eine knappe Antwort in der Hoffnung, dass sie bemerkt, dass ich nicht weiter darüber sprechen möchte.

»Inwiefern kompliziert?«

»Es sind damals einige Dinge vorgefallen, weshalb wir uns lange Zeit nicht mehr gesehen haben und dann auch nicht mehr befreundet waren.« Das ist die Untertreibung schlechthin, doch näher möchte ich nicht ins Detail gehen. Es reicht schon aus, dass mich die Geschehnisse seitdem immer wieder heimsuchen, darüber sprechen muss ich nicht auch noch mit ihr. Obwohl sie meine Freundin ist, tue ich das, wenn es nicht anders geht, nur mit Jase.

»Aber du freust dich, dass ihr nun wieder Kontakt habt?« Fragend sieht sie mich an. In ihrem Blick erkenne ich Verwirrung.

»Ja, das tue ich. Enna war ein wichtiger Mensch für mich. Meine beste Freundin«, antworte ich und versuche, das zweite Wort so zu betonen, dass sie versteht, dass sie sich keine Gedanken machen muss.

»Okay«, erwidert sie und versucht sich an einem zaghaften Lächeln. Ich weiß nicht, ob es mich beruhigen oder verunsichern sollte, dass sie scheinbar eifersüchtig ist.

»Wie war es denn heute in der Vorlesung bei Prof. Singer?«, versuche ich, das Thema zu wechseln.

»Wie immer total langweilig. Ich habe die Zeit genutzt, um Instagram zu checken.«

Rachel ist schon seit Beginn ihres Studiums nicht wirklich begeistert davon. Sie studiert Medienkommunikation im dritten Semester. Eigentlich passt dieser Studiengang perfekt zu ihr. Sie liebt ihren Instagram-Account, auf dem sie regelmäßig Outfits präsentiert und über Mode bloggt. Es zieht sie in diese Branche, aber Rachel ist mehr der praktische Mensch. Die Theorie zu erlernen, macht ihr keinen Spaß und durch die bisherigen Prüfungen hat sie es nur mit Ach und Krach geschafft. Auch mir macht der praktische Teil meines Studiums mehr Freude als der theoretische, jedoch ist meine Leidenschaft so groß, dass ich auch die Theoriekurse mit Interesse besuche.

»Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal dem Dozenten zuhörst, anstatt deinem Handy deine gesamte Aufmerksamkeit zu schenken?«, frage ich sie neckend.

»Mein Handy ist spannender als Prof. Singers Gerede über die aktuellen Verkaufszahlen irgendwelcher Unternehmen.« Genervt rollt sie mit den Augen und ich beschließe, mir einen weiteren Kommentar über ihr mangelndes Interesse an ihrem Studium zu verkneifen.

»Kommst du noch mit zu mir?«, frage ich. Obwohl ich lieber etwas Zeit nur für mich hätte, möchte ich meiner Freundin zeigen, dass alles okay ist, und die angespannte Stimmung zwischen uns aus der Welt schaffen.

Automatisch frage ich mich, ob das wirklich der Fall ist. Ist wirklich alles okay in unserer Beziehung? Ich bin glücklich darüber, Rachel an meiner Seite zu haben. Dennoch habe ich ständig das Gefühl, nicht ehrlich mit ihr reden zu können und jedem Thema, das sie wütend machen könnte, aus dem Weg gehen zu müssen. Es ist kompliziert mit uns beiden. Und dennoch ist Rachel ein guter Mensch und ich mag sie sehr gern. Nur wünsche ich mir die Leichtigkeit in unserer Beziehung zurück, die ich zuletzt spürte, als wir nur Freunde waren.

»Klar, gern«, antwortet sie schließlich.

Während wir durch die Stadt in Richtung WG laufen, erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken erneut zu einem anderen Mädchen wandern.

Enna

»I’m so sick of running as fast as I can!«, grölen Mira und ich, während wir uns in ihrer Küche gegenüberstehen. Beide halten wir einen Mikrofon-Ersatz in den Händen — sie einen Rührstab des Mixers, ich einen Esslöffel. »Wondering if I’d get there quicker if I was a man!«

Seit einer Stunde bereiten wir nun schon das Backen vor. Weil wir uns immer wieder von Taylor Swift ablenken lassen, kommen wir nur langsam voran. Dafür macht es eine Menge Spaß, ihre neuen Songs laut mitzusingen. Wir beide sind uns einig, dass ihr Album Lover einfach der absolute Wahnsinn ist. Ihren Song »The Man« hören wir in Dauerschleife, weil er einfach so anders und originell ist.

Ich bin sehr froh, den heutigen Nachmittag mit Mira und den Jungs verbringen zu können. Dass wir heute alle nur bis zur Mittagszeit Vorlesungen hatten, kam uns sehr gelegen. Finn ist noch nicht zu Hause und eben meinte Mira, dass Jase wohl noch unterwegs sei. Den Weg zur WG habe ich trotz meines schlechten Orientierungssinns gut gefunden. Ich musste Mira allerdings kurz anrufen, weil ich die Hausnummer nicht gefunden habe. Irgendwann stand sie aber rufend und winkend auf der Terrasse.

Sofort war ich total begeistert von dem Haus, in dem die drei wohnen. Es ist ein Altbau mit mehreren Wohnungen, wobei Mira, Jason und Finn die oberste im Dach gehört. Gleich zu Beginn hat meine Freundin mir eine kleine Führung gegeben. Von einem langen Flur gehen fünf Türen ab. Drei davon führen in die jeweiligen Zimmer der drei, die vierte ins Badezimmer und die fünfte in das geräumige Wohnzimmer, in dem eine offene Küche steht. Hier kann Mira sich wirklich austoben — die Küche ist einfach riesig. Vor der Küchenzeile steht eine große Kücheninsel, auf der wir für unsere Backsession all unsere Zutaten ausgebreitet haben.

»Magst du die Äpfel in Würfel schneiden?«, fragt Mira, nachdem sie die Musik wieder leiser gestellt hat.

»Klar«, antworte ich und nehme mir den ersten Apfel von der Arbeitsfläche.

Vor uns steht eine riesige Schüssel, in die wir bereits die ersten Zutaten für die Füllung der Starfall Pies gegeben haben. Von Miras Vorschlag, das für diese Stadt so berühmte Gebäck gemeinsam zuzubereiten, war ich begeistert. In der Küche hält sich mein Talent eher in Grenzen, doch Mira versicherte mir, dass dieses Rezept ganz einfach sei und immerhin habe ich die wohl talentierteste Bäckerin von ganz Starfall an meiner Seite.

Während ich die Äpfel schneide, heizt Mira den Backofen vor und gibt die Zutaten für den Teig in eine zweite Schüssel. Fragend sieht sie mich an. »Möchtest du den Teig kneten?«

»Ich? Lieber nicht!«, antworte ich lachend. »Das überlasse ich der Meisterbäckerin.«

Sie erwidert mein Lachen und knetet den Teig selbst zu einer Masse zusammen.

Wir füllen ihn in ein Muffinblech und formen kleine Schälchen, in die wir anschließend die warme Apfel-Zimt-Füllung geben. Anschließend stechen wir aus dem restlichen Teig mit einem Förmchen kleine Sterne aus, die wir vorsichtig auf die Füllung drücken. Mira hat eine ganze Menge an Backzubehör. Ihre Griffe in der Küche wirken routiniert und man merkt ihr einfach an, wie viel Freude ihr das Backen bereitet. Während sie lächelnd das Blech in den Ofen schiebt, lehne ich an der Kücheninsel.

»Hey, Mira?«

»Hey, Enna?« Sie schließt die Klappe des Backofens, stellt den Timer auf ihrem Handy ein und sieht mich dann erwartungsvoll an.

»Ich glaube an deinen Traum. Irgendwann wirst du eine eigene Konditorei haben. Und ich werde dort regelmäßig deine Kuchen verputzen.« Ich hoffe, dass sie mir ansieht, wie ernst ich diese Worte meine.

»Danke, Enna, das bedeutet mir viel«, sagt sie und schaltet die Musik kurzerhand wieder auf laut. Mittlerweile singt Taylor von »Paper Rings«. Mira und ich werfen uns einen bedeutsamen Blick zu und beginnen gleichzeitig den Refrain lauthals mitzusingen. Dabei springen wir durch die Küche wie kleine Kinder und müssen immer wieder so sehr über uns selbst lachen, dass uns fast die Luft ausgeht. Es tut so gut, mit meiner Freundin unbeschwert Zeit zu verbringen.

Irgendwann steckt Mira ihre Hand in die Mehltüte. Zielsicher kommt sie mir, bewaffnet mit dem Mehl, immer näher. Sofort ahne ich, was sie vorhat. Quiekend laufe ich um die Kücheninsel herum. Mira jagt hinter mir her und kurzerhand greife ich ebenfalls in die Tüte, um mich mit der weißen Masse zu bewaffnen. Doch genau diese kurze Pause des Rennens war mein Fehler.

Mira holt zum Wurf aus und kurz darauf fliegt mir das Mehl entgegen. Erneut quieke ich, doch als sie bemerkt, dass auch ich mich mittlerweile bewaffnet habe, dreht sie sich um und läuft davon. Lachend jagen wir uns durch die Küche, bewerfen und beschmieren uns mit den Zutaten. Miras blaues Kleid, das sie über einer schwarzen Strumpfhose trägt, ist voller Mehl und auf meinem weißen Shirt klebt die Apfel-Zimt-Füllung der Pies, während ich das Mehl dafür in den Haaren habe.

Gerade als ich glaube, unsere Schlacht sei vorbei, bewaffnet sich Mira mit einem Löffel und taucht diesen ein letztes Mal tief in den Rest der Füllung. Den Löffel in die Luft gestreckt, kommt sie dann bedächtig auf mich zu. Noch immer singt Taylor lauthals, mittlerweile allerdings schon ihren nächsten Song vom Album. Als ich bemerke, was Mira vorhat, bewege ich mich langsam rückwärts.

»Ich warne dich, Mira. Wenn du das tust ...«

Mitten im Satz laufe ich in jemanden hinein. Augenblicklich verliere ich das Gleichgewicht.

»Hoppla!«, höre ich Finn hinter mir rufen, doch da reiße ich ihn auch schon mit mir zu Boden. Eine Hand schlingt sich um meine Hüfte, wahrscheinlich ein Versuch, den Sturz zu verhindern, doch gleich darauf knallen wir beide auf den Küchenboden. Finn reagiert schnell und zieht mich so an sich, dass der Aufprall etwas gedämpft wird und sich keiner von uns beiden wehtut.

Wir schauen uns kurz in die Augen. Finns erschrockener Blick und Miras schallendes Gelächter aus dem Hintergrund geben mir dann den Rest. Ich stimme mit ein und kann mich gar nicht mehr beruhigen. Taylors Gesang wird von unserer Freude übertönt, ein schallendes Gelächter hallt durch die gesamte Wohnung.

»Entschuldige«, bringe ich hervor.

»Hast du dir wehgetan?«, fragt Finn.

»Alles okay. Bei dir auch?«

Er nickt und rappelt sich wieder auf. Er streckt mir seine Hand entgegen und zieht mich wieder auf meine Füße.

Erst als ich wieder stehe, bemerke ich, dass Finn nicht allein die Küche betreten hat. Rachel steht in den Türrahmen gelehnt hinter ihm und beobachtet das Geschehen mit einem skeptischen Blick. Auch Mira scheint sie erst jetzt zu bemerken und stellt die Musik leiser.

»Hey, ihr zwei«, begrüßt sie Finn und seine Freundin.

»Hey«, murmelt Rachel nur.

»Das nenne ich mal eine Begrüßung«, wendet Finn sich an mich. Dann wandert sein Blick zu Mira und wieder zurück zu mir. »Wie seht ihr denn aus?«, fragt er belustigt.

»Wir haben gebacken«, antworte ich.

»Mit anschließender Zutatenschlacht«, fügt Mira lachend an.

Erschrocken sieht Finn Mira an. »Du hast Enna in die Küche gelassen?«

»Ja, das habe ich.«

»Bist du krank? Geht es dir gut?« Finn geht auf Mira zu und legt ihr eine Hand auf die Stirn, als würde er annehmen, dass sie Fieber hat.

»Habe ich etwas verpasst?«, frage ich verwundert.

Finn dreht sich wieder zu mir. »Mira lässt niemanden in ihre Küche, wie sie sie immer bezeichnet. Nie.«

Fragend wende ich mich Mira zu und ziehe dabei eine Augenbraue nach oben. »Wieso das denn?«

»Mehrere Gründe«, startet sie mit ihrer Erklärung. »Jason verbreitet ständig überall Chaos. Und Finn kann einfach nicht kochen.«

»Bitte was?!«, fragt Finn. »Ich kann sehr wohl kochen!«, fügt er entrüstet hinzu.

»Kannst du nicht«, kommt es da plötzlich aus Richtung Tür. Rachel habe ich im Verlauf des Gesprächs ganz vergessen. Das eben waren die ersten richtigen Worte, die sie gesprochen hat, seit Finn und sie den Raum betraten.

»Na, danke auch«, sagt Finn und sieht seine Freundin enttäuscht an.

»Sorry, Finn.« Rachel geht auf ihn zu und legt beschwichtigend einen Arm um ihn. »Aber ich muss Mira in diesem Punkt einfach recht geben.«

Er lacht und legt seinen Arm nun ebenfalls um sie. Für einen kurzen Moment zieht mein Herz sich zusammen. Die beiden so innig miteinander zu sehen, lässt ein komisches Gefühl in mir entstehen, über das ich mich selbst wundere. Ich bin es einfach nicht gewohnt, Finn mit einem anderen Mädchen zu sehen. Früher gab es immer nur ihn und mich.

Rachel flüstert Finn etwas ins Ohr und zieht ihn kurz darauf in Richtung Flur. Irgendwann lässt sie ihn los und verschwindet in Richtung seines Zimmers. Er läuft ihr hinterher, dreht sich aber im Türrahmen noch mal kurz um.

»Bleibst du noch eine Weile?«

Ich werfe Mira einen fragenden Blick zu.

»Na klar. Enna ist natürlich zum Kaffeetrinken eingeladen.«

Lächelnd sieht sie mich an und ich bedanke mich für die Einladung.

»Kommt ihr später für einen Starfall Pie dazu?«, fragt Mira Finn. »Jase müsste in etwa einer Stunde von der Probe zurück sein. Bis dahin sind sie fertig und ausreichend ausgekühlt.«

»Klar, gern. Wer sagt schon Nein zu einem Starfall Pie?« Finn wirft mir noch einen letzten Blick zu und verschwindet dann im Flur.

Noch immer spüre ich seine Hand an meiner Hüfte.

Noch immer höre ich sein warmes Lachen in meinen Ohren.

Und noch immer frage ich mich, warum meine Gefühle so verrückt spielen, seit Finn wieder Teil meines Lebens ist.

In den letzten Jahren hätte ich meinen besten Freund wirklich an meiner Seite gebraucht, mehr als jemals zuvor. Sein Umzug damals hat mir den ohnehin schon schwankenden Boden unter meinen Füßen komplett weggerissen. Und doch überwiegt nun die Freude, ihn wieder in meinem Leben zu haben, denn ich erinnere mich lieber an all die schönen Momente, die wir gemeinsam hatten, und versuche, all das Schlechte und traurige Geschehen in meiner Vergangenheit auszublenden. Mir reichen meine regelmäßigen Albträume und Ängste schon aus. Ich möchte dem Funken in mir, der immer noch enttäuscht über sein damaliges Verschwinden ist, keine Chance geben, sich auszubreiten. Es gibt unendlich viele Fragen in meinem Kopf, doch ich entscheide mich dafür, mich zunächst auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich möchte das Geschehene nicht verdrängen, aber momentan möchte ich einfach nur leben und genießen, heilen und lachen.

Und im Hier und Jetzt bin ich verdammt glücklich, aber auch mehr als verwirrt über die Gefühle, die Finn in mir auslöst.

KAPITEL 8

Mary Poppins

Enna

»Wer möchte noch einen Pie?«, fragt Mira in die Runde.

»Ich!«, rufen wir alle wie aus einem Mund. Ein herzliches Lachen breitet sich auf der gesamten Terrasse aus, während Mira nach und nach jedem von uns ein zweites Gebäck auf den Teller legt.

Während die Pies im Ofen und Rachel mit Finn in dessen Zimmer verschwunden waren, haben Mira und ich die Zeit genutzt, um die Terrasse für unser Kaffeekränzchen herzurichten. Von hier aus hat man einen wunderbaren Ausblick über ganz Starfall und die dahinterliegenden Berge. Außerdem habe ich zum ersten Mal einen Blick auf den berühmten Starfall Lake werfen können, den ich bisher nur auf den Fotos der Uni-Website betrachten konnte. Wie ein Klecks blauer Farbe sieht er von hier oben aus, obwohl er in Wirklichkeit so riesig sein soll. Mira hat mir erzählt, dass die Studenten häufig im Sommer an den See fahren und dort ganze Tage verbringen.

Nun sitzen wir gemeinsam am Tisch und verdrücken das wohl leckerste Gebäck, das ich jemals gegessen habe. Isst man einen Starfall Pie, beißt man in einen weichen Teig und eine zimtige Apfelfüllung, was bei mir mit jedem Bissen zu einer Geschmacksexplosion führt.

Kurz habe ich darüber nachgedacht, mir das Rezept von Mira geben zu lassen, mich dann jedoch dagegen entschieden. Das Backen überlasse ich lieber ihr und genieße die Kreation, die sie aus den Zutaten zaubert.

Rachel und Finn haben sich zu uns gesellt und auch Jason kam vorhin nach Hause. Mira hat uns einander vorgestellt und kurz darauf hat er mich in eine herzliche Umarmung gezogen. Auf Anhieb habe ich mich auch mit ihm wirklich gut verstanden. Es ist unglaublich, wie ähnlich er und Mira sich sehen. Von ihm habe ich aber auch erfahren, dass die beiden nicht nur Geschwister, sondern Zwillinge sind. Jasons kurze Haare haben genau die blonde Farbe von Miras, außerdem haben die beiden die gleiche Nase, was ich wirklich niedlich finde.

»Du studierst also Literatur, Enna?«, fragt Jason mich, nachdem wir eine Weile über sein Musikstudium gesprochen haben. Mira hatte mir ja bereits bei unserem ersten Treffen im Café von seiner Leidenschaft erzählt. Nun noch mehr darüber zu erfahren, was er studiert, ist wirklich spannend. Auch die theoretischen Inhalte scheinen ihm viel Spaß zu machen.

»Genau.« Lächelnd werfe ich ihm einen Blick über den Tisch zu. Finn, Rachel und Jason sitzen mir und Mira gegenüber. Der braune Holztisch ist so lang, dass bestimmt zwanzig Leute daran Platz hätten, und eignet sich somit perfekt für große Runden.

»Eine Leseratte also?« In seinem Blick liegen weder Spott über mein Hobby, das einige als langweilig empfinden, noch Desinteresse. Im Gegenteil: Er scheint sich wirklich für meine Leidenschaft zu interessieren.

»So könnte man es sagen«, antworte ich ihm und kaue zu Ende, bevor ich weiterspreche. »Ich liebe Bücher. Das war schon immer so.«

»Hast du ein Lieblingsbuch?« Jason schiebt sich ein weiteres Stück in den Mund.

»Nicht nur eins, wenn ich ehrlich bin. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, dann wäre es wohl Mary Poppins . Ich war schon immer verrückt nach dieser Geschichte.«

»Das kann ich bestätigen«, kommt es von Finn. Wir werfen uns einen bedeutungsvollen Blick zu. Nur wir beide wissen in diesem Moment, was seine Worte zu bedeuten haben.

In Finns Blick liegt so viel Wärme, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden kann. Wie auch schon im Café vor einigen Tagen zieht es mich zurück in die Vergangenheit. Ich frage mich, ob es ihm vielleicht genauso geht und wir in diesem Moment die gleiche Erinnerung teilen.

Finn

Sechs Jahre zuvor — 2014, Juni

»Welche Geschichte möchtest du heute hören?«, frage ich Enna, während ich ihre große Decke über uns ausbreite.

»Ich darf sie mir selbst aussuchen?«, fragt sie mich. »Ohne, dass du die Augen verdrehst?«

»Versprochen.«

Als ich vor einigen Minuten durch das Fenster in Ennas Zimmer geklettert bin, habe ich sofort gemerkt, dass es ihr nicht gut geht. Also ist es ganz klar, dass ich ihr heute vorlese, was immer sie hören möchte. Und Hauptsache, sie lenkt mich ab. Mum und Dad haben sich wieder schrecklich laut gestritten, als ich in meinem Bett lag und versuchte einzuschlafen. Wieder einmal fragte ich mich, warum die beiden sich immer anschreien müssen und nicht einfach normal miteinander reden können. Immerhin sind sie doch erwachsen.

»Mary Poppins«, antwortet Enna schließlich und reißt mich damit aus meinen Gedanken, worüber ich wirklich froh bin. Diese Geschichte lesen wir am häufigsten, weil Enna sie immer wieder hören möchte. Ich verkneife mir, sie zu fragen, ob sie nicht langsam die Nase voll davon hat, so oft dieselbe Geschichte zu hören.

»Okay. Gibst du mir das Buch?«, frage ich sie.

Enna nimmt das Buch von dem Stapel neben ihrem Nachttisch, der in letzter Zeit immer größer geworden ist. Sie legt es in meinen Schoß und kuschelt sich dann an mich.

Ich mag es, hier einfach nur mit Enna zu liegen. Trotz ihrer Angst schafft sie es, mich zu beruhigen und von meinen Problemen zu Hause abzulenken. Bisher habe ich ihr noch nichts von den Streitereien meiner Eltern erzählt. Ich weiß, dass Enna ihre eigenen Probleme hat, und möchte nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht. Stattdessen lese ich ihr lieber vor, um ihr die Angst vor der Dunkelheit zu nehmen, von der sie mir so oft erzählt. Ich liebe die Nacht, weil sie mir die vielen Sterne am Himmel zeigt, doch für Enna ist die Dunkelheit nichts Schönes. Auch wenn es mir nicht leichtfällt, ihre Angst zu verstehen, möchte ich nur, dass sie wieder lachen kann, und wenn ich ihr dafür immer wieder das gleiche Buch vorlesen muss, werde ich das tun.

Ich greife nach einem ihrer vielen Kissen und stopfe es mir zwischen Rücken und Bettkante. Ein nervöses Flattern breitet sich in mir aus, als sie ihren Kopf auf meine Schulter legt, und ich frage mich, ob sie es auch spürt.

Ich atme einmal tief durch, dann beginne ich zu lesen.

»Wenn du den Kirschbaumweg suchst, so brauchst du nur den Polizisten an der Straßenkreuzung zu fragen ...«

»Finn!«, reißt mich ein lautes Rufen aus meinen Gedanken.

Ich blicke mich um und stelle entsetzt fest, dass mich alle anstarren.

Rachel schaut besonders komisch, weshalb ich annehme, dass sie es war, die meinen Namen eben rief.

»Entschuldige. Was hast du gesagt?«

»Ich habe dich gefragt, ob du auch noch einen Kaffee möchtest«, wiederholt sie ihre Frage belustigt. Ich werfe Enna einen Blick über den Tisch hinweg zu und stelle fest, dass auch sie abgelenkt zu sein scheint, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Vielleicht in ihrem Zimmer, wo ich ihr vorgelesen habe ...

»Nein, danke. Erst mal nicht«, antworte ich schließlich, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet in der Küche. Mira wendet sich Enna zu und die beiden beginnen ein Gespräch, während ich mich auf das Gebäck vor mir konzentriere, von dem nur noch etwa zwei Happen übrig sind.

»Wo warst du denn gerade, Mann?«, fragt mich Jase leise.

»Hä?« Verdutzt schaue ich ihn an.

Mit seiner rechten Hand deutet er auf seinen Kopf und zieht dabei beide Augenbrauen in die Höhe.

»Ach so«, antworte ich, als der Groschen fällt. »Ich war nur in Gedanken.« Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick daraufhin erneut zu Enna wandert. Was ist nur los mit mir, verdammt?

»Mary Poppins also, ja?«, fragt Jase mich und zieht dabei eine Augenbraue nach oben.

»Ja, Mary Poppins . Ich habe ihr immer daraus vorgelesen.« Er grinst und ich schlage ihm gegen den Oberarm. »Mach dich gefälligst nicht darüber lustig!«

»Das mache ich nicht. Ich finde es nur extrem süß«, sagt Jase.

»Wer ist extrem süß?«, ertönt es da von Rachel, die sich mit einer frischen Tasse Kaffee in den Händen wieder zu uns setzt.

»Finn«, antwortet ihr Jase. »Eben hat er mir erzählt, dass ...«

»... am Samstagabend eine Party im Stardust für die Erstsemester steigt.« Es ist mir nicht unangenehm, wenn andere erfahren, wie nahe Enna und ich uns früher standen, doch Rachel muss davon nicht unbedingt etwas mitbekommen.

»Und was genau macht dich dadurch süß?«, fragt Rachel verdutzt.

»Dass ich gern mit euch allen auf diese Party gehen würde.« Ich werfe Jase einen warnenden Blick zu, den er richtig zu deuten scheint.

»Genau. Unser Finni-Boy möchte mit uns allen feiern gehen.« Jase wuschelt mir durch die Haare und ich lache.

»Jason!«, ruft Rachel daraufhin entsetzt. »Du sollst nicht immer seine Frisur zerstören. Schau doch, wie er jetzt aussieht!«

Sie beginnt, mit ihren Händen durch meine Haare zu fahren, um sie wieder zu richten.

»Entspann dich, Rachel«, meint er nur und rollt genervt mit den Augen.

Ich sehe meine Freundin an. »Bist du auch dabei?«

»Ich bin mir nicht sicher. An diesem Abend macht diese eine You-Tuberin einen Livestream, in dem sie ...«

»Langweilig!«, brüllt Jason.

»Mann! Lass sie doch mal ausreden.« Ich werfe Jase einen ernsten Blick zu, woraufhin er nur entschuldigend mit den Schultern zuckt. Rachel hat sich mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurückgelehnt. Wenn ich jetzt noch mal nachfrage, bringe ich das Fass wahrscheinlich zum Überlaufen, also wende ich mich Enna zu.

»Und du?«, frage ich sie hoffnungsvoll. Ein Abend mit meinen Freunden wäre schön, wenn auch Enna dabei wäre, wäre er vielleicht sogar noch ein bisschen schöner. Ich möchte sie bei diesem besonderen Ereignis unbedingt dabeihaben und hoffe, dass sie uns begleiten möchte.

Mit einem zweifelnden Blick sieht sie mich an. »Ich weiß nicht ...«

»Komm schon, Enna. Das wird sicher lustig!«, motiviert sie Mira.

»Wir hätten dich wirklich gern dabei. Du gehörst jetzt mit dazu!«, meint Jase, was Enna ein kleines Lächeln entlockt.

Sie atmet einmal tief durch. »Einverstanden.«

»Das wird toll!«, ruft Mira, woraufhin Enna nur zaghaft nickt. Noch immer scheint sie Zweifel an ihrer Entscheidung zu haben und ich frage mich, warum das so ist.

»Okay, Leute. Ich komme auch mit!«, ruft Rachel.

»Was ist mit dem Livestream?«, frage ich sie verwundert. Eben wollte sie ihn doch noch unbedingt schauen.

»Egal. Du bist mir wichtiger!« Sie zieht mich für einen innigen Kuss zu sich heran. Ich erwidere den Kuss, obwohl mich ihre Worte zweifeln lassen. Ich habe ihr angesehen, dass sie viel lieber dieses Video schauen würde, als uns zu begleiten. Dennoch kann uns ein gemeinsamer Abend mit den anderen nicht schaden, denke ich. Vielleicht lockert es die angespannte Stimmung zwischen ihr und mir etwas auf. Und insgeheim macht es mich auch glücklich, dass sie sich für mich und gegen den Stream entscheidet.

»Das nenne ich mal einen schnellen Sinneswandel«, sagt Mira in die Runde und greift meinen ersten Gedanken auf.

Rachel löst sich von mir. »Man kann seine Meinung auch mal ändern, oder?«, fragt sie Mira, grinst dabei aber mich an.

»Klar«, antwortet Mira und hebt ergeben die Hände.

Jase versucht, die Stimmung etwas aufzulockern. »Hat jemand Lust auf eine Runde Zocken?«

»Bin dabei«, antworte ich sofort, während Mira und Enna den Kopf schütteln. Ich werfe Rachel einen fragenden Blick zu. »Ist das okay?«

»Klar. Aber zuschauen muss ich euch nicht dabei, oder?«

»Quatsch. Du könntest doch mit Mira und Enna ...«

»Ich würde dann einfach schon gehen«, wirft sie ein.

»Okay. Sehen wir uns morgen?«

Rachel steht auf, wirft sich ihre Handtasche über die Schulter und streicht sich die langen schwarzen Haare nach hinten.

»Klar.«

Kurz winkt sie in die Runde, dann begleite ich sie zur Haustür, wo wir uns zum Abschied küssen.

»Mach Jason fertig!«, ruft sie mir noch zu, als sie schon einige Stufen im Treppenhaus heruntergelaufen ist.

»Das wird er nicht tun!«, brüllt Jase im Hintergrund.

»Immer!«, rufe ich Rachel hinterher und schließe lachend die Tür.

KAPITEL 9

Sehnsucht

Enna

Ich trete durch die Haustür in die kalte Abendluft hinaus und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis ganz nach oben zu. Auf dem Fußweg bleibe ich stehen, schiebe die Hände in die Taschen meiner Jacke und drehe mich zu Finn, der die Tür gerade hinter sich zuzieht.

Nachdem Rachel unsere Runde verlassen hat, haben er und Jason Mira und mich beim Abwasch unterstützt und anschließend noch eine Stunde vor der Konsole gesessen und irgendein Spiel gezockt, von dem ich noch nie zuvor gehört habe. Ich habe die Zeit mit meinen Freunden so sehr genossen, dass ich komplett vergessen habe, wie spät es ist. Der Tag ist verflogen, die Stunden in der WG haben sich wie Minuten angefühlt. Mittlerweile ist es schon Abend geworden und über die Stadt hat sich eine dunkle Decke gelegt.

Als ich mich von den Jungs verabschieden wollte, ließ Finn alles stehen und liegen und kündigte an, dass er mich nach Hause bringt. Nachdem ich ihn mehrere Minuten davon überzeugen wollte, dass das wirklich nicht nötig ist, habe ich es irgendwann aufgegeben und zugestimmt. Immerhin ist es mittlerweile schon dunkel draußen und über ein bisschen Gesellschaft auf dem Heimweg bin ich ehrlich gesagt froh. Dennoch ist da diese leichte Panik in mir. Davor, dass Finn mir meine Angst am Gesicht ablesen kann.

»Danke, dass du mich begleitest«, breche ich schließlich unser Schweigen.

»Na klar.« Finn lächelt mich an. »Hat es dir bei uns gefallen?«

Ich bin dankbar dafür, dass seine Frage mich auf andere Gedanken bringt. »Es war wirklich schön. Ihr habt mich direkt so herzlich aufgenommen, obwohl ihr mich noch gar nicht so lange kennt.«

»Das stimmt nicht«, berichtigt er mich. »Ich kenne dich ziemlich gut.«

»Du kanntest die kleine Enna. Die große kennst du noch nicht.« Als mir die Bedeutung meiner Worte bewusst wird, verschwindet das Lächeln von meinen Lippen. Irgendwie bin ich doch immer die kleine Enna geblieben — das Mädchen mit der Angst im Dunkeln. Und noch immer schwingt die unausgesprochene Frage zwischen Finn und mir. Die Frage, die ich mich einfach nicht traue, ihm zu stellen. Ich möchte die Leichtigkeit des heutigen Tages und das schöne Treffen nicht damit zerstören, in unserer Vergangenheit herumzugraben.

Schweigend laufen wir nebeneinanderher, bis Finn auf einmal die Hand mit seinem Schlüssel nach vorn streckt und gleich darauf eines der Autos am Straßenrand aufleuchtet.

Wie angewurzelt bleibe ich stehen.

Finn geht auf den schwarzen Wagen zu. »Es wird zwar nur eine kurze Fahrt, aber immerhin müssen wir so nicht durch die Kälte laufen.«

Er öffnet die Beifahrertür und beugt sich in den Wagen hinein. »Ich kann dir sogar die Sitzheizung anmachen, wenn du möchtest, die ist wirklich ...«

Mitten im Satz stoppt er, als er sich wieder in meine Richtung dreht.

»Ist alles okay?«, fragt er mich. Noch immer stehe ich wie angewurzelt auf dem Gehweg und starre auf seinen Wagen, unfähig, ihm zu antworten.

Ich möchte nichts mehr, als in dieses Auto zu steigen und mich von Finn nach Hause fahren zu lassen. Es wäre so leicht, einfach zu ihm zu gehen, mich in den Wagen zu setzen und anzuschnallen. Doch nicht für mich.

»Enna?«

Mein Herz rast in meiner Brust. Ich weiß, dass ich nicht in dieses Auto steigen muss. Aber die Tatsache, dass ich es will , aber einfach nicht kann , überfordert mich.

Irgendwann schaffe ich es, meinen Blick vom Auto zu nehmen und Finn anzuschauen, der mich besorgt ansieht.

Als ich zu zittern beginne, legt er wortlos die Arme um mich.

Finn

In dem Moment, in dem Enna mir endlich in die Augen schaute, begriff ich, was in ihr vorgehen musste. Nun halte ich sie in meinen Armen und frage mich, wie ich so blöd sein konnte.

Mir hätte klar sein müssen, dass Enna nicht ins Auto steigen wird. Ich hätte es zumindest ahnen können. Natürlich hat sie Angst davor — nach allem, was passiert ist.

Behutsam streiche ich ihr mit meinen Händen über den Rücken. Ennas Kopf liegt an meiner Brust, die Arme hat sie sanft um mich geschlungen. Noch immer zittert sie, doch in meiner Umarmung scheint sie sich etwas zu beruhigen.

Irgendwann löst sie sich sanft von mir und wischt sich mit den Ärmeln die Tränen aus den Augen, die ihr lautlos über das Gesicht gelaufen sind. Verlegen schaut sie auf ihre Schuhe.

»Weißt du was?«, frage ich sie vorsichtig und endlich hebt sie den Kopf und schaut mich an. Bei der Angst und der Scham in ihren Augen bricht es mir fast das Herz. »Ich habe gerade richtig große Lust auf einen Spaziergang.«

Trotz der angespannten Situation schaffe ich es, Enna ein kurzes Lachen zu entlocken.

Ich drehe mich um und werfe die Beifahrertür wieder zu und schließe das Auto ab. »Kommst du?«

Sie nickt, und dann laufen wir den Fußweg entlang. Ich überlege krampfhaft, welches unverfängliche Thema ich anschneiden könnte, um die Situation wieder zu entspannen. Enna scheint ihre Panik von eben wirklich unangenehm zu sein. Das plötzliche Bedürfnis in mir, ihr die Sorge zu nehmen, die offensichtlich auf ihren Schultern lastet, siegt über meine Vernunft.

»Vor mir muss dir nichts unangenehm sein. Das musste es noch nie.«

Einige Minuten geht Enna still neben mir her, doch ich merke, wie ihre Mauer Stück für Stück in sich zusammenfällt. Wir sind mittlerweile auf dem Campus angekommen und laufen durch eine der vielen Alleen, die durch mehrere Laternen beleuchtet ist.

»Sie sind immer noch da«, bricht Enna schließlich unser Schweigen.

»Wer ist noch da?«, frage ich sie sanft.

»Meine Ängste.« Während sie spricht, ist ihr Blick starr nach vorn gerichtet.

»Die Dunkelheit?« Ich erinnere mich an Ennas Angst. Wie könnte ich mich nicht daran erinnern? Beinahe jede Nacht habe ich versucht, ihr diese Angst zu nehmen.

»Ja«, beginnt sie. »Nach dem Unfall, bei dem meine Mum starb, ist die Panik immer schlimmer geworden.«

Zum ersten Mal, seit wir uns wiedergefunden haben, spricht Enna offen mit mir über den Tod ihrer Mutter. In mir tobt augenblicklich ein Kampf zwischen Angst und Schuld, aus dem beide Gefühle als Sieger hervorgehen.

»Wir waren mit dem Auto unterwegs. Ich weiß nicht mehr viel, fast nichts, um genau zu sein. Mum ist gefahren und ich saß auf der Rückbank. Ich saß meistens hinten, weil Mum so gut wie immer etwas neben sich auf dem Beifahrersitz herumfuhr. Pappmüll, den zu entsorgen sie tagelang vor sich herschob zum Beispiel.« Ein kurzes Lächeln huscht über ihr Gesicht, doch ebenso schnell, wie es aufgetaucht ist, verschwindet es wieder. »Irgendwann war da dieser schreckliche Knall, dann nur noch Dunkelheit.«

Ich spüre, wie viel Kraft es Enna kostet, diesen Moment noch einmal zu durchleben, um mir davon erzählen zu können. Dabei weiß ich so gut, wovon sie spricht. »Diese Dunkelheit ist das Einzige, woran ich mich erinnern kann. Sie machte mir schon immer Angst. Ich konnte meinen Eltern nie erklären, wieso ich mich so vor ihr fürchtete. Doch in dieser Nacht wurde die Schwärze der Nacht noch beängstigender für mich, als sie es vorher ohnehin schon war«, fährt sie schließlich fort. »Irgendwann bin ich dann im Krankenhaus aufgewacht und konnte mich an nichts mehr erinnern. Dad sagte mir noch am selben Tag, dass Mum nicht mehr lebt.«

Eine Träne rollt ihr über das Gesicht und es kostet mich alles an Kraft, nicht nach ihrer Hand zu greifen.

»Immer wenn es dunkel wird, breitet sich diese Angst in mir aus. Ich kann nichts dagegen tun. Und dann träume ich von Mum und verliere sie erneut, so viele Male aufs Neue.«

»Hast du jetzt gerade Angst?«, frage ich sie vorsichtig.

»Nein.« In ihrem Blick sehe ich, dass sie die Wahrheit sagt.

»Warum nicht?« Ich wünsche mir nur eine Antwort auf meine Frage.

»Weil du bei mir bist«, antwortet Enna. Genau wie damals wünsche ich mir nichts sehnlicher, als ihr ihre Ängste nehmen zu können. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Sie lächelt. Obwohl sich noch immer die Schuld in mir regt, fühlt es sich einfach gut an zu wissen, dass sie mir vertraut. Auch wenn sie eigentlich gar keinen Grund mehr dazu hat.

»Was ist die andere?«, frage ich sie schließlich, um mich wieder auf unser Gespräch zu konzentrieren und so viel wie möglich über sie zu erfahren.

»Die andere?« Verwirrt sieht Enna mich an.

»Die andere Angst. Du sprachst vorhin in der Mehrzahl?«

»Agoraphobie.«

Agoraphobie ... Agoraphobie ... Was genau war das noch mal?

Ich bin sicher, das schon einmal irgendwo gehört oder darüber gelesen zu haben.

Enna sieht meine Verwirrung. »In einfachen Worten ist damit die Angst gemeint, einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Ort nicht entfliehen zu können. So hat es mir zumindest meine Ärztin damals beschrieben, und mir erschien ihre Beschreibung sehr passend.«

»Ist das etwas Ähnliches wie Klaustrophobie?« Davon habe ich schon häufig gehört. Einmal war ich sogar mit im Fahrstuhl, als eine junge Frau Panik bekam. Damals wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte, also habe ich versucht, sie mit meinen Worten zu beruhigen. Bei ihrer Etage angekommen, stürmte sie dann direkt aus dem Fahrstuhl und war verschwunden.

»Man kann es damit vergleichen, zumindest, was die Symptome angeht. Der Auslöser für diese Angst ist allerdings ein anderer. Aber wir müssen nicht darüber sprechen ...«

»Es interessiert mich wirklich!«

»Wieso?«, fragt sie mich verwundert.

»Weil es mir wichtig ist, die große Enna kennenzulernen.«

Wieder entlocke ich ihr ein kleines Lächeln.

»Klaustrophobie ist die Angst vor kleinen und engen Räumen, aber auch vor großen Menschenansammlungen, wie sie zum Beispiel auf einem Konzert auftreten. Deshalb wird diese Panikstörung oft auch als Raumangst bezeichnet. Betroffene haben Angst davor, eingesperrt zu sein. Oft reicht schon eine geschlossene Tür, um eine Panikattacke auszulösen.«

»Verstehe. Und bei dir ist es anders?«

»Es fühlt sich ähnlich an, unterscheidet sich aber dennoch«, antwortet sie. »Ich leide unter Agoraphobie, das bedeutet, ich meide bestimmte Orte und Plätze, weil sie in mir ein Panikgefühl entstehen lassen.«

»Wie entsteht so eine Angst?«, frage ich sie und fürchte mich zugleich vor ihrer Antwort. Dieses wundervolle Mädchen sollte keine Angst haben, vor nichts und niemandem.

»Sie wird durch schlechte Erfahrungen und Traumata ausgelöst, die man mit einem bestimmten Ort verbindet. Ich war nach dem Unfall eine Zeit lang im Auto eingeklemmt. Dummerweise bin ich zwischenzeitlich wach geworden und kann mich deshalb an den Schmerz erinnern, den ich empfand. Ich wollte mich bewegen und nach meiner Mum rufen, doch es gelang mir nicht. Für eine kurze Zeit versuchte ich, aus dem Wagen zu entkommen, doch ich konnte mich weder bewegen noch die Tür oder ein Fenster öffnen.«

»Du verbindest diese schrecklichen Erinnerungen also mit dem Auto, richtig?«, vergewissere ich mich.

»In erster Linie ja.« Enna nickt. »Jedoch meide ich ebenso Orte, an denen ich das Gefühl habe, nicht entkommen zu können. Ich möchte mit aller Macht vermeiden, mich so hilflos zu fühlen wie damals.«

Gerade laufen wir am großen Universitätsgebäude vorbei, es sind also nur noch wenige Minuten, bevor wir Ennas Wohnung erreichen werden. Mittlerweile kenne ich jede Straße in Starfall, damit ist mir auch ihre nicht unbekannt.

»Wie kommst du klar ohne deine Mum?«

»Ich vermisse sie jeden Tag, aber mein Dad ist mir eine große Stütze bei allem, was ich tue.«

Schweigend laufen wir nebeneinanderher. Irgendwann drehe ich mich vorsichtig zu ihr und sehe, dass sie weint. Wie gelingt es diesem Mädchen nur, keinen Mucks zu machen, während ihr die Tränen über das Gesicht laufen?

»Entschuldige«, sagt sie, als sie meinen Blick bemerkt. »Ich will nicht schon wieder weinen. Es war so ein schöner Tag und ...«

»Du darfst weinen, Enna«, unterbreche ich sie und bleibe stehen. Entschlossen greife ich in die Taschen ihrer Jacke und ziehe ihre Hände daraus hervor, um sie mit meinen zu umschließen. Scheiß auf die Schuld in mir. Damals bin ich gegangen, konnte nicht für sie da sein, doch jetzt bin ich hier. »Es ist keine Schwäche und es ist nichts, wofür du dich schämen musst«, fahre ich fort. Mit meinen Daumen streiche ich sanft über ihre kleinen Hände. »Verstanden?«, frage ich sie sanft.

Enna schnieft und schaut mir dabei in die Augen.

»Weinst du auch manchmal?«, fragt sie mich.

»Natürlich.«

»Wirklich?«

»Ich heule wirklich oft.«

»Wann denn zum Beispiel?«, fragt sie mich, nun leicht amüsiert.

»Ich bin ein wirklich schlechter Verlierer. Letztens musste ich fast heulen, als Jase mich beim Zocken besiegt hat«, versuche ich, sie aufzuheitern.

Enna lacht und noch im selben Moment merke ich, wie sehr ich dieses Lachen in der letzten halben Stunde vermisst habe.

»Nie im Leben!«, sagt sie ungläubig und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.

»Ich schwöre es dir hoch und heilig«, erwidere ich. Wir halten uns an den Händen. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus und in diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass dieses Lächeln genau dort bleibt. Für immer.

»Ich habe auch zwei Ängste«, gestehe ich ihr schließlich.

»Verrätst du sie mir?« Gespannt schaut sie mich an.

»Eine verrate ich dir jetzt. Die andere hebe ich mir noch etwas auf.« »Wieso das?«

»Die ist einfach zu peinlich«, antworte ich lachend.

»Peinlicher, als mit neunzehn Jahren noch immer Angst im Dunkeln zu haben?« Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe. Das kann sie echt gut.

»Glaub mir: ja.« Wenn sie wüsste ...

»Okay. Dann raus mit Angst Nummer eins!«, fordert sie mich auf.

Ich atme einmal tief durch. Im Gegensatz zu meiner zweiten ist meine erste Angst alles andere als lustig. Doch Enna hat mir in den vergangenen Minuten so viel von sich preisgegeben. Ich möchte mich ihr nun auch ein kleines Stück weit öffnen.

»Seit meine Eltern sich getrennt haben, habe ich fürchterliche Angst davor, andere Menschen zu enttäuschen.« Noch während ich es ausspreche, realisiere ich, dass sie der erste Mensch ist, dem ich dieses Geheimnis anvertraue.

»Die beiden sind kein Paar mehr?«, fragt sie mich vorsichtig. Nun sind es ihre Finger, die über meine Hände streichen.

»Nein. Sie trennten sich kurz nachdem wir wegzogen, aber schon in den Monaten davor lief es nicht mehr gut zwischen den beiden. Ich habe mir lange Zeit die Schuld für ihre Trennung gegeben. Mittlerweile weiß ich, dass ich keine Schuld daran habe. Doch die Angst davor, einen anderen Menschen zu enttäuschen oder nicht gut genug für ihn zu sein, ist geblieben.« Ich atme einmal tief durch. »Dich habe ich damals auch enttäuscht, indem ich einfach ging.«

Die Worte sind aus mir hervorgebrochen, bevor ich sie daran hindern konnte.

»Hast du dich deshalb so sehr zurückgezogen damals?«, stellt Enna schließlich die Frage, vor der ich mich so lange fürchtete. »Es muss schrecklich für dich gewesen sein mitzuerleben, wie deine Eltern auseinandergleiten. Du hättest doch mit mir darüber sprechen können, Finn.«

»Ich ...«, beginne ich, während die Gedanken durch meinen Kopf rasen. Jetzt wäre der richtige Moment, ihr zu sagen, was damals wirklich in mir vorging. Es wäre nur fair, Enna endlich die ganze Wahrheit zu erzählen. Und doch bin ich dazu nicht fähig. Zu groß ist meine Angst, sie ein zweites Mal zu verlieren. Zu groß ist meine Angst vor dieser gottverdammten Wahrheit. »Ich konnte damals einfach nicht darüber sprechen, Enna. Und dann geschah der Unfall und ich war mit allem überfordert und ...«

Kurz scheint Enna zu überlegen, dann löst sie ihre Hände vorsichtig aus meinen und legt sie mir stattdessen auf die Schultern. Als ich ihren Blick mit meinem auffange, liegt nichts als Wärme und Vertrauen darin.

»Hör mir jetzt gut zu, Finn«, beginnt sie schließlich. »Die kleine Enna sagt dir jetzt, dass du der beste Freund warst, den sie sich hätte wünschen können. Und sie verzeiht dir, dass du damals einfach so verschwunden bist und dich zurückgezogen hast. Sie verzeiht dir sogar, dass du nie auf ihre SMS geantwortet und später deine neue Handynummer nicht mit ihr geteilt hast. Außerdem war es nicht deine Schuld. Deine Eltern trafen die Entscheidung wegzuziehen. Was hättest du denn tun sollen?«

Ich frage mich, ob sie auch nur ansatzweise irgendeine Ahnung hat, wie viel mir ihre Worte bedeuten. Auch wenn ich mir selbst nicht verzeihen kann, sie damals allein gelassen zu haben. Würde Enna die ganze Wahrheit kennen, würde sie diese Worte zurücknehmen. Doch sie von ihr zu hören, tut mir gerade einfach gut, auch wenn es das nicht sollte. Es ist egoistisch, doch ich entscheide mich dafür, es vorerst ruhen zu lassen.

»Und die große Enna versichert dir, dass du genau richtig bist, und zwar so, wie du bist. Sie würde nichts an dir ändern wollen.«

»Enna ...«, starte ich einen letzten Versuch, die Worte aus mir herauszubekommen, die sie verdient. Die Wahrheit endlich auszusprechen, doch Ennas Worte bremsen mich.

»Es ist okay, Finn«, meint sie nur. In ihren Augen sehe ich, wie unendlich müde sie ist. Müde von der Angst in ihr und den schrecklichen Erinnerungen an damals. »Jetzt sind wir hier. Wir haben einander wieder, leben in dieser wunderschönen Stadt und es ist so viel Zeit vergangen ...« Sie atmet einmal tief durch und lächelt dann zaghaft. »Meine Mum hätte gewollt, dass ich diese Zeit genieße. Dass wir diese Zeit genießen. Ich möchte nicht länger in der Vergangenheit leben.«

»In Ordnung«, sage ich. Enna schenkt mir ein Lächeln und obwohl ich nicht die Dinge gesagt habe, die ich hätte sagen sollen, beschließe ich, es vorerst gut sein zu lassen. Ich möchte diese neu gewonnene Zeit mit Enna einfach nur genießen.

Eine Weile sehen wir uns an, die letzten Meter zu ihrer Wohnung laufen wir schweigend nebeneinanderher. Doch es ist kein bedrückendes, sondern ein sehr angenehmes Schweigen.

Irgendwann bleibt Enna stehen und deutet mit der Hand auf ein kleines Wohnhaus. »Hier muss ich rein«, sagt sie. »Danke, dass du mich begleitet hast.«

»Sehr gern.«

»Und danke, dass du mir zugehört hast.«

Ich schaue ihr fest in die Augen. »Immer.«

In ihrer Handtasche kramt sie nach ihrem Hausschlüssel. Ich bleibe stehen, bis ich mich vergewissert habe, dass sie wohlbehalten in ihrer Wohnung angekommen ist. Mira hat mir erzählt, dass Enna ebenfalls im Dachgeschoss wohnt, also warte ich, bis ich in einem der kleinen Fenster ganz oben das Licht angehen sehe. Als hätte sie geahnt, dass ich noch immer hier unten stehe, sieht Enna aus dem Fenster zu mir runter und winkt mir noch einmal zum Abschied. Ich winke zurück, drehe mich um und laufe in Richtung WG davon.

Während ich die Straßen von Starfall entlanggehe, breitet sich ein Gefühl in mir aus, das ich zum letzten Mal vor etwa fünf Jahren verspürt habe. Obwohl wir uns eben erst verabschiedet haben, vermisse ich Enna schon jetzt.

Als ich versuche, diesem Gefühl einen Namen zu geben, fällt mir nur ein passender ein.

Sehnsucht.

Fünf Jahre zuvor — 2015, Februar

Ich sitze auf dem Boden meines mittlerweile leeren Zimmers. Die Wand vor mir, die bis gestern noch in einem hellen Blau gestrichen war, ist nun wieder weiß — genau wie an dem Tag, an dem wir damals in dieses Haus gezogen sind.

Mum und Dad räumen schon seit einer Stunde die Umzugskartons in den Transporter vor unserem Haus. Gerade sind sie in der Küche und schreien sich an. Mal wieder. Ich setze mir meine Kopfhörer auf und schalte eine meiner Playlists auf dem Handy auf volle Lautstärke. Ich bin es leid, den beiden beim Streiten zuzuhören.

Es fing damit an, dass sie sich immer dann anschrien, wenn ich im Bett lag. Wahrscheinlich glaubten sie, dass ich sie nicht hören könnte, weil ich schlief, denn vor mir stritten sie sich nie. Immer nur heimlich. Doch seit einigen Monaten ist es schlimmer geworden. Ich wurde älter und irgendwann machte es den beiden auch nicht mehr viel aus, sich direkt vor mir zu streiten.

Doch seit dem Unfall zoffen sie sich ständig — und ich bin schuld daran. Vielleicht hätten die beiden ihre Probleme klären können und wieder zueinandergefunden, wenn ich nicht so blöd und egoistisch gewesen wäre. Bestimmt hätten sie sich irgendwann wieder vertragen und wir hätten weiterhin in unserem Haus leben können. Ich hätte meine beste Freundin weiterhin sehen können.

Enna. Ich vermisse sie so sehr.

Seit Wochen habe ich sie nicht mehr gesehen. Enna hat ihre Mum verloren und ich kann nicht für sie da sein. Nie wieder kann ich das.

Irgendwann legen sich zwei Hände auf meine Schultern. Ich nehme die Kopfhörer von meinen Ohren. Mum steht hinter mir und schaut mich aus unendlich traurigen Augen an. »Es ist Zeit, Finn.«

Ich stehe auf, und dann stehen wir im Flur des Obergeschosses.

»Warum habt ihr euch gestritten?«, frage ich sie.

»Das war kein Streit. Dein Dad und ich mussten nur über etwas diskutieren.«

Wie immer redet sie sich raus und lügt mich an, als wäre ich noch immer der kleine Junge, der nichts versteht.

Mum schnappt sich in der Küche einen der letzten Kartons, dann zieht sie die rote Haustür hinter uns zu. Dad nimmt Mum den großen Karton aus der Hand, schafft ihn zum Umzugswagen, stellt ihn zu den anderen und wirft dann mit einem lauten Krachen die große Klappe zu.

Die beiden werfen einen letzten Blick auf unser Haus. Als ich die Trauer in ihren Augen sehe, kann ich die Frage nicht mehr zurückhalten, die ich ihnen schon so lange stellen will.

»Bin ich schuld an euren ständigen Streitereien?«

Überrascht blicken meine Eltern sich an, und in diesem Moment scheint ihnen der Streit von eben nicht mehr so wichtig zu sein. Mum legt ihre Hand auf meine rechte und Dad seine auf meine linke Schulter.

»Du bist nicht schuld daran, Finn.« Ernst sieht Mum mich an.

»Es tut uns sehr leid, dass du unseren Streit bemerkt hast. Aber du bist nicht dafür verantwortlich«, stimmt Dad ihr nickend zu.

Ich glaube den beiden, dass sie ehrlich zu mir sind. Und doch ist für mich klar, dass wir nur meinetwegen ausziehen. Nur ich trage die Verantwortung dafür, dass wir nicht länger hierbleiben können.

Doch all das behalte ich für mich. Stattdessen nicke ich und laufe zum Umzugswagen.

Ein letztes Mal drehe ich mich zu unserem Haus um. Dann schaue ich zu dem Baum hinüber, den ich so viele Male hochgeklettert bin, um meine beste Freundin zu besuchen. Enna steht an ihrem Fenster und beobachtet uns. Ich würde sie so gern umarmen und ihr sagen, wie unfassbar leid es mir tut. Dass ich nichts lieber getan hätte, als mit ihr auf dem Schulball zu tanzen, es aber einfach nicht konnte.

Doch ich kann es ihr nicht sagen. Ich darf es nicht. Ich würde alles nur noch schlimmer machen.

Also hebe ich nur meine Hand, um ihr zum Abschied zu winken. Enna winkt zurück und sieht dabei unglaublich traurig aus. Ob sie mich auch so sehr vermisst wie ich sie?

Ich bin kurz davor loszuheulen und möchte auf keinen Fall, dass sie mich dabei sieht. Also drehe ich mich um und laufe auf den Umzugswagen zu. Auf dem Weg dahin spüre ich Ennas Blick in meinem Rücken.

Nichts würde ich lieber tun, als mich noch einmal zu ihr umzudrehen.

Doch stattdessen steige ich zu meinen Eltern ins Auto.

Ich fühle mich wieder klein und hilflos.

Meine Tränen halte ich mit aller Kraft zurück.