»Schwarz oder rot?« Fragend sieht Mira mich an, während sie zwei Bügel vor sich ausstreckt.
Ich lege den Kopf schräg und versuche, mir meine Freundin in beiden Kleidern vorzustellen. Das schwarze reicht ihr bis knapp über die Knie und hat einen U-förmigen Ausschnitt. Es ist eher schlicht und schick. Das rote Kleid ist hingegen auffälliger. Am Ausschnitt ist es mit leichter Spitze besetzt. Außerdem ist es tailliert und fällt ab der Mitte locker bis zu den Knien, während das schwarze eher eng geschnitten ist. Mira dreht die Kleider um. Das schwarze Kleid hat einen hübschen Rückenausschnitt, doch die zarte Schleife, mit der das rote Kleid um die Hüfte festgebunden wird, überzeugt mich schließlich.
»Das rote«, antworte ich auf ihre Frage. »Es wird super aussehen zu deinen langen blonden Haaren.«
»Das rote also.« Mira dreht sich wieder zu ihrem Kleiderschrank um und hängt das schwarze Kleid zurück in ihre Sammlung. Sie besitzt unglaublich viele Kleider in den unterschiedlichsten Farben und Mustern. Ich bin fasziniert von ihrem großen Kleiderschrank.
Als ich vor etwa einer Stunde in der WG ankam, öffnete Mira mir freudestrahlend die Tür. Seit ich meinen Fuß über die Türschwelle gesetzt habe, hat sie bestimmt schon zehnmal wiederholt, wie sehr sie sich auf den heutigen Abend freut. Und obwohl ich noch immer Angst vor der Party habe, auf die wir später gehen werden, ist Miras Vorfreude auch ein bisschen ansteckend.
Als ich nach Starfall zog, nahm ich mir vor, mutiger zu sein. Ich habe wundervolle Freunde hier gefunden und möchte einfach einen unbeschwerten Abend mit ihnen verbringen. Und auch wenn ich schon weiß, dass es nicht einfach für mich werden wird, beschließe ich, mir nicht jetzt schon den Kopf über eine mögliche Panikattacke zu zerbrechen.
»Jetzt müssen wir nur noch ein passendes Kleid für dich finden«, reißt Mira mich aus meinen Gedanken.
Gestern trafen wir uns wieder in der Mittagspause, um zusammen zu essen. Dabei quatschten wir unter anderem über die heutige Party. Während Mira schon mindestens drei Ideen für potenzielle Outfits hatte, gestand ich ihr, dass mein Kleiderschrank eher eintönig ist. Meistens trage ich Jeans und Shirts, selten einen Rock oder eine Bluse. Kleider besitze ich so gut wie keine. Nur ein einzelnes hängt in meinem Schrank — Mums gelbes Lieblingskleid. Nach ihrem Tod habe ich es behalten. Ich wusste, dass sie es so gewollt hätte. Irgendwann möchte ich es auch tragen, doch dazu braucht es einen wirklich bedeutenden und besonderen Anlass — also definitiv nicht meine erste Collegeparty.
Mira schlug mir gestern vor, dass ich mir eines ihrer Kleider für den heutigen Abend leihen kann. Dankend nahm ich an, denn auf meiner ersten Veranstaltung hier in Starfall möchte ich hübsch aussehen. Normalerweise trage ich keine Kleider, doch heute ist kein normaler Tag, also werde ich etwas wagen.
»Lässt du mir freie Hand oder möchtest du dich erst mal durch meinen Schrank wühlen?«, fragt Mira mich.
»Ich vertraue deinem Modegeschmack mehr als meinem. Also leg los!« Grinsend beginnt sie, ihre vielen Kleider auf der Stange hin- und herzuschieben.
Während Mira nach einem passenden Teil für mich sucht, nutze ich die Zeit, mich noch einmal ganz in Ruhe in ihrem Zimmer umzuschauen. Vorhin hat sie mir erzählt, dass die Jungs ihr damals beim Einzug freiwillig das größte Zimmer überließen. Wenn ich mich jetzt hier so umsehe, scheinen Finn und Jase mit ihrer Entscheidung alles richtig gemacht zu haben.
Kommt man zur Tür herein, füllt auf der linken Seite Miras großer Kleiderschrank die komplette Ecke aus. Geradeaus steht ihr großes Bett vor einem riesigen Fenster, die Wand ist in einem warmen Braunton gestrichen. An der rechten Wand steht ein großer Schreibtisch und daneben ein kleines Bücherregal. Bisher hatte ich noch keine Zeit, mir die Bücher in Ruhe anzuschauen, also knie ich mich jetzt vor das flache Regal. Mit meinen Fingern streiche ich vorsichtig über die Buchrücken. Die meisten Bücher sind Leseausgaben, wahrscheinlich noch aus Miras Schulzeit. Darunter finde ich Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger und auch Unterwegs, eines meiner Lieblingsbücher von Jack Kerouac. Ich entdecke zudem einige Gesetzestexte, wahrscheinlich für ihr Studium, neben den Romanen.
Ich erhebe mich aus meiner Hocke und lasse meinen Blick nun über die vielen Fotos an Miras großer Pinnwand wandern, die über ihrem Schreibtisch an der Wand befestigt ist. Die meisten zeigen sie und Jase. Auf einigen Fotos sind die beiden noch klein und schon damals waren sie wie aus einem Gesicht geschnitten. Doch es sind auch aktuellere dabei, die die Zwillinge bei ihrem Abschluss zeigen. Auf einem der Bilder stehen sie lächelnd zwischen einem Mann mit Glatze und einer Frau mit kurzen blonden Haaren, von denen ich annehme, dass es die Eltern der beiden sind.
Schließlich fällt mein Blick auf ein Selfie der beiden gemeinsam mit Finn, der das Handy vor sich ausstreckt. Alle drei grinsen in die Kamera und sehen wahnsinnig glücklich aus. Im Hintergrund meine ich, das Wohnzimmer aus dieser Wohnung zu erkennen, allerdings ohne Möbel und mit einer kahlen Wand.
»Das ist ein tolles Foto«, sage ich zu Mira, meinen Blick dabei aber noch immer auf das Foto an der Wand gerichtet.
Ich höre ihre Schritte auf dem Parkett, als sie zu mir kommt und sich hinter mich stellt, um mir über die Schulter zu schauen.
»Es ist eins meiner Lieblingsfotos mit den Jungs. Es entstand an unserem Einzugstag.«
»Wie schön.« Lächelnd betrachte ich weiterhin das Foto, während Mira ihren Kopf auf meine Schulter legt.
»Ich habe das perfekte Kleid für dich gefunden«, murmelt sie nach einigen Sekunden bedächtig.
Lächelnd drehe ich mich zu ihr um. »Wirklich?«
Sie nickt. Die Arme hat sie hinter dem Rücken versteckt. Ich versuche, an ihr vorbeizuschielen, doch sie lässt mir keine Chance, das Kleid zu sehen.
»Zeig es mir!«
»Es ist eines dieser Kleider, die man einfach angezogen sehen muss. Glaub mir!« Mit einem Funkeln in den Augen sieht sie mich an. »Wir machen es anders. Dreh dich um.«
Stumm komme ich ihrer Aufforderung nach und drehe mich wieder zur Wand. Ich höre, wie Mira zum Kleiderschrank zurückgeht, dann erlöst sie mich.
»Du kannst dich wieder umdrehen.«
Ich tue wie geheißen, kann das Kleid aber nirgendwo sehen. Fragend hebe ich eine meiner Augenbrauen in die Höhe.
Mira lacht. »Wir kümmern uns jetzt erst mal um dein Make-up und deine Haare. Dann wirst du deine hübschen Bambiaugen schließen, während ich dir das Kleid anziehe.«
»Und dann laufe ich mit geschlossenen Augen zur Party?«, frage ich sie lachend.
»Quatsch! Wobei die Vorstellung wirklich interessant ist ...«
»Mira!«, rufe ich warnend.
»Ich mache doch nur Spaß. Natürlich darfst du dich dann im Spiegel anschauen.« Mira lächelt. »Das ist deine erste Studentenparty. Die ist immer etwas ganz Besonderes.«
»Auch für Stubenhocker wie mich?« Zweifelnd sehe ich sie an.
»Besonders für Stubenhocker wie dich.« Kurz überlege ich, ihr den wahren Grund dafür zu nennen, weshalb ich mir so große Sorgen über diese Party mache. Doch schon beim Gedanken daran wird mir mulmig zumute. Ich vertraue Mira und ich kenne sie bereits gut genug, um zu wissen, dass sie mich nie verurteilen würde. Dennoch entscheide ich mich dafür, meine Ängste zunächst noch nicht mit ihr zu teilen. Dafür ist die Stimmung gerade viel zu unbeschwert.
In der darauffolgenden Stunde übergebe ich Mira das Zepter. Sie schminkt zuerst mich und anschließend sich selbst. Zufrieden betrachtet sie sich im Spiegel. Ich will es ihr gleichtun.
»Ha! Nein! Bleibst du wohl sitzen!« Sie steht vor mir, die Hände in die Hüften gestützt. »Ich werde dir jetzt noch leichte Locken zaubern, dann ziehen wir dir dein Kleid an und dann darfst du dich anschauen.«
Ich gebe mich geschlagen und beschäftige mich mit meinem Handy, während Mira ihren Lockenstab vorheizt und mit ihren Händen auf meinem Kopf herumfummelt. Da mein Dad so ziemlich der einzige Mensch ist, mit dem ich regelmäßig schreibe, habe ich keine einzige Nachricht. Abgesehen von meinem Instagram-Profil, auf dem ich höchstens einmal im Monat ein Foto poste, bin ich nicht in den sozialen Medien unterwegs. Da stecke ich meine Nase lieber in Bücher.
Dennoch logge ich mich nun kurz in meinen Account ein, um nach neuen Nachrichten oder Kommentaren zu schauen. Mein letztes Bild stammt noch von der Zeit vor meinem Umzug. Dad hat es aufgenommen, als wir vergangenen Monat spazieren waren. Es hat geregnet an diesem Tag, doch wir wollten es uns nicht nehmen lassen, eine Runde zu gehen. Dad hat das Foto heimlich geschossen, als ich gerade abgelenkt war. Darauf zu sehen bin ich in meinem dunkelgrünen Regenmantel. Ich trage schwarze Gummistiefel und halte meinen gepunkteten Regenschirm schützend über mich, während ich beim Laufen lächelnd auf meine Schuhspitzen schaue. Ich liebe das Foto, vor allem deshalb, weil es nicht gestellt ist. Es entstand spontan und aus einem wundervollen Moment heraus.
Ich klicke auf das Foto und stelle fest, dass ich einen neuen Kommentar darunter bekommen habe.
99attacker: Kannst du mit dem Schirm auch fliegen? :D
Mir entweicht ein verwirrtes »Hä?«.
»Was ist los?«, fragt Mira mich, während sie die nächste Haarsträhne um den Lockenstab wickelt.
»Ich habe einen Kommentar bei Instagram bekommen. Da scheint wohl jemand Mary Poppins gelesen zu haben.« Noch immer verwirrt betrachte ich mein Foto. Natürlich ist mir die Anspielung des Kommentars auf mein Lieblingsbuch nicht entgangen.
Mira löst die Strähne vom Lockenstab und lässt sie zurück auf meinen Rücken fallen, dann beugt sie sich über mich, um auf mein Handy zu linsen.
Kurz darauf lacht sie. »Das ist Jase.«
Lächelnd tippe ich eine Antwort in das Kommentarfeld unter meinem Posting.
ennawlsn: Na klar! Mein Name ist Enna Poppins.
Hinter meine Nachricht setze ich noch drei Regenschirm-Emojis, dann fällt mein Blick auf Jasons Account-Namen.
»Warum hat er diesen Namen ausgewählt?«
»Jase steht total auf diese Band. Wie heißen die noch gleich?«, kurz überlegt sie. »Irgendwas mit Mars ...«
»Thirty Seconds to Mars?«, frage ich sie.
»Genau die. Jase Lieblingssong heißt ›Attack‹.« Mira zieht eine letzte Haarsträhne vom Lockenstab, dann schaltet sie ihn ab und läuft einmal um mich herum. Dabei fährt sie mir immer wieder an den verschiedensten Stellen durch die Haare, bis sie vor mir stehen bleibt.
Ein zufriedener Ausdruck legt sich auf ihr Gesicht. »Du siehst wunderschön aus, Enna.«
Ich merke, wie meine Wangen warm werden, und hoffe, dass Mira genug Make-up aufgetragen hat, um mein Erröten zu kaschieren.
»Danke.« Ich lächle sie an.
Während Mira sich anschließend um ihre eigene Frisur kümmert, durchstöbere ich Jasons Instagram-Account. Ich klicke mich durch seine Fotos, unter denen ich viele mit einer Gitarre und Songtexten finde. Die meisten seiner Fotos sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen, zeigen tolle Perspektiven und haben eine hervorragende Qualität.
»Jasons Fotos sind der Wahnsinn«, sage ich zu Mira, während ich mich weiter durch sein Profil scrolle.
»Die meisten davon hat Finn gemacht.«
»Wirklich?« Interessiert schaue ich von meinem Handy zu Mira auf.
Sie nickt. »Finn ist häufiger mal mit seiner Kamera unterwegs und auch hier in der WG macht er öfter mal Fotos, unter anderem auch für Rachel oder Jase. Er hat wirklich Talent.«
»Das wusste ich noch gar nicht.«
»Wenn du diese Fotos schon toll findest, dann schau unbedingt mal auf seinem eigenen Account vorbei. Dort postet er ...«
Mitten in Miras Satz wird die Tür aufgerissen ohne ein vorheriges Anklopfen. Erschrocken fahren wir beide herum. Jason streckt seinen Kopf zur Tür herein.
»Seid ihr langsam mal fertig?«
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du anklopfen sollst, bevor du in mein Zimmer kommst? Wir hätten nackt sein können!«
Jason lacht. »Schwesterherz, da würde mich nichts erwarten, was ich nicht schon kenne.« Er wendet sich mir zu. »Bei uns beiden hingegen wäre es wahrscheinlich unangenehmer ...«
Weiter kommt er nicht, denn Mira hat sich eine große Haarklammer gegriffen, die sie nun mit viel Schwung auf ihren Bruder wirft.
»Kein Grund, gleich gewalttätig zu werden!«
Ich stimme in sein Lachen mit ein und irgendwann muss auch Mira grinsen. »Wir sind fast fertig. Gebt uns noch zehn Minuten, dann können wir los.«
»Alles klar.« Jason verlässt das Zimmer.
Mira steckt eine letzte Strähne mit einer Haarnadel an ihrem Kopf fest. Ihre langen blonden Haare hat sie leicht gewellt und die vordere Strähne auf einer Seite eingedreht seitlich festgeklemmt.
Ich lobe sie für ihre Frisur, dann räumen wir ihre ganzen Schmink- und Haarutensilien wieder auf, bevor wir unsere Kleider anziehen. Mira schlüpft zuerst in ihres und als sie es trägt, weiß ich, dass das rote Kleid definitiv die richtige Wahl für sie war — sie sieht einfach zauberhaft darin aus. Mit geschlossenen Augen lasse ich mir von Mira in mein eigenes Kleid helfen. Mehrmals kippe ich fast um bei dem Versuch, blind in das Kleid hineinzusteigen, doch schließlich gelingt es uns, mich irgendwie in den Stoff zu manövrieren.
Mira schließt vorsichtig den Reißverschluss. Dann schiebt sie mich sachte einige Meter durch ihr Zimmer, bis wir vor ihrem großen Spiegel stehen.
»Bist du bereit?«
Ich nicke zögerlich.
»Dann darfst du die Augen jetzt aufmachen.«
Vorsichtig öffne ich erst mein rechtes und dann mein linkes Auge. Bei meinem eigenen Anblick im Spiegel bleibt mir beinahe das Herz stehen.
Ich bin keine Frau, die sich in ihrem Körper unwohl fühlt. Natürlich gibt es auch bei mir die eine oder andere Zone, die ich gern kaschieren würde, wenn ich es könnte, aber generell fühle ich mich wohl. Doch dass ich mich wirklich schön gefühlt habe, ist schon eine ganze Weile her.
Meine braunen Haare fallen mir in sanften Locken auf die Schultern. Mira hat mir ein leichtes Make-up aufgetragen, das wirklich gut zu mir passt. Es ist nicht zu aufdringlich, dennoch schmeichelt es meinem Gesicht. Auf meinen Augenlidern hat sie einen leicht goldenen Lidschatten aufgetragen, den man aber nur bei genauerem Hinsehen erkennen kann. Meine Lippen werden durch einen dunkelroten Lippenstift hervorgehoben, der zwar sehr auffällig ist, mir aber dennoch unglaublich gut steht.
Das Highlight meines Spiegelbildes ist aber das Kleid, das Mira für mich ausgesucht hat. Es besteht aus einem dunkelgrünen Stoff, der sich sanft an meine Brust schmiegt, an der Taille etwas enger sitzt und dann locker nach unten fällt. Das Kleid reicht mir bis knapp über die Knie, hat kurze Ärmel und einen eckigen Ausschnitt, der nicht zu hochgeschlossen, aber auch nicht zu tief ist. Mit meinen Händen streiche ich behutsam über den unglaublich weichen Stoff. Das Kleid ist nicht auffällig, aber dennoch einzigartig.
Mein Blick fällt schließlich auf Mira, die grinsend hinter mir steht und mich erwartungsvoll ansieht. »Gefällt es dir?«
Ich drehe mich zu ihr um und schließe sie vor lauter Freude in meine Arme. »Es ist unglaublich. Dankeschön.«
Schon nach so kurzer Zeit scheint Mira mich wahnsinnig gut zu kennen.
»Gern geschehen«, sagt meine Freundin und löst sich dann vorsichtig von mir. »Eines fehlt noch.«
Mira zieht ein paar Schuhe aus dem Kleiderschrank. Es sind schwarze Boots, die bequem und dennoch elegant aussehen.
»Die passen super zum Kleid. Außerdem sind sie flach. Glaub mir, du wirst mir später dafür danken.« Mira lächelt mich an und greift nach einem weiteren Paar schwarzer Stiefel für sich.
»Woher weißt du, dass wir die gleiche Schuhgröße haben?«
»Ich habe einfach ein Auge dafür. Außerdem haben wir ungefähr die gleiche Körpergröße.«
Ich werfe ihr einen anerkennenden Blick zu, dann schlüpfe ich in das Paar Schuhe. Mira tut es mir gleich.
Ein letztes Mal werfe ich einen Blick in den Spiegel. Meine Freundin stellt sich neben mich und zückt ihr Handy, um ein Foto von uns zu machen. Wir grinsen in die Kamera, als Mira den Auslöser drückt. Sie hat einen Arm um mich geschlungen und ich meinen Kopf an ihren gelehnt. Hätten wir Flügel, dann würden wir in diesem Moment aussehen wie zwei Elfen, nur ohne all den Glitzer, der sie in Filmen und Geschichten immer umgibt.
»Ich danke dir«, flüstere ich ihr zu, als wir uns das Foto anschauen, und hoffe, sie weiß, dass ich damit nicht nur das tolle Kleid meine, das ich heute tragen darf.
In diesem Moment durchströmt mich eine Welle des Glücks darüber, dass ich in Mira eine wahre Freundin gefunden habe. Obwohl ich mich schlecht dabei fühle, vergleiche ich unsere Bindung mit der, die ich mit Hanna habe. Ich stelle fest, dass ich mich Mira schon nach der vergleichsweise kurzen Zeit, die wir uns kennen, näher fühle als Hanna, mit der ich bereits seit vier Jahren befreundet bin. Trotz des schlechten Gewissens erlaube ich mir, so zu fühlen. Ich darf glücklich sein.
Wir greifen nach unseren Handtaschen und verlassen dann Miras Zimmer. In der Küche treffen wir auf Rachel, die ein eng anliegendes schwarzes Kleid trägt. An die Kücheninsel gelehnt, tippt sie auf ihrem Handy herum und wackelt ungeduldig mit dem Fuß. Jase stellt auf der Terrasse die Stühle zusammen, auf denen wir noch vor einigen Stunden gesessen haben.
»Wir wären dann so weit!«, ruft Mira in die Runde.
Während Rachel uns gar nicht wahrzunehmen scheint, kommt Jason ins Wohnzimmer und zieht die Terrassentür hinter sich zu.
Er kommt zu uns und schaut zunächst Mira an. »Schwesterherz, du siehst wie immer zauberhaft aus«, lobt er sie, woraufhin sie sich lachend verbeugt.
Dann wandert Jasons Blick zu mir. Er betrachtet mich einmal von oben bis unten und stößt einen anerkennenden Pfiff aus. Ich muss lachen und habe gleichzeitig das Gefühl, dass meine Wangen glühen.
»Du siehst wirklich hübsch aus, Enna.«
»Danke. Das ist das Meisterwerk deiner Schwester.«
Ich werfe einen Blick zu Rachel, die noch immer nicht von ihrem Smartphone aufschaut. Irgendwie bezweifle ich, dass sie überhaupt Notiz von uns genommen hat, seit wir den Raum betreten haben.
Wir drei laufen zur Garderobe, um unsere Jacken zu holen.
»Sagst du Finn Bescheid, dass es losgeht?«, bittet Jason mich.
Ich nicke. »Klar.«
Mira und Jason werfen sich ihre Jacken über, während ich zu Finns Zimmer laufe. Die Tür steht offen, also spähe ich unsicher hinein.
Das Licht ist ausgeschaltet und mittlerweile ist es schon so dunkel draußen, dass man auch hier drinnen nichts mehr erkennen kann.
»Finn?«, frage ich vorsichtig in die Dunkelheit hinein.
»Komm rein«, fordert er mich auf. Das Licht geht an.
Finn sitzt auf einem kleinen Hocker vor seinem Fenster, direkt neben ihm steht ein großes Fernrohr. Kurz schaue ich mich in seinem Zimmer um, das ich nun zum ersten Mal sehe.
Links steht ein großes Bett, über dem ein riesiges Poster eines Sternenhimmels hängt. Immer wieder sind mehrere Sterne durch zarte Linien miteinander verbunden, sodass alle Sternbilder auf dem Poster zu sehen sind. An der rechten Wand des Raumes, die in einem dunklen Blauton gestrichen ist, stehen ein Kleiderschrank und Finns Schreibtisch, auf dem sich mehrere Unterlagen stapeln. Der Boden ist mit einem dunkelbraunen Laminat ausgelegt, in der Mitte liegt ein flauschiger Teppich.
»Wow«, entfährt es mir unbeabsichtigt. Dieses Zimmer ist wirklich wunderschön.
»Wow trifft es ziemlich gut«, sagt Finn, wobei sein Blick aber nicht wie meiner durch das Zimmer wandert, sondern ruhig auf mir liegt. »Du siehst wahnsinnig hübsch aus, Enna.«
Finn lässt seinen Blick über mich wandern, bis er meinen Blick mit seinen Augen wieder einfängt.
Sofort merke ich, wie meine Wangen warm werden, doch diesmal scheinen sie regelrecht zu brennen, und dieses Gefühl breitet sich augenblicklich in meinem gesamten Körper aus. »Danke«, murmle ich nur.
Nun betrachte auch ich ihn. Finn trägt eine dunkelblaue Jeans und dazu ein weißes Shirt, unter dem sich seine Bauchmuskeln abzeichnen. Ich frage mich, ob er gern Sport treibt. Früher war er jedenfalls ein richtiger Wirbelwind und kaum zu bremsen, was sich scheinbar nicht geändert hat, sonst wäre er sicher nicht so muskulös gebaut. Er gefällt mir. Sehr sogar. Über dem Shirt trägt er eine schwarze Strickjacke mit Kapuze, die sein Outfit noch lässiger wirken lässt.
»Du siehst aber auch nicht schlecht aus.« Schmunzelnd sehe ich ihn an, dann fällt mein Blick wieder auf das Fernrohr neben ihm. »Hast du dir die Sterne angeschaut?«
Er nickt. »Das mache ich jeden Abend, wenn es das Wetter zulässt, und auch heute wollte ich es mir nicht nehmen lassen. Magst du mal durchschauen?« Fragend sieht er mich an.
»Ich glaube, die anderen wollen wirklich los ...«
»Quatsch. Die fünf Minuten haben wir noch. Komm her!«
Finn winkt mich zu sich. Er steht von seinem Hocker auf und bedeutet mir, darauf Platz zu nehmen. Ich setze mich hin und kurz darauf schaltet Finn das Licht wieder aus und lehnt die Tür an, sodass es beinahe komplett dunkel im Raum ist. Nur das Licht aus dem Flur wirft eine helle Linie auf den Zimmerboden.
»Was muss ich machen?«, frage ich ihn unsicher. Ich möchte keine Einstellung zerstören oder etwas kaputt machen, immerhin saß ich noch nie vor einem Fernrohr und dieses hier sieht aus, als wäre es teuer gewesen.
Er kniet sich hinter mich und umschließt meine Hände mit seinen. Sofort breitet sich eine angenehme Wärme in mir aus. Es ist genau die gleiche, die ich auch bei unserem Spaziergang verspürt habe, als er mich im Arm hielt.
Finn legt meine Hände um das Fernrohr. »Du legst deine Hände hierhin und schaust dann einfach vorn durch das Guckloch. Ich habe schon alles eingestellt, du brauchst also einfach nur durchschauen.«
Vorsichtig beuge ich mich nach vorn und werfe einen Blick durch das Fernrohr. Was ich sehe, raubt mir beinahe den Atem.
Der dunkle Abendhimmel liegt über der Welt und mitten in diesem dunklen Blau leuchten die Sterne. Manche sind etwas heller als die anderen, es gibt kleine Sternengrüppchen und auch vereinzelte Sterne. Das Bild, das sich mir bietet, lässt eine angenehme Ruhe in mir zurück. Ich meine, den Großen Wagen zu entdecken, eins der Sternbilder, die Finn mir früher gezeigt hat und das mir in Erinnerung geblieben ist.
»Das ist der Wahnsinn, Finn«, flüstere ich.
»Das ist es.« Er ist mir so nah, dass ich seinen warmen Atem an meinem Hals spüren kann.
Langsam löse ich mich vom Fernrohr und drehe mich zu Finn um. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Noch immer kniet er hinter mir und noch immer umschließen seine Hände meine. Ich verliere mich in dem warmen Grün seiner Augen und auch er schaut mich durchdringend an. Wir schweigen und dennoch habe ich das Gefühl, dass es so viele Worte gibt, die wir beide sagen wollen.
Dieser innige Moment wird von Miras lautem Rufen unterbrochen.
»Enna, Finn, kommt ihr?« Wir zucken beide auseinander, als hätten wir etwas Verbotenes getan, und beinahe fühlt es sich auch so an.
Wenn Finn mir in die Augen schaut, habe ich das Gefühl, als könnte er direkt in mich hineinsehen. Als würde er all die Worte, die durch meinen Kopf wandern, in meinem Blick lesen können. Es ist ein wahnsinnig intimes Gefühl, wenn unsere Blicke sich begegnen — viel intimer als früher.
»Wir kommen!«, ruft Finn.
Wir erheben uns und ich streiche mein Kleid glatt, bevor wir gemeinsam das Zimmer verlassen. Finn zieht seine Zimmertür hinter sich zu und wir gehen zu den anderen, die bereits im Flur warten.
Rachel wirft mir einen Blick zu, in dem ich meine, leichte Unsicherheit und Eifersucht zu erkennen. Sofort bekomme ich wieder das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, obwohl ich weiß, dass nichts Schlimmes geschehen ist. Schnell schaue ich zu Mira, die im Gegensatz zu Finns Freundin lächelt.
»Bist du bereit für deine erste Party in Starfall?«, fragt sie mich.
»Ich denke schon«, antworte ich und spüre, wie sich der Mut langsam in mir ausbreitet.
»Alter, ist das heute voll hier«, spricht Jason genau meinen Gedanken aus, als wir das Stardust betreten.
Die Schlange vor dem Club, die wir nun endlich hinter uns gelassen haben, war wirklich lang. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis die Security am Eingang alle Personalausweise kontrolliert hatte, um ihre Stempel zu verteilen. Einen roten gab es für die unter Einundzwanzigjährigen, so auch für mich, die keinen Alkohol trinken dürfen. Alle anderen tragen einen grünen Stempel, ebenso meine Freunde. Der Club scheint wirklich gut organisiert zu sein, was mir zumindest ein erstes kleines Gefühl von Sicherheit vermittelt.
Nun stehen wir im Inneren des Clubs. Während die anderen schon nach einer freien Sitznische für uns suchen, gehe ich langsamer, schaue mich interessiert, aber auch etwas nervös um. Direkt vor uns streckt sich eine lange Bar über die gesamte Breite der Wand. Darüber wurden immer wieder vereinzelte schwarze Sterne an die weiße Wand gemalt, davor liegt eine große Tanzfläche, auf der bereits die ersten Leute zu einem Song von Dua Lipa tanzen.
Um die Tanzfläche herum verteilen sich viele Sitznischen, an der Bar stehen außerdem vereinzelte Stehtische, an denen sich einige Studenten unterhalten, vor sich ihre Getränke auf dem Tisch. Die Stimmung ist schon jetzt sehr ausgelassen.
»Dort drüben!«, ruft Jason uns schließlich zu und deutet auf eine der nur noch wenigen freien Nischen. Meine Freunde setzen sich in Bewegung, doch ich bleibe noch einen Augenblick stehen, um mich auf die Menschenmasse vorzubereiten, durch die ich gleich laufen muss, um unsere Ecke zu erreichen. In mir macht sich Enttäuschung darüber breit, dass schon jetzt leichte Angst in mir aufkommt, obwohl der Abend noch nicht mal richtig begonnen hat.
Während sich die anderen durch die tanzende Menge einen Weg zu unserem Tisch bahnen, bemerkt Finn, dass ich mich noch immer nicht in Bewegung gesetzt habe. Er dreht sich zu mir um und kommt dann die wenigen Schritte, die er bereits gegangen ist, wieder zu mir zurück.
»Ist alles okay?«, fragt er mich besorgt.
Ich nicke. »Es ist nur etwas voll hier.« Mein Blick fällt wieder auf die tanzende Menge, während ich versuche, meine Atmung zu beruhigen. Ich atme tief ein und wieder aus, doch es gelingt mir kaum, meinen rasenden Puls zu senken.
Verständnisvoll blickt Finn mich an. »Deshalb hast du so gezögert, als ich dich gefragt habe, ob du uns begleiten möchtest.«
Wieder nicke ich, diesmal etwas verunsicherter.
»Wir können gehen, Enna. Jederzeit. Ich bringe dich auch nach Hause ...«
»Nein!«, falle ich ihm ins Wort.
Ich habe mir fest vorgenommen, diesen Abend zu genießen. Es wäre naiv anzunehmen, dass meine Ängste mir heute fernbleiben, doch ich möchte zumindest versuchen, etwas Spaß zu haben. Mit meinen Freunden. Ich möchte bei ihnen sein, mich einfach fallenlassen.
»Ich schaffe das.« In meinen Blick, den ich Finn zuwerfe, versuche ich, all den Mut zu legen, den ich gerade in mir zusammenkratzen kann.
Kurz scheint er zu überlegen, ob er meinen Worten Glauben schenken kann, dann geht er um mich herum und legt seine Hände auf meine Schulter.
»Ich versuche, dich ein bisschen abzuschirmen. Einverstanden?«
»Guter Plan«, antworte ich.
Wir setzen uns in Bewegung. Während wir uns über die Tanzfläche zu unseren Freunden kämpfen, lässt Finn mich nicht ein einziges Mal los. Ich versuche, mich auf die Wärme zu konzentrieren, die seine Hände auf meinen Schultern ausbreiten. Ein paarmal rempelt mich ein Tanzender leicht an, doch schließlich schaffen wir es ohne größere Probleme zu den anderen.
»Wo wart ihr denn so lange?«, fragt Mira.
»Wir sind mitten im Refrain von ›New Rules‹ durch die springende Menge gelaufen. Das ist kein Spaziergang, sondern ein Kampf«, antwortet Finn leichthin.
Ich bin ihm so dankbar dafür, dass er mich sicher bis hierher gebracht hat. Lächelnd blicke ich zu ihm. Er erwidert mein Lächeln und ich erkenne, dass er meinen Gedanken gelesen hat.
Wir schieben uns alle auf die Bank, die erstaunlich viel Platz bietet. Finn und Rachel sitzen Mira und mir gegenüber, Jason hat es sich dazwischen bequem gemacht. Ich bin froh darüber, am Rand zu sitzen, denn so habe ich das Gefühl, jederzeit flüchten zu können, wenn es mir doch zu viel wird. Auf Jasons Platz hinten in der Mitte hätte ich mich unwohl gefühlt, so eingequetscht zwischen den anderen.
»Ich gehe die erste Runde holen. Was wollt ihr trinken?«, fragt Finn uns.
»Wie immer«, antworten Jason und Mira gleichzeitig und lachen daraufhin.
»Ich nehme einen Tequila«, antwortet Rachel.
Finn nickt. »Und du, Enna?«
Kurz überlege ich. »Ich nehme eine Cola.«
Finn nickt und verschwindet gleich darauf in der tanzenden Menge, um sich zur Bar zu kämpfen.
»Schafft er es, die ganzen Getränke allein zu tragen?«, frage ich in die Runde.
»An der Bar kann man sich Tabletts wegnehmen«, erklärt Mira mir.
»Magst du nichts Alkoholisches, Enna?«, fragt Jason mich. »Die haben auch superleckere Cocktails ...«
Anstatt ihm zu antworten, halte ich ihm lächelnd meine Hand mit dem roten Stempelabdruck entgegen.
»Oh, Mann. Ich habe ganz vergessen, dass du erst neunzehn bist. Entschuldige. Du wirkst nur immer schon so erwachsen ...«
Mira schlägt ihrem Bruder auf den Arm. »Jase!«
Ich muss lachen. »Schon okay, Mira«, sage ich zu ihr, dann sehe ich wieder Jason an. »Ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment.«
»Warum haust du mich?«, fragt er Mira entsetzt. Sofort beginnen die beiden eine Diskussion miteinander, in die ich mich besser nicht einmische.
Mein Blick fällt auf Rachel, die mit ihrem Smartphone beschäftigt ist. Kurzerhand entschließe ich mich dazu, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Immerhin haben wir uns noch nie so richtig miteinander unterhalten.
»Meinst du, Finn schafft das wirklich allein?«, frage ich sie. Kurz hebt sie den Blick, um sich zu vergewissern, dass ich sie gerade angesprochen habe. Es scheint Rachel wirklich zu verwirren, dass ich sie in ein Gespräch verwickle.
»Klar«, antwortet sie knapp.
Ich nicke. »Seid ihr oft zusammen hier?«
»Ziemlich oft, ja.« Rachel macht keine Anstalten, ihr Handy wegzulegen.
»Was studierst du eigentlich?«
Sie legt ihr Handy nun doch vor sich auf den Tisch. Ich werfe einen kurzen Blick darauf. Sie schaute sich irgendein Video an, ohne Ton und mit Untertiteln.
»Medienmanagement.« Sie schaut mich an, als würde sie damit rechnen, dass ich blöd reagiere.
»Das klingt spannend«, antworte ich, was sie zu überraschen scheint. »Was möchtest du später damit machen?«
»Ich liebe Klamotten und würde gern in einer Modeagentur arbeiten, vielleicht im Marketing, weil ich auch gern fotografiere.« Rachel lächelt mich an. Plötzlich wird mir bewusst, dass dies das erste Lächeln von ihr ist, das ich bewusst wahrnehme. Zudem war das der längste Satz, den sie mir bisher geschenkt hat.
»Cool«, erwidere ich. »Du scheinst auch einen wirklich guten Geschmack zu haben. Dein Kleid ist richtig toll!«
»Danke«, sagt sie. So langsam kommen wir ins Gespräch. Sie scheint Träume zu haben, was sie mir sympathischer macht.
»Wenn du möchtest, kann ich dir gern mal eine kleine Beratung geben«, fügt sie an.
In Gedanken streiche ich die Sache mit dem sympathisch . Ich weiß, dass sie ihre Bemerkung nicht böse gemeint hat, dennoch war sie irgendwie verletzend. Mir gefällt mein Kleid aber noch immer supergut und Geschmäcker sind eben verschieden.
»Vielleicht, ja«, erwidere ich also nur.
Bevor die Situation noch unangenehmer werden kann, kommt Finn mit unseren Getränken und rettet damit die Situation. Augenblicklich hören auch Jason und Mira auf zu diskutieren. Er verteilt die Getränke und setzt sich wieder neben Rachel.
Wir stoßen auf einen schönen Abend an und nehmen alle einen Schluck. Mira und Jase haben sich beide einen Piña colada bestellt und seufzen beinahe gleichzeitig zufrieden auf. Als die kalte Cola meine Kehle hinunterläuft, bemerke ich erst, wie unglaublich warm es hier drinnen ist. Die Hitze trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhige. Sie scheint immer intensiver zu werden, der Geruch der Tanzenden um uns herum liegt in der Luft und sie scheinen mir immer näher zu kommen. Ich versuche, die Angst abzuschütteln, wende mich wieder meinen Freunden zu und konzentriere mich ganz auf unser Gespräch.
Eine Weile unterhalten wir uns über die Uni. Jason erzählt von seinem Musikstudium und einer neuen Gitarre, auf die er momentan spart.
»In einigen Wochen haben wir endlich unseren ersten Auftritt«, eröffnet uns Jason stolz.
»Spielst du in einer Band?«, frage ich ihn interessiert.
Seine Augen funkeln. »Ja, schon seit einigen Monaten.«
»Das ist ja toll!«
Ich finde es immer wieder schön, wenn ein Mensch eine Leidenschaft hat. Bei mir ist es die Literatur, die mich erfüllt, und bei Jason scheint es die Musik zu sein.
»Die Sound of the Stars sind wirklich super!« Mira klopft ihrem Bruder auf die Schulter. »Ich war bei einigen Proben dabei und durfte zuhören.«
»Was für ein geiler Name«, entfährt es mir vor lauter Begeisterung, woraufhin alle am Tisch lachen müssen. Alle außer Rachel, die wieder auf ihr Handy starrt. Finn hat über die Lehne seinen Arm um sie gelegt, doch das scheint sie gar nicht zu bemerken.
»Wie groß ist denn eure Band?«, frage ich Jason, um mich von dem Anblick Rachels in Finns Arm abzulenken.
»Wir sind drei Jungs», erklärt er mir. »Jonathan spielt Schlagzeug, Stephan singt und ich spiele Gitarre. Ab und zu übernehme ich auch den Gesangspart, wenn Stephan Keyboard spielt. Das kommt immer ganz auf die Songs an.«
»Schreibt ihr die Songs selbst?«, frage ich ihn.
Jason nickt. »Meistens schreibe ich sie, aber wir stimmen uns immer ab und jeder bringt seine Ideen ein.«
»Das klingt, als wärt ihr ein tolles Team«, stelle ich fest.
»Das sind wir.«
Während des Gesprächs mit meinen Freunden verschwindet meine Angst. Hier zu sitzen, gibt mir ein sicheres Gefühl. Wir sind etwas abgeschottet von der tanzenden Menschenmenge, was mir gerade recht ist.
Irgendwann zieht Jason sein Handy heraus und beginnt darauf herumzutippen, bis er mich grinsend ansieht. »Das will ich sehen«, sagt er zu mir.
Verwirrt schaue ich ihn an. »Was willst du sehen?«
»Na, wie du mit diesem Pünktchenschirm herumfliegst!« Er lacht.
Kurz überlege ich, doch dann macht es endlich klick in meinem Kopf. Er bezieht sich auf meine Reaktion bei Instagram.
»Bei der nächsten Gelegenheit werde ich es dir zeigen«, erwidere ich lachend.
Ich werfe einen Blick über den Tisch zu Finn, der sich angeregt mit Rachel unterhält. Wobei unterhalten in diesem Fall wohl ein falsch gewähltes Wort ist. Es sieht eher so aus, als würde Finn mit Rachel sprechen, die sich weiterhin nur auf ihr Handy konzentriert.
»Leg doch endlich mal das Ding weg«, spricht Jason genau in dieser Sekunde meinen Gedanken aus.
»Vergiss es. Das versuche ich ihr schon seit zehn Minuten zu sagen«, erwidert Finn leichthin. Ich frage mich, ob die anderen ihm seine gespielte Leichtigkeit abnehmen oder wie ich daran zweifeln.
Rachel kippt ihren Tequila in einem Zug herunter und schaut wieder auf ihr Smartphone.
Während ich mich weiter mit Jason und Mira unterhalte, werfe ich immer wieder einen Blick zur anderen Seite des Tisches. Langsam droht Finns Stimmung zu kippen, weil seine Freundin nur mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.
Irgendwann wechselt dann aber der Song und es erklingen die ersten Töne eines Remix von Selena Gomez Song »Wolves«. Rachel nutzt die Gelegenheit und zieht ihren Freund am Arm in ihre Richtung.
»Lass uns tanzen gehen! Ich liebe diesen Song!«, fordert sie ihn auf.
Finn schaut sie perplex an, lässt sich aber von ihr auf die Tanzfläche ziehen.
Die beiden bleiben eher am Rand, und sofort schlingt Rachel ihre Arme um Finns Hals. Sie beginnt, sich im Takt der Musik mit ihm zu wiegen. Als der Refrain einsetzt, zieht Rachel Finns Hände an ihrem Rücken etwas tiefer, sodass sie nun in der Mitte ihres unteren Rückens liegen. Auf der nackten Haut ihres Rückens, die ihr Kleid durch den tiefen Ausschnitt hinten freigibt. Irgendwann legt sie ihre Lippen auf seine, Rachels Hand wandert Finns Brust hinunter ...
»Enna!«, reißt Mira mich aus meinen Gedanken.
»Was?« Erschrocken fahre ich zu ihr herum.
»Du starrst , Enna.«
Jason sitzt nicht mehr bei uns, und ich sehe mich suchend nach ihm um. »Wo ist Jason hin?«
»Er holt uns noch etwas zu trinken. Und ich möchte diese Gelegenheit gern nutzen, um dich zu fragen, weshalb du Finn und Rachel eben tödliche Blicke zugeworfen hast.«
Verwirrt sehe ich sie an. »Meine Blicke waren nicht tödlich ...«
»Oh doch, Süße, das waren sie.« Miras Blick lässt keinen Raum für Einsprüche.
»Ich weiß nicht. Irgendwie ...«, beginne ich unsicher meine Erklärung.
Erwartungsvoll sieht Mira mich an.
»Rachel ist schon den ganzen Abend nur mit sich beschäftigt. Es tut mir einfach leid für Finn, dass sie ihn erst kaum beachtet, ihn dann aber einfach auf die Tanzfläche zerrt, ganz egal, ob er überhaupt Lust hat zu tanzen.« Das ist zumindest die halbe Wahrheit. Da ist noch ein Gefühl in mir, dem ich keinen Namen geben kann und das ich nicht mit meiner Freundin teilen will, weil es mich verunsichert.
Mira scheint meinen Worten Glauben zu schenken. »Das ist leider fast immer so«, erzählt sie mir. »Rachel ist einfach sehr ...«
»Ichbezogen?«, vollende ich ihren Satz fragend. Noch im selben Moment überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Ich kenne Rachel nicht genug, um über sie urteilen zu können. Doch ich kenne Finn. Ich kann klar erkennen, dass er nicht glücklich ist. Nicht aus vollem Herzen.
»Ja«, antwortet Mira. »Es ist kompliziert mit den beiden. Finn liegt viel an Rachel, doch manchmal habe ich das Gefühl ...«
Nickend ermutige ich sie weiterzusprechen.
»Ich kenne Finn. Er ist ein guter Freund von mir. Ich weiß, wie ein glücklicher Finn aussieht, und manchmal habe ich das Gefühl, dass dieses Glück verschwindet, wenn Rachel an seiner Seite ist.«
Mira teilt meine Gedanken also.
»Rachel ist kein schlechter Mensch«, fährt sie fort. »Sie ist auf ihre eigene Weise besonders. Scheinbar musste sie in ihrem Leben auch schon einige Hürden bewältigen. Aber wenn du mich fragst ...« Kurz macht Mira eine Pause und scheint über ihre nächsten Worte nachzudenken. »Die beiden passen nicht zueinander. Nicht mehr.«
»War das mal anders?« Ich nehme einen weiteren Schluck von meiner Cola.
»Zu Beginn, ja. Finn und Rachel waren wirklich gute Freunde. Sie haben sich an der Uni kennengelernt, bei einem gemeinsamen Fotografie-Projekt, für das sich die Studiengänge der zwei zusammentaten. Sie war schon immer sehr direkt und häufig auch distanziert zu uns, aber Finn und sie hat einiges verbunden. Die Liebe zum Fotografieren in erster Linie! Ich mochte sie am Anfang, bis sie anfing, sich zu verändern. Ihr Handy schien irgendwann zu ihrem besten Freund zu werden und Finn berichtete häufiger davon, dass die beiden gestritten haben.« Mira zuckt mit den Schultern. »Jase konnte Rachel von Anfang an nicht leiden.«
»Wirklich nicht?« Natürlich habe ich mitbekommen, dass Jase kein besonders großer Fan von Rachel ist. Dass das aber scheinbar schon immer so war, überrascht mich.
Mira schüttelt den Kopf. »Jase zieht Finn immer mit Rachel auf. Letztens erst ...«
Mitten im Satz hält Mira inne. Ihr Blick ist plötzlich ganz starr auf irgendetwas hinter mir gerichtet.
Ich drehe meinen Kopf, kann aber niemanden mir Bekanntes entdecken. Wie auch , schießt es mir durch den Kopf. Ich bin doch die Neue hier. Meinen Blick wieder auf Mira gerichtet, schnipse ich mit meinen Fingern vor ihrem Gesicht herum. »Mira?«
Noch immer starrt sie in Richtung des Eingangs, bis sich ihr Blick auf einmal krampfhaft auf die Nussschale in der Mitte des Tisches legt. Gerade will ich sie fragen, was auf einmal mit ihr los ist, als ich eine tiefe Stimme direkt neben mir höre.
»Hey, Mira.«
Ich hebe meinen Kopf, um den Typen anzuschauen, der nun neben uns steht. Er ist riesig, bestimmt fast zwei Meter groß. Gerade streicht er sich durch sein kurzes braunes Haar, wobei seine grauen Augen auf Mira gerichtet sind. Auf seinem erhobenen Arm erkenne ich mehrere Tattoos, in seiner anderen Hand hält er den Saum einer Lederjacke fest, die er sich locker über die Schulter geworfen hat.
Beinahe schüchtern erwidert Mira seinen Blick und kurz überlege ich, ob ich hier im falschen Film gelandet bin. Sonst bin doch ich die Schüchterne. Mira wirkt immer so, als könnte ihr nichts und niemand etwas anhaben. Sie ist unglaublich selbstsicher. Doch unter dem Blick dieses Typen scheint sie beinahe zu schmelzen. Ihre Wangen färben sich leicht rot, mit ihren Händen beginnt sie, die Nussschale hin und her zudrehen.
»Zac«, bringt sie schließlich hervor, dann räuspert sie sich. »Cool, dich hier zu sehen.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwidert er. Ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und langsam verstehe ich Miras Erröten — der Typ ist wahnsinnig gut aussehend. Allerdings scheint er sich dessen mehr als bewusst zu sein.
Miras Blick wandert von ihm wieder zu mir. »Zac, das ist meine Freundin Enna. Enna, das ist Zac«, stellt sie uns einander vor.
Der Typ streckt mir seine große Hand entgegen. »Hey, Enna. Bist du neu hier?«
»Hallo«, begrüße ich ihn. »Ja, ich bin vor Kurzem erst hergezogen.«
»Dann heiße ich dich herzlich willkommen in der Stadt der Sterne.« Wieder ein schelmisches Grinsen.
»Danke.« Zac ist zwar nicht mein Typ, dass er aber eine absolute Augenweide ist, kann ich nicht abstreiten.
Mit seiner Hand reibt er sich über seinen kurzen Bart. Gerade will er etwas sagen, als er von Jason unterbrochen wird, der ein Tablett mit neuen Getränken auf dem Tisch abstellt. Statt sich hinzusetzen, bleibt er neben Zac stehen.
»Was willst du hier?«, fragt er ihn forsch.
Verwirrt über die Wut, die in seiner Stimme mitschwingt, sehe ich fragend zu Mira. Doch sie scheint ganz auf die Konversation zwischen den beiden Jungs konzentriert zu sein, also tue ich es ihr gleich.
»Feiern. Immerhin steigt hier heute eine Party.«
Die beiden liefern sich ein kurzes Blickduell, bis dieses durch eine hohe weibliche Stimme unterbrochen wird.
»Kommst du endlich, Zac?«
Ich suche nach der Person, zu der das Rufen gehört, und entdecke einen Tisch voller Frauen im vorderen Bereich des Clubs. Eine davon hat kure rote Haare und ein verträumtes Lächeln im Gesicht, während sie Zac zu sich winkt. Gerade so viel kann ich erkennen, bevor sich die tanzende Menge wieder schließt und den Blick auf den anderen Tisch versperrt.
»Entschuldigt, Mädels. Ich werde dort drüben gebraucht.«
Ohne sich von Jason zu verabschieden, macht er auf dem Absatz kehrt und läuft zu der Sitzecke, in der er schon erwartet wird. Wir schauen ihm hinterher, bis er von den Tanzenden verschlungen wird.
Noch immer angespannt wirft Jason Mira einen Blick zu. »Was wollte der denn von dir?«
»Nur mal Hallo sagen.« Sie zuckt unbeteiligt mit ihren Schultern.
Jason scheint Mira ihr Desinteresse abzunehmen, doch ich kenne meine Freundin mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass mehr hinter der Sache steckt. Dass mehr hinter Zac und ihr steckt. Doch ich entscheide mich dafür, sie lieber mal in einer ruhigen Minute darauf anzusprechen, denn sie wirkt auf mich, als würde sie nicht wollen, dass wir das Thema vor ihrem Bruder genauer vertiefen.
»Okay. Ich frage mich wirklich, was dieser Vollidiot ...«, beginnt Jason, doch weit kommt er damit nicht.
Mira springt plötzlich auf. »Enna, wir gehen tanzen. Ich liebe diesen Song!«
Meine Freundin schaut mich flehend an.
»Ehm, Schwesterherz? Es läuft gerade Justin Bieber. Du hasst seine Musik.« Jason wirft seiner Schwester einen verwirrten Blick zu, den sie aber nicht sieht, weil sie mit dem Rücken zu ihm steht.
Noch immer sieht sie mich erwartungsvoll an und meine Gedanken beginnen Karussell zu fahren.
Ich möchte einfach nur sitzen bleiben. In unserer Ecke habe ich mich geschützt gefühlt, etwas abseits von der Menschenmasse. Dass ich mich nun genau in diese begeben soll, um mit Mira zu tanzen, lässt die Angst augenblicklich wieder in meinen Körper fahren. Ich kann mir in diesem Moment nichts Schlimmeres vorstellen, als auf diese Tanzfläche zu gehen und mich zwischen all die vielen Menschen zu quetschen.
Doch meine Freundin braucht mich jetzt. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, scheint sie mich stumm um etwas zu bitten, und dies möchte ich ihr nicht ausschlagen. Ich erinnere mich daran, dass ich heute Abend mutiger sein wollte.
Schließlich nicke ich zögernd.
Mira greift nach meiner Hand und zieht mich zur Tanzfläche.
Ich bemerke, wie die Angst in mir mit jedem Schritt, den ich gehe, ein Stück größer wird.
Sei mutig, Enna. Du schaffst das.
Während ein schneller Remix von »Sorry« durch den Club dröhnt, halte ich Rachel noch immer mit meinen Armen umschlossen. Mittlerweile ist es schon der dritte Song, zu dem wir tanzen.
Dass meine Freundin in den letzten Stunden mental kaum anwesend war, ging mir tierisch auf die Nerven. Rachel schaut oft auf ihr Handy, daran habe ich mich in den letzten Wochen gewöhnt. Ich finde es toll, dass sie eine Leidenschaft hat und darin so sehr aufgeht. Auch wenn ich von sozialen Medien und Mode nicht viel verstehe, bewundere ich sie für das, was sie sich bereits jetzt aufgebaut hat. Doch dass sie kaum mit mir und meinen Freunden gesprochen hat, war wirklich schade. Mehrmals habe ich vergeblich versucht, sie von ihrem Handy loszubekommen. Umso überraschter war ich, dass sie dann doch mit mir tanzen wollte.
Nun versuche ich, die Zeit mit Rachel zu genießen, in der ich ihr endlich mal wichtiger bin als ihr Telefon. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken zu Enna wandern. Im selben Moment fühle ich mich schlecht, weil ich meine Freundin umschlinge und dabei an eine andere Frau denke. Doch Enna hat mich heute einfach umgehauen. Als ich sie in diesem Kleid vor mir habe stehen sehen, ist mir fast das Herz stehen geblieben. Enna ist so unglaublich schön, dass es mir jedes Mal beinahe den Atem raubt, wenn ich sie sehe.
Auch jetzt schiebt sich wieder das Bild von ihr in meinen Kopf, wie sie vorhin vor mir stand. Wie dieses grüne Kleid ihre Knie umspielte und ihre langen Beine zur Geltung brachte. Wie ihre braunen Haare lockig auf ihre Schultern fielen und dieses unglaubliche Rot ihre Lippen betonte ... So wie heute habe ich Enna noch nie gesehen. Schon immer hat sie mich verzaubert. Mit ihren warmen braunen Augen, ihrem bezaubernden Lächeln. Mit ihrer ehrlichen und liebenswerten Art.
Doch die Enna, die heute mit mir in diesen Club gekommen ist, ist nicht einfach nur schön. Sie ist auch unglaublich anziehend und sexy. Reiß dich zusammen, Finn!
Während wir tanzen, lasse ich den Blick durch den Raum wandern, bis er an unserer Sitznische hängen bleibt. Überrascht stelle ich fest, dass sie leer ist. Auf der Suche nach meinen Freunden schaue ich mich um. Jason entdecke ich an der Bar, Mira und Enna kann ich jedoch nirgends sehen.
Ich beuge mich zu Rachel hinunter, um sie zu fragen, ob sie gesehen hat, wohin die anderen verschwunden sind. Doch bevor mir meine Worte über die Lippen kommen, bleiben sie mir im Hals stecken. Rachel bewegt sich zwar noch immer zur Musik, den Blick hat sie jedoch nach unten gerichtet — auf ihr Handy.
Schon so oft haben wir darüber diskutiert, dass sie ständig an ihrem Smartphone hängt. Darüber, dass wir die Zeit zusammen nie genießen können, weil sie immer mit etwas anderem beschäftigt ist. Ich habe Verständnis dafür, dass sie viel Zeit online verbringt. Schon oft hat sie mir voller Begeisterung ihre neuen Kooperationen mit Firmen erklärt und mich gebeten, neue Fotos von ihr zu schießen, um ihrem Feed mehr Abwechslung zu verleihen, und ich unterstütze sie wirklich gern in ihren Träumen. Dass sie aber selbst an einem Abend wie diesem nicht von ihrem Handy lassen kann, versetzt mir einen Stich.
Ruckartig löse ich mich von ihr und merke, wie sich mein Geduldsfaden mit jeder Sekunde weiter spannt und schließlich ganz reißt.
»Ist das eigentlich dein Ernst?«, rufe ich ihr über die laute Musik hinweg zu.
Endlich schaut sie mich an. »Was denn?«, fragt sie mich verwundert.
Ich deute auf ihr Handy. »Ich tanze mit meiner Freundin, die sich schon den ganzen Abend mehr für ihre virtuelle Modewelt interessiert als für ihren Freund!«
Rachel sieht mich verletzt an. »Finn, dieser Livestream ist wirklich wichtig für mich. Ich habe die Chance auf eine neue Kooperation mit einer Modemarke, die ich schon sehr lange bewundere, und ...«
Mittlerweile habe ich zu tanzen aufgehört. Erneut versuche ich, ihr mein Problem zu schildern. »Es ist okay, dass du dieses Hobby hast, Rachel. Du weißt, dass ich dich darin unterstütze«, sage ich laut genug, dass sie mich über die Musik hinweg verstehen kann, in der Hoffnung, so besser zu ihr durchdringen zu können.
»Scheinbar ja nicht«, wirft sie mir vor. »Ich habe dir gesagt, dass ich diesen Stream unbedingt schauen möchte. Und nun machst du mir genau das zum Vorwurf?« Entsetzt sieht sie mich an.
»Du hättest zu Hause bleiben können, Rachel. Niemand hat dich gezwungen, mit uns herzukommen ...«
»Ich wollte auch gar nicht!«, schreit sie mir wütend entgegen.
»Wieso bist du dann hier? Wenn doch alles immer wichtiger ist als ich?«
»Weil ich mich verdammt ausgeschlossen fühle!« Geschockt über ihre plötzliche Ehrlichkeit bin ich unfähig, etwas darauf zu erwidern.
»Enna taucht auf und plötzlich scheinst du nur noch Augen für sie zu haben.«
»Was?«, platzt es aus mir heraus. »Du fühlst dich ausgeschlossen?« Ich kann mir ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. »Enna war so nett zu dir während der letzten Treffen und du hast sie den Großteil der Zeit einfach ignoriert. Wenn sich hier jemand ausgeschlossen fühlen kann, dann sie!«
»Weißt du, wann du mich zuletzt so angesehen hast wie sie?« Sie beantwortet ihre Frage selbst. »Noch nie, Finn.«
»Jetzt bin ich der Schuldige?« Überfordert von ihrem Vorwurf werfe ich die Arme in die Luft. »Woher kommt das alles denn plötzlich?«
»Du verstehst es einfach nicht!« Der Livestream scheint nun keine Rolle mehr zu spielen.
»Du hast recht, Rachel. Ich habe keine Lust und keine Kraft mehr für diese Diskussion. Ich verstehe dich nicht.«
In diesem Moment realisiere ich es. Dieses komische Gefühl war schon längere Zeit in mir, doch ich hatte mich dafür entschieden, für diese Beziehung zu kämpfen. Jetzt frage ich mich zum ersten Mal ernsthaft, seit ich mit Rachel zusammen bin, ob diese Beziehung eine Zukunft hat. Ob ich eine Frau lieben kann, die mir das Gefühl gibt, nicht wichtig genug zu sein. Sie scheint von mir zu verlangen, dass ich weiß, wie es in ihr aussieht und was sie beschäftigt, ohne dass sie sich mir öffnet. Unser letztes ernstes Gespräch liegt eine gefühlte Ewigkeit zurück. Sie kann unsere Beziehung doch nicht mit meiner Freundschaft zu Enna vergleichen!
Ich frage mich, wohin die Leichtigkeit verschwunden ist, die einmal zwischen uns herrschte. Wo sind all die schönen gemeinsamen Momente, unsere geteilte Leidenschaft, die Begeisterung für den anderen? Wann haben Wut und Vorwürfe das Kribbeln abgelöst, das ich empfunden habe, wenn ich sie ansah?
Ohne etwas zu erwidern, lasse ich Rachel einfach auf der Tanzfläche stehen. Nach einigen Schritten werfe ich noch einen Blick zu ihr zurück. Sie sieht mindestens genauso verzweifelt aus, wie ich mich fühle, doch ich bin nicht dazu fähig, dieses Gespräch weiterzuführen. Nicht heute und nicht an einem Abend, den ich mit meinen Freunden genießen möchte.
Während ich mir einen Weg zu Jase an die Bar bahne, rempeln mich immer wieder Leute an. Wie betäubt laufe ich zu meinem besten Freund und lasse mich neben ihn auf einen der Barhocker fallen. Vor Jase stehen zwei Shots, neben ihm einige leere Gläser, er scheint also schon einiges getrunken zu haben. Ein Blick in seine Augen reicht mir, um zu sehen, dass es ihm gerade mindestens genauso beschissen geht wie mir, und auch er scheint zu bemerken, dass etwas nicht stimmt.
»Rachel?« Sein Atem riecht nach starkem Alkohol.
Ich nicke. »Bei dir?«
»Zac«, gibt er mir eine knappe Antwort. Doch allein die Erwähnung seines Namens reicht mir, um zu wissen, was in Jason vorgeht. Die Geschichte der beiden ist wirklich unschön.
Mein Blick fällt wieder auf die Shots vor Jase auf der Theke. Er schiebt mir einen zu. Ohne lang zu überlegen, kippe ich den Alkohol runter, in der Hoffnung, meine Gefühle so betäuben zu können.
»Wo sind die Mädels?«, frage ich Jase schließlich.
»Tanzen gegangen«, antwortet er mir knapp.
Im ersten Moment freue ich mich darüber, dass Enna anscheinend Spaß zu haben scheint, wenn sie mit Mira tanzen gegangen ist. Doch der Alkohol hat mich noch nicht genug benebelt, um klar denken zu können. Enna ist ernsthaft mit Mira in dieser Menschenmasse verschwunden?
Gerade als ich mich umdrehe, um die beiden auf der Tanzfläche zu suchen, kommt Mira schnellen Schrittes auf Jase und mich zugelaufen. In ihrem Blick liegen Verzweiflung und Angst. Ich gehe ihr einige Schritte entgegen. Sofort breitet sich die Panik auch in mir aus. Enna .
»Was ist los?«, frage ich Mira und lege ihr meine Hände auf die Schultern.
»Enna, sie ...«, bringt sie nur hervor.
»Was ist mit Enna?«, frage ich sie und versuche, dabei so ruhig wie möglich zu bleiben.
Mira atmet einmal tief durch. »Wir sind tanzen gegangen und eine Zeit lang war auch alles gut. Sie war zurückhaltend, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Irgendwann ist sie ganz blass geworden und hat plötzlich schlecht Luft bekommen ...«
»Mira. Wo ist Enna?«
»Am Rand der Tanzfläche. Ich habe sie mehrmals gefragt, was los ist, und wollte mit ihr nach draußen an die frische Luft gehen. Aber sie hat fast kein Wort herausbekommen. Und dann hat sie nur deinen Namen gesagt, also habe ich schnell einen Stuhl herangezogen, sie draufgesetzt und habe mich auf die Suche nach dir gemacht. Was ist los mit ihr, Finn?«
Ich fackle nicht lange und bahne mir gemeinsam mit Mira einen Weg durch die tanzende Menge.
Enna sitzt am Rand der Tanzfläche mit dem Rücken zu mir, die Hände auf ihren Oberschenkeln abgestützt. Um sie herum stehen ein paar Leute, die sie besorgt mustern und versuchen, mit ihr zu sprechen. Ich erkämpfe mir einen Weg zu ihr hindurch, schiebe die Menschen zur Seite, bis ich direkt vor ihr stehe, Mira neben mir.
»Wir machen das schon«, sage ich zu den Fremden, doch mein Blick ist dabei nur auf Enna gerichtet. Die anderen scheinen zu verstehen, wenden sich von uns ab und verteilen sich dann wieder auf der Tanzfläche.
Ich knie mich vor meine beste Freundin und lege meine Hände auf ihre. »Enna.«
Besorgt mustere ich sie, um mich zu vergewissern, dass zumindest äußerlich alles okay mit ihr ist. So aufgelöst wie jetzt habe ich sie noch nie erlebt. Ihre Augen sind auf den Boden gerichtet, während sie sich nach vorn beugt und verzweifelt nach Luft ringt.
Mit meinen Daumen streiche ich sachte über ihre Handrücken. Weiterhin schaut sie starr auf den Boden, sie scheint kaum Notiz von mir zu nehmen.
»Ich bin hier, Enna. Versuch, ganz ruhig zu atmen.« Meine Worte scheinen nun zu ihr durchzudringen, denn sie schaut mich endlich an.
Bei der Angst in ihren Augen zerreißt es mir beinahe mein Herz. Während sonst so viel Liebe und Wärme in ihrem Blick liegt, erkenne ich jetzt nichts als haltlose Panik darin. Panik und Hilflosigkeit.
Ohne lange zu überlegen, handle ich rein intuitiv. »Ich bringe sie erst mal hier raus, Mira«, murmle ich. »Alles wird wieder gut, sie muss nur mal an die frische Luft.«
Mira nickt. Ich richte Enna etwas auf und umschlinge sie mit meinen Armen, hebe sie behutsam hoch, und bin erleichtert darüber, dass sie sich an meinen Schultern festhält. Mit ihr in meinen Armen bahne ich mir einen Weg zum Ausgang.
»Alles klar bei euch?«, fragt mich einer der Türsteher, als ich mit Enna aus dem Club laufe.
Ich nicke ihm zu. »Sie braucht nur frische Luft.«
Noch immer mustert er mich etwas skeptisch, scheint mir jedoch zu glauben und lässt uns vorbei.
Das Stardust liegt am Stadtrand von Starfall und ist nur wenige Gehminuten von Ennas Wohnung entfernt. Mit ihr in meinen Armen setze ich mich in Bewegung, weil ich sie so schnell wie möglich in ihre eigenen vier Wände bringen möchte. Weg von diesem Chaos hier.
Dennoch halte ich kurz an, als wir einige Schritte vom Club entfernt sind, um mich zu vergewissern, dass Enna wieder normal atmet. Als ich bemerke, dass sie schwankt, lege ich ihr meine Arme um die Hüften und halte sie fest.
»Alles ist gut, Enna. Wir sind draußen.« Noch immer atmet sie viel zu hektisch. »Versuch, ganz ruhig zu atmen.« Ich lege meine Hand unter ihr Kinn und hebe ihren Kopf, sodass sie mir direkt in die Augen schaut. »Sieh mich an. Wir atmen zusammen, einverstanden?«
Sie nickt. Ich konzentriere mich darauf, ruhig ein- und auszuatmen. Erleichtert stelle ich fest, dass sie es mir nach wenigen Sekunden gleichtut.
»So ist es gut, ganz ruhig«, ermutige ich sie. »Ich bin bei dir.«
Eine Weile stehen wir einfach nur da und atmen zusammen. Ich merke, wie Enna sich mit jeder Minute, die vergeht, mehr beruhigt.
»Geht es wieder?«, frage ich sie vorsichtig.
Sie nickt, wendet nun aber den Blick von mir ab und richtet ihn stattdessen auf ihre Schuhe. »Es tut mir leid«, murmelt sie so leise, dass ich sie fast nicht verstanden hätte.
»Das muss es nicht, Enna.«
Tränen laufen ihr über das Gesicht. Beschämt wischt sie sich mit ihren Händen über die Wangen und erst jetzt fällt mir auf, dass es arschkalt hier draußen ist und Enna keine Jacke trägt. Ich wollte sie so schnell wie möglich aus diesem Club bekommen, dabei habe ich unsere Jacken am Tisch ganz vergessen.
Entschlossen ziehe ich meine Strickjacke aus und breite sie über ihren Schultern aus.
»Danke«, murmelt Enna. »Für alles«, fügt sie hinzu und sieht mir dabei endlich wieder in die Augen. Noch immer laufen ihr vereinzelt Tränen über die Wangen.
Eine Weile stehen wir schweigend voreinander, bis sie weiterspricht.
»Ich wollte es schaffen, Finn. Ich wollte doch einfach nur mit meiner Freundin tanzen. Wieso kann ich das nicht? Wieso muss mir diese beschissene Angst ständig einen Strich durch die Rechnung machen? Wieso kann ich nicht einfach normal sein? Wieso ...«
Ohne lang zu überlegen, ziehe ich Enna an mich und lege behutsam eine Hand auf ihren Kopf. Nach einigen Sekunden schlingt auch sie ihre Arme um mich.
Es fühlt sich einfach richtig an, Enna zu halten. Nichts möchte ich mehr, als ihr diese unendliche Last von ihren Schultern zu nehmen. Doch ich weiß, dass ich das nicht kann. Ich kann nichts tun, als sie zu halten, und ich hoffe, dass sie sich hier bei mir sicher fühlt. Ich möchte für sie da sein, sie beschützen.
Nichts wünsche ich mir in diesem Moment mehr.
Und auch Enna gibt mir Kraft mit dieser Umarmung. Es fühlt sich an, als würden wir uns gegenseitig halten. Sie mich und ich sie.
In diesem Moment sind wir eine Einheit, genau wie früher. Sanft drücke ich ihr einen Kuss auf ihren Scheitel. Alles fühlt sich richtig an, wenn Enna bei mir ist.
Und endlich kann auch ich wieder leichter atmen.
Selten habe ich eine Umarmung so sehr genossen wie diese hier. In Finns Armen zu liegen, lässt eine angenehme Ruhe in mir entstehen. Ich merke, wie ich mich mit jeder Minute wohler fühle und meine Angst Stück für Stück loslassen kann.
Die Situation auf der Tanzfläche hat mich einfach überfordert. Ich wollte mich zusammenreißen. Für Mira. Für mich. Eine Zeit lang hat das auch ganz gut geklappt. Wir haben getanzt und obwohl ich mich nicht besonders wohlgefühlt habe, war es okay. Bis der Song wechselte und noch mehr Leute auf die Tanzfläche kamen. Mit der Zeit wurde es immer enger, die Tanzenden rempelten mich an und die Luft wurde immer weniger, bis sie mir irgendwann ganz ausging. Ich konnte den Ausgang nicht mehr sehen und hatte das Gefühl, dieser Situation nicht entfliehen zu können. Nicht rauszukommen. Mira hat versucht, zu mir durchzudringen, doch ich konnte einfach nicht mehr. Nicht mehr atmen und auch nicht mehr sprechen. Ich muss ihr einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt haben.
»Ich bringe dich nach Hause«, murmelt Finn und löst sich langsam von mir.
»Was ist mit den anderen?«, frage ich ihn unsicher.
»Mira ist bei Jase und wo Rachel sich rumtreibt, ist mir gerade ziemlich egal.«
Fragend sehe ich ihn an. »Habe ich was verpasst?«
Finn schüttelt den Kopf und signalisiert mir, dass er gerade nicht darüber sprechen möchte. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und tippt darauf herum. »Ich schreibe Jase kurz, dass ich dich nach Hause bringe und dass du okay bist.«
Ich nicke. »Was ist mit Rachel?«
»Ich habe Jase darum gebeten, sie später bis zu ihrer WG zu begleiten. Die liegt sowieso auf unserem Heimweg, er und Mira laufen also ohnehin daran vorbei.«
»Unsere Jacken!«, fällt mir dann ein. Finn steht nur im Shirt vor mir.
»Die beiden bringen sie sicher mit«, beruhigt er mich.
»Frierst du nicht?«, frage ich ihn besorgt. »Es ist verdammt kalt hier draußen.«
Er schüttelt lachend den Kopf. »Mir ist nie kalt, Enna.«
Ich erinnere mich daran, dass er sich schon als kleiner Junge ständig wehrte, eine Jacke anzuziehen. Früher habe ich mich immer gefragt, ob Finn überhaupt ein Kälteempfinden besitzt.
»Wollen wir los?«
»Okay«, antworte ich und wir setzen uns in Bewegung.
Mittlerweile hat der Boden aufgehört, unter mir zu schwanken, und ich kann mich wieder ganz normal auf den Beinen halten. Ich weiß, dass mir vor Finn nichts peinlich sein muss. Dennoch ist es mir unangenehm, dass er mich in einer solch hilflosen Situation gesehen hat und mich sogar aus dem Club tragen musste, weil ich nicht mehr Herrin meiner Sinne war. So wie heute habe ich noch nie die Kontrolle über meinen Körper verloren.
Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinanderher. Doch irgendwann kann ich meine Neugierde nicht mehr zurückhalten. »Was war mit Rachel, Finn? Habt ihr euch gestritten?«
»Ihr war mal wieder alles wichtiger als ich.«
»Das glaube ich nicht«, sage ich. Natürlich ist auch mir nicht entgangen, dass Rachel ständig an ihrem Handy hing. Doch als ich die beiden tanzen sah, schien sie sich ganz auf Finn zu konzentrieren. Wieder taucht das Bild der beiden in meinem Inneren auf. Wie Finn seine Freundin umschlungen hält, wie er sie küsst ...
»Doch, Enna. Du kennst sie noch nicht so lang, aber es ist immer so.«
»Ich habe gemerkt, dass sie oft an ihrem Handy hing. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr etwas wichtiger sein könnte als du. Wie kann das sein?«, frage ich ihn.
Unsere Blicke treffen sich und erst in diesem Moment werde ich mir der Bedeutung meiner Worte bewusst.
»Ihr wart doch tanzen«, spreche ich daraufhin schnell weiter. »Das schien sie sehr genossen zu haben.«
»Genossen.« Finn lacht auf. »Als ich kurz abgelenkt war, nutzte sie die Gelegenheit gleich, um ihr dämliches Video weiterzuschauen.«
Verdutzt bleibe ich stehen. »Moment. Sie hat dieses Video weitergeschaut, während ihr getanzt habt ?«
Er nickt. »Jepp.«
»Das ist doch nicht ihr Ernst!«, rufe ich aus, dann senke ich meine Stimme wieder. »Entschuldige. Ich möchte nicht schlecht von deiner Freundin reden.«
Finn lacht. »Schon okay. Ich konnte es ja selbst nicht fassen.«
»Ich weiß langsam einfach nicht mehr weiter«, öffnet er sich mir schließlich verzweifelt.
»Bist du glücklich mit Rachel?« Schon so lange wünsche ich mir seine Antwort darauf.
»Ich war glücklich mit ihr.«
»Menschen verändern sich.«
»Das tun sie«, gibt er mir recht. »Auch ich habe mich verändert. Unsere Beziehung zueinander ebenso.«
Wir biegen in meine Straße ein. Schweigend gehen wir nebeneinanderher, bis wir schließlich vor meiner Haustür stehen.
»Jetzt musstest du mich schon zum zweiten Mal nach Hause bringen«, sage ich zu Finn.
»Ich musste nicht, Enna. Ich wollte «, stellt er lächelnd klar.
Eine Weile sehen wir uns an. Keiner von uns beiden scheint in diesem Moment zu wissen, was er sagen soll.
»Schlaf gut, Enna«, bricht Finn schließlich die Stille zwischen uns.
»Du auch«, sage ich und drehe mich um.
Ich will gerade den Schlüssel im Schloss drehen, als mich eine unglaubliche Sehnsucht durchströmt. Irgendetwas sagt mir, dass ich jetzt nicht allein sein möchte. Dass ich nach diesem Abend nicht allein sein kann . Bei dem Gedanken daran, jetzt in meiner Wohnung zu sitzen, wird mir übel. Einsam in dieser Dunkelheit, nach allem, was ich heute Abend durchgemacht habe.
Kurzerhand drehe ich mich zu Finn um, der zu meiner Überraschung noch immer an der gleichen Stelle steht.
Unsicher schaue ich ihn an. »Finn?«
Er lächelt. »Enna?«
Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage ihn nach dem, was ich mir gerade am meisten wünsche und das ich all die Jahre so sehr vermisst habe. »Magst du noch mit hochkommen und mir vorlesen?«
Für jeden anderen Typen wäre diese Frage einfach lächerlich gewesen. Jeder Mann hätte sich wohl gefragt, was zur Hölle mit mir nicht stimmt und warum ich mich wie ein kleines Kind verhalte. Jeder andere , aber nicht Finn.
»Ich dachte schon, du fragst nie«, sagt er lächelnd.
»Möchtest du was trinken?«, ruft Enna mir aus der Küche zu, während ich mir im Flur ihrer Wohnung die Schuhe ausziehe.
»Gern. Hast du Wasser da?« Ich stelle meine Schuhe neben ihre, die in einer Reihe neben der Wohnungstür aufgestellt sind. Enna scheint also noch immer eine kleine Perfektionistin zu sein. Genau wie früher.
Ich gehe zu ihr in die Küche. Auf der linken Seite des kleinen Raumes erstreckt sich eine weiße Küchenzeile, an der rechten Wand steht ein kleiner Esstisch, an dem zwei Personen Platz haben. Enna nimmt ein Glas aus dem Küchenschrank und schenkt mir ein. Anschließend stellt sie den Wasserkocher an und holt für sich selbst eine Tasse heraus, in die sie einen Teebeutel hängt. Dann reicht sie mir mein Glas.
Dankend nehme ich es entgegen und trinke einen großen Schluck. Enna wartet, bis das Wasser kocht, und füllt dann ihre Tasse. Verdutzt beobachte ich sie dabei, wie sie nach einem Glas Honig greift. Als sie einen Teelöffel in die klebrige Masse steckt, kann ich mich nicht mehr zurückhalten.
»Du willst doch jetzt nicht wirklich dieses Zeug in deinen Tee machen?«, frage ich sie entsetzt.
Enna lacht. »In einen guten Tee gehört ein Löffel Honig.«
»Igitt!«, entfährt es mir, was sie noch mehr zum Lachen bringt.
Mit ihrer Tasse in der Hand dreht Enna sich zu mir um. »Gehen wir rüber?«
»Gerne.« Mit meinem Wasser in der Hand laufe ich ihr hinterher, bis wir schließlich in ihrem Zimmer stehen. Interessiert schaue ich mich um, wobei mein Blick sofort über ihr riesiges Bücherregal gleitet.
»Wow«, bringe ich nur hervor. Ich bleibe stehen und betrachte voller Bewunderung all die Reihen voller Bücher. Enna scheint noch verrückter nach Geschichten zu sein, als sie es damals schon war. »Das sind wirklich viele.«
Enna lacht. »Viele trifft es ganz gut. Es müssten etwa vierhundert sein.«
Überrascht drehe ich den Kopf zu ihr. »Vierhundert ?«
Lächelnd nickt sie. Ich wende mich wieder dem Regal zu und überlege, ob sie wirklich jedes einzelne davon gelesen hat. Gerade will ich sie danach fragen, als etwas an meinem Bein entlangstreift. Entsetzt lasse ich meinen Blick zu meinen Füßen gleiten, an die sich ein graues Wollknäuel schmiegt. Eine Katze .
»Enna«, sage ich leise. Panik breitet sich in mir aus.
»Darf ich vorstellen? Das ist Beth«, sagt sie fröhlich.
Die Angst in meiner Stimme scheint sie überhört zu haben. Langsam drehe ich den Kopf zu ihr und versuche, meinen restlichen Körper dabei so wenig wie möglich zu bewegen.
Unsere Blicke begegnen sich und Enna sieht mich verwirrt an. Noch immer spüre ich, wie sich die Katze an mein Bein schmiegt, doch ich traue mich nicht, auch nur einen Schritt zu machen.
»Alles okay?«, fragt Enna mich besorgt.
Als ich mich noch immer nicht rühre, kommt sie einen Schritt auf mich zugelaufen und mustert mich besorgt. »Finn. Du bist auf einmal ganz blass. Geht es dir gut?«, fragt sie mich.
Langsam schüttle ich mit dem Kopf, dann lasse ich meinen Blick wieder zu meinen Füßen gleiten. Gerade in diesem Moment richtet die Katze ihren Blick nach oben und schaut mich erwartungsvoll an. Panisch schaue ich ihr in die Augen und frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis sie mir ihre Krallen in die Haut rammt.
»Enna«, bringe ich schließlich hervor. »Nimm dieses Ding da weg.«
Ich richte meinen Blick wieder auf Enna und begegne ihrem verständnislosen Gesichtsausdruck. In ihrem Kopf scheint es zu rattern, dann irgendwann breitet sich Stück für Stück ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
»Du hast Angst vor Katzen«, stellt sie fest und muss sich deutlich das Lachen verkneifen.
Ich nicke. Die Panik muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Enna setzt sich nun endlich in Bewegung und greift nach der Katze, die gerade an meinen Füßen schnuppert. Nun hat sie sie endlich auf dem Arm, und augenblicklich breitet sich Erleichterung in mir aus.
Als ich mich wieder beruhigt habe, schaue ich wieder zu Enna, die mit Beth auf dem Arm neben mir steht und noch immer krampfhaft versucht, sich das Lachen zu verkneifen.
»Lass es raus, Enna. Ich kann es verkraften«, erlöse ich sie schließlich.
Keine Sekunde später bricht Enna in schallendes Lachen aus. Eigentlich sollte ich mich nun verletzt und unverstanden fühlen, doch in dem Moment, in dem sie loslässt und ihr Lachen den Raum erfüllt, bin ich einfach nur froh, sie wieder so glücklich zu sehen. Kurzerhand stimme ich in ihr Lachen mit ein. Ich weiß, wie lächerlich meine Angst ist, und kann auch gern mal über mich selbst lachen.
Irgendwann deutet Enna fragend mit dem Kopf auf Beth. »Darf ich sie auch irgendwann wieder absetzen?«, fragt sie grinsend.
»Zuerst muss ich mich in Sicherheit bringen.«
Enna lacht, während ich mich im Raum umsehe und nach einer geschützten Stelle für mich suche. Fragend deute ich auf Ennas Bett. Sie nickt, also setze ich mich im Schneidersitz darauf. Meine Füße lasse ich bestimmt nicht vom Bett baumeln, während diese Katze hier frei herumläuft.
Als ich sitze, setzt Enna das graue Knäuel wieder auf den Boden. Beth trabt in Richtung Küche davon, während Enna sich zu mir aufs Bett gesellt.
Erwartungsvoll sieht sie mich an, noch immer ein Grinsen im Gesicht.
»Was ist?«, frage ich sie, obwohl ich genau weiß, was Enna jetzt von mir hören will.
»Warum hast du Angst vor Katzen, Finn?«, fragt sie mich.
»Das ist eine ganz blöde Geschichte, die mich definitiv in kein besonders männliches Licht rückt.«
Enna lacht, dann schaut sie wieder etwas ernster. »Ich habe dir meine beiden Ängste erzählt. Du schuldest mir noch eine.«
Ich gebe mich geschlagen. Enna hat sich mir geöffnet und nun bin auch ich an der Reihe. Obwohl mir diese Angst unglaublich peinlich ist, beschließe ich, ehrlich zu ihr zu sein.
»Nachdem meine Eltern sich trennten, war ich oft bei meinem Freund Tim. Wir lernten uns in der Highschool kennen. Weil Mum und Dad zu Hause so oft stritten, nahm er mich häufig mit zu sich«, beginne ich. Bei der Erwähnung meiner Eltern läuft es mir kalt den Rücken herunter. Schnell schiebe ich den Gedanken an die Streitereien der beiden von mir und konzentriere mich auf das Wesentliche. »Tim hatte eine Katze. Sie war groß. Sie war fett. Aber vor allem war sie aggressiv.«
»Was ist passiert?«, fragt sie mich. »Hat sie dich angegriffen?«
»Ja«, antworte ich. »Sie war wirklich bissig. Komischerweise immer nur dann, wenn ich kurz mit ihr allein war. Ich sage dir, diese Katze hatte es faustdick hinter den Ohren. Immer wenn Tim das Zimmer verließ, biss sie mich in die Waden.«
Enna verzieht das Gesicht, als könnte sie den Schmerz, von dem ich ihr erzähle, am eigenen Körper spüren. »Aua!«
»Das kannst du laut sagen«, bestätige ich. »Tim fand das Ganze eher amüsant. Irgendwann hat er sich bei mir entschuldigt. Da waren wir aber schon älter.«
Enna denkt kurz nach, dann sieht sie mich wieder an. »Es tut mir leid, dass du so eine blöde Erfahrung mit einer Katze machen musstest. Es mag für dich unvorstellbar sein, aber nicht jede Katze ist so wie Tims. Normalerweise sind sie ganz friedliche Tiere. Natürlich haben Katzen ihren eigenen Kopf, aber wenn du lieb zu ihnen bist, sind sie auch lieb zu dir.«
Ich will gerade protestierten, als sie anfügt: »Zumindest die meisten.«
Ich nicke. »Beth scheint okay zu sein.«
Als hätte sie mich gehört, schiebt sich das graue Knäuel kurz danach wieder ins Schlafzimmer. In der Mitte des Raumes bleibt sie auf Ennas Teppich sitzen, um sich die Pfoten zu putzen.
»Wenn du dich wohler fühlst, sperre ich sie aus, dann ...«
»Schon okay«, falle ich ihr ins Wort. Beth gehört zu Ennas Leben und auch ich möchte weiterhin ein Teil davon bleiben. »Ich würde gern versuchen, mich mit ihr anzufreunden. »Sie hat dich doch noch nie gebissen?«
»Noch nie. Ich habe sie erst, seit ich hier eingezogen bin. Dad hat sie aus dem Tierheim geholt. Sie ist eine ganz liebe und ruhige Katze.«
Ennas Worte beruhigen mich. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander und beobachten Beth, bis diese den Kopf hebt und uns mit ihren kleinen Glubschaugen anschaut. Sie ist schon ganz niedlich .
»Wenn sie so schaut, kommt sie gleich aufs Bett gesprungen. Ist das okay?«
»Ich denke schon«, antworte ich unsicher.
Langsam setzt Beth sich in Bewegung und kommt auf uns zu. »Hey, meine Süße. Das ist Finn.«
Als ich höre, wie liebevoll Enna mit diesem kleinen Wesen spricht, verschwindet ein weiteres Stück meiner Angst. Wenn sie diese Katze liebt, muss sie ein liebenswertes Tierchen sein.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und bleibe ruhig sitzen, als Beth zu uns auf das Bett springt. Enna und ich sitzen etwa einen Meter auseinander und Beth nun zwischen uns. Vorsichtig kommt sie auf mich zugetapst, als würde sie spüren, dass ich Angst habe.
»Sie spürt, dass du Angst hast«, spricht Enna meinen Gedanken aus. »Deshalb ist sie so vorsichtig.«
Ich nicke. Beth schnuppert an meiner Hand. Langsam hebe ich die Hand und streichle der Katze vorsichtig über den Kopf. Sofort fängt sie an zu schnurren und legt sich dann an mein Bein gekuschelt neben mich.
Während ich Beth weiterhin den Kopf kraule, hebe ich meinen Blick, um Enna anzusehen. Sie mustert uns lächelnd und sieht in diesem Moment einfach nur glücklich aus. »Ist es okay?«, fragt sie mich und deutet dabei mit dem Kopf auf Beth.
Ich nicke. »Sie ist wirklich süß. Ich glaube, wir verstehen uns ganz gut.«
»Das glaube ich auch«, sagt Enna. Dann gähnt sie laut. »Entschuldige«, sagt sie lächelnd. »Ich bin müde.«
»Soll ich lieber gehen? Möchtest du schlafen?« Enna hat heute viel durchgemacht und will sich sicher ausruhen.
Sie schüttelt mit dem Kopf. »Noch nicht. Du wolltest mir noch vorlesen.« Lächelnd sieht sie mich an. In ihrem Blick kann ich eine freudige Erwartung erkennen.
»Es ist lange her«, sage ich. »Vielleicht habe ich mittlerweile das Vorlesen verlernt.«
Enna legt den Kopf schief und mustert mich. »Unmöglich.«
Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du meinst.«
»Also. Der kleinen Enna habe ich meistens Mary Poppins vorgelesen«, sage ich grinsend. »Was möchte denn die große Enna hören?«
Enna überlegt und lässt dabei den Blick über ihr Bücherregal wandern. In ihrem Blick konnte ich aber eben schon lesen, welche Geschichte sie hören möchte, also kann ich ihrer gespielten Suche nun keinen Glauben schenken.
»Es gibt da so eine Geschichte, in der ein Kindermädchen mit einem Schirm angeflogen kommt ...«
Mein Lachen lässt sie mitten im Satz innehalten.
»Also wieder Mary Poppins , ja?«, frage ich sie amüsiert.
Enna grinst. »Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Quatsch. Dein Wunsch ist mir Befehl«, sage ich und salutiere.
Sie lacht und steht auf, um das Buch aus ihrem Regal zu ziehen. Sofort erkenne ich die lila Ausgabe wieder.
»Du hast es immer noch?«, frage ich sie überrascht.
Enna nickt. »Es war ein Geschenk von dir. Natürlich habe ich es noch.«
Ich rutsche auf ihrem Bett nach hinten, um es mir gemütlich zu machen. Enna schaltet das Deckenlicht aus und dafür ihre Lichterkette und die Lampe auf ihrem Nachttisch ein, während ich mir zwei ihrer Kissen in den Rücken stopfe und es mir bequem mache. Beth bleibt weiterhin an meinem Bein liegen und scheint sich an meinem Herumrutschen nicht zu stören.
Enna dreht sich wieder zu mir und bleibt vor ihrem Bett stehen. Ich klopfe neben mich auf die Decke und Enna krabbelt über die Matratze zu mir.
»Ist dir kalt?«, frage ich sie.
»Ein bisschen.«
Kurzerhand greife ich nach ihrer Tagesdecke und breite sie über ihr aus. »Danke«, murmelt Enna, während sie die Kissen in ihrem Rücken zurechtrückt und sich dann nach hinten lehnt. Grinsend hält sie mir dann das Buch entgegen. »Du musst vorsichtig sein. Ich habe es so oft gelesen, dass es mittlerweile fast auseinanderfällt.«
»Warum kaufst du dir kein neues?«, frage ich sie. Ich drehe das Hardcover in meinen Händen hin und her. Der Buchrücken sieht schon sehr mitgenommen aus.
»Weil ich kein anderes Exemplar haben möchte. An diesem hängen so viele Erinnerungen.« Lächelnd sieht Enna auf das Buch in meinen Händen.
Ich lächle ebenfalls, als ich es vorsichtig aufschlage.
Enna rutscht etwas tiefer und legt ihren Kopf auf ein Kissen. Auch ich ändere noch ein letztes Mal meine Sitzposition und mache es mir bequem. Beth liegt noch immer zwischen uns und schnurrt leise.
»Bereit?«, frage ich Enna schließlich.
Sie nickt. »Bereit.«
Mit meiner Hand streiche ich über die erste Seite des Buches, dann beginne ich zu lesen. Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, mit Enna hier zu liegen. Vor fünf Jahren habe ich ihr diese Geschichte zum letzten Mal vorgelesen, doch in diesem Moment fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Als wären wir noch immer der kleine Finn und die kleine Enna.
Während ich lese, merke ich, wie Enna sich neben mir immer mehr entspannt. Immer wieder fallen ihr die Augen zu, doch ich lese einfach weiter. Irgendwann drehe ich mich zu ihr. Friedlich liegt sie neben mir. Ennas Kopf liegt auf einem ihrer vielen rosa Kissen, eine Hand hat sie unter ihre Wange geschoben. Ihre gelockten braunen Haare verteilen sich auf dem Kissen in alle Richtungen. In mir regt sich der Wunsch, sie zu berühren. Bevor ich darüber nachdenken kann, klappe ich das Buch zu und streiche ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich lege das Buch auf ihren Nachttisch, dann schaue ich ihr eine Weile dabei zu, wie sich ihr Brustkorb gleichmäßig hebt und senkt. In diesem Moment könnte mich nichts glücklicher machen, als ihr beim Schlafen zuzusehen.
Irgendwann siegt meine Vernunft über meinen Wunsch, bei ihr zu bleiben. Es würde eine Grenze überschreiten, neben Enna einzuschlafen und am Morgen mit ihr aufzuwachen. Und obwohl in mir alles danach schreit, sie im Arm zu halten und weiterhin zu beschützen, erhebe ich mich von ihrem Bett. Beth schaut kurz zu mir auf und streckt sich, dann kuschelt sie sich neben Enna.
»Pass gut auf sie auf«, flüstere ich der Katze zu.
So leise wie möglich schleiche ich aus Ennas Zimmer in die Küche. Dort habe ich vorhin einen kleinen Notizblock entdeckt, auf den ich ihr nun eine kurze Nachricht kritzle. So ganz ohne Abschied möchte ich dann doch nicht verschwinden. Im Flur ziehe ich mir meine Schuhe an, öffne die Wohnungstür und ziehe sie dann so leise wie möglich hinter mir zu.
Auf dem Weg nach Hause werfe ich einen Blick auf mein Handy. Obwohl ich auch nicht damit gerechnet habe, schockiert es mich, dass Rachel sich tatsächlich nicht mehr gemeldet hat. Unser Streit sitzt mir noch immer im Kopf, obwohl mich die letzten Stunden mit Enna auf andere Gedanken gebracht haben.
Zurück in der WG, vergewissere ich mich, dass Mira und Jase ebenfalls gut zu Hause angekommen sind. Beide finde ich schlummernd in ihren Betten vor, also gehe ich schnell ins Bad und werfe mich danach auch in mein Bett.
Kurz bevor ich einschlafe, denke ich an Enna. Die letzten Stunden mit ihr habe ich sehr genossen. Es bedeutet mir viel, endlich wieder für sie da sein zu können. Es gibt mir das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu können, auch wenn ich weiß, dass ich ihr nie das wiedergeben kann, was ich ihr damals genommen habe.
In dieser Nacht träume ich von einer mutigen Frau, die neben mir liegt, während ich ihr vorlese. Und selbst im Traum verspüre ich dabei eine unendliche Wärme in mir.
»Und deshalb waren wir dann so schnell weg«, beende ich meine Zusammenfassung des gestrigen Abends.
Vor einer Stunde haben Mira und ich uns im Café getroffen. Nachdem ich heute Morgen ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich gestern so plötzlich verschwunden bin, war es mir wichtig, meiner Freundin nun in Ruhe alles zu erklären. Während ich Mira von meinen Ängsten erzählt habe, vor allem davon, wie sie mich gestern Abend überrollten, saß sie die ganze Zeit neben mir und hörte mir aufmerksam zu. Bisher hat sie keine einzige Frage gestellt. Sie hat mich einfach erzählen lassen, ohne mich zu unterbrechen, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
Mira greift auf dem Tisch nach meiner Hand und umschließt sie mit ihrer. »Ich bin so froh, dass du dich mir anvertraut hast, Enna.«
Ich nicke. »Ich hätte es dir eher sagen sollen. Ich wollte nur nicht ...«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, fällt sie mir ins Wort. »Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit.«
Wahrscheinlich sieht Mira mir mein schlechtes Gewissen noch immer an, denn auf einmal zieht sie mich in eine herzliche Umarmung.
»Ich hab dich lieb, Enna.«
»Ich hab dich auch lieb.«
»Hat mich auch jemand lieb?«, ertönt Jasons Stimme plötzlich neben uns. Erschrocken fahren Mira und ich auseinander.
Jason lacht. »Sorry, Mädels.« Entschuldigend hebt er die Hände. »Ich wollte euch nicht erschrecken.«
Wir stimmen in sein Lachen mit ein.
»Wir haben dich natürlich auch lieb«, antwortet Mira ihm schließlich. »Gruppenkuscheln?«
Jason sieht sie entsetzt an. »Vergiss es«, sagt er, doch schon im gleichen Moment hat Mira einen Arm um mich und den anderen um ihn geschlossen. Sie zieht uns in eine herzliche Umarmung. Irgendwann gibt Jase nach und legt auch seine Arme um uns.
Nachdem genug Liebe verteilt wurde, setzen wir uns wieder an den Tisch. Mira holt Jason einen Kaffee, während er sich einen Stuhl heranzieht.
»Alles wieder okay?« Ich weiß nicht, wie viel Finn seinem Freund bereits über mich erzählt hat, doch seltsamerweise stört es mich nicht, wenn ich daran denke, dass er von meinen Ängsten wissen könnte. Meine Freunde sind herzliche Menschen und ich weiß, dass ich ihnen vertrauen kann.
Ich nicke lächelnd. »Danke.«
»Hat es dir trotzdem gefallen gestern?«
»Es war superschön«, antworte ich ihm. »Ich finde euren Bandnamen total cool. Das wollte ich dir unbedingt noch einmal sagen.«
Jason grinst. »Den hat Finn sich ausgedacht.«
»Warum wundert mich das nicht?«, frage ich ihn lachend.
Jason stimmt mit ein, als Mira wieder zu uns kommt und den Kaffee vor ihm auf dem Tisch abstellt. »Danke, Schwesterherz«, bedankt er sich.
»Gerne«, sagt Mira und lässt sich wieder auf ihren Stuhl fallen. »Was war denn eben so witzig?«
»Finn und die Sterne«, antwortet Jason.
Mira nickt wissend und lächelt dabei, dann ändert sich ihre Miene plötzlich und sie schaut etwas ernster zu Jason.
»Wie geht es ihm denn?«, fragt sie ihren Bruder.
Jason rührt mit dem Löffel in seinem Kaffee herum. »Ich weiß es nicht. Heute Mittag meinte er, dass er morgen mit ihr reden will.«
»Was ist denn los bei Finn?«, frage ich die beiden verwirrt. »Rachel?«
Nachdem Finn mir gestern kurz vom Streit der beiden erzählt hat, kann ich mir nun denken, dass es um sie geht.
Jason nickt. »Rachel hat gestern ziemlich Mist gebaut.«
»Ich weiß. Die Aktion mit dem Handy war wirklich mies«, sage ich und nehme einen großen Schluck von meinem Kaffee.
»Wenn es nur das gewesen wäre ...« Mira sieht nachdenklich aus dem Fenster.
»Was war denn noch?« Nun bin ich wirklich besorgt.
»Als ihr weg wart, hat Rachel später mit einem anderen Typen getanzt«, beginnt Jason, mir zu erklären. Ich ahne Schlimmes.
»Dann hat sie ihn geküsst«, fügt Mira hinzu und verzieht dabei das Gesicht.
»Bitte was?!«, entfährt es mir, bevor ich mich zurückhalten kann. »Das ist doch nicht ihr Ernst.«
Jason nickt. »Leider doch. Ich habe von Anfang an gewusst ...«
»Jase«, unterbricht ihn seine Schwester. »Wir wissen nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist ... Natürlich war es nicht in Ordnung, was sie gemacht hat.«
»Das kannst du laut sagen«, stimmt Jason ihr zu. »Ich mochte sie noch nie, das weißt du. Wir haben sie damals mit offenen Armen empfangen, doch sie hat sich nie wirklich mit uns anfreunden wollen.«
Mira nickt. »Da muss ich dir recht geben. Sie war wesentlich angenehmer, als Finn und sie nur befreundet waren. Die beiden passen als Paar einfach nicht zusammen.«
Noch immer versuche ich zu verarbeiten, was mir eben erzählt wurde. Rachel und ich haben bisher auch keinen besonders guten Draht zueinander gefunden, doch dass sie sogar dazu fähig ist, Finn zu hintergehen, hätte ich nicht gedacht.
»Wie geht es Finn jetzt?«, breche ich mein Schweigen.
Jason nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. »Als ich es ihm vorhin erzählt habe, wirkte er relativ gefasst.«
»Das muss ihm das Herz gebrochen haben.«
Jason schüttelt mit dem Kopf. »So schnell bricht keiner Finns Herz.
Es ist scheiße, was passiert ist, aber er wird das überstehen.«
»Und du hast es ihm erzählt?«, frage ich ihn.
»Japp«, antwortet Jason nickend. »Nachdem mir Rachel gestern Abend unmissverständlich klargemacht hat, dass sie es ihm nicht sagen will, habe ich das für sie übernommen. Ich lüge meinen besten Freund bestimmt nicht an.«
»Das ist richtig so.« Jason wirkte von Beginn an wie ein sehr loyaler Mensch auf mich. »Jetzt weiß er zumindest Bescheid. Hat er dir erzählt, was er jetzt vorhat?«
»Er will mit ihr sprechen. Heute noch.« Jason stellt die leere Tasse vor sich ab. »Sorry, Mädels. Ich muss los zur Probe!«
Er winkt uns zum Abschied und verschwindet aus dem Café. Nun sitzen Mira und ich allein am Tisch, der mittlerweile zu unserem Stammtisch im C&C geworden ist.
»Meinst du, Finn kommt wirklich klar?«, frage ich sie.
Mira nickt. »Finn ist stark. Außerdem sind wir alle für ihn da.«
Sie scheint mir anzusehen, dass mich die Sache ziemlich mitnimmt. »Weißt du, was? Ich hole dir jetzt erst mal ein Stück Vanilletorte. Einverstanden?«
»Gern«, antworte ich.
Mira verschwindet hinter der Theke, um mein Stück Kuchen zu holen. Die Zeit nutze ich, um in Ruhe den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren zu lassen. Mira kassiert noch schnell einen anderen Tisch ab, dann ist sie wieder bei mir. Den Teller mit dem Kuchen stellt sie vor mir ab. Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich sie unbedingt noch auf die seltsame Begegnung mit dem Typen gestern Abend ansprechen wollte.
»Sag mal, Mira?«, wende ich mich ihr fragend zu, während ich meine Gabel in die Hand nehme. »Was war denn das gestern mit diesem Typen?«
»Welchem Typen?«, fragt sie mich, doch ich kann ihrer gespielten Unwissenheit keinen Glauben schenken.
Ich schiebe mir ein Stück der Vanilletorte in den Mund und ziehe eine meiner Augenbrauen nach oben.
Sie stöhnt auf. »Du meinst Zac, richtig?«
Ich nicke und bedeute ihr mit meiner Gabel, weiterzusprechen.
»Was soll da gewesen sein?«
»Als er den Raum betrat, warst du für mindestens zwei Minuten nicht mehr ansprechbar. Und als er dann an unseren Tisch kam, war für dich nichts interessanter als das Tischdeckchen. Und die Nusschale natürlich.«
Sie will gerade protestieren, als ich ihr schnell ins Wort falle. »Mira, ich kenne dich vielleicht noch nicht so lang, aber gut genug, um zu wissen, dass das da gestern Abend nicht du warst. Es steckt mehr hinter der Begegnung, oder?«
»Also gut«, beginnt sie schließlich. »Ich mag Zac. Ich kann mir nicht erklären, warum, aber etwas an ihm zieht mich an ...« Sofort färben sich Miras Wangen rot. So verlegen kenne ich sie gar nicht. »Es ist kompliziert.«
»Ist es das nicht immer?«, frage ich sie kauend.
Mira nickt. »In diesem Fall aber besonders.«
»Wieso?«
Mira atmet einmal tief durch, dann beginnt sie zu erzählen. »Zac ist kein besonders netter Typ. Er hat den so ziemlich schlechtesten Ruf an der ganzen Uni. Würden wir nicht viele gemeinsame Kurse besuchen und uns denselben Studiengang teilen, hätte er mich bisher wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen. Außerdem könnte man sagen, dass Jase und er Feinde sind.«
»Jason hat einen Feind? Dein Bruder?«, frage ich sie überrascht.
»Er und Zac hatten in der Vergangenheit einige Probleme miteinander. Als Jase noch klein war, hat Zac ihn ziemlich fies behandelt.«
»Das ist mies«, sage ich zu ihr. »Aber du magst ihn, also muss doch etwas Gutes an ihm sein.«
Mira nickt. »Ich mag ihn sehr. Aber ich habe das Gefühl, dass ich das nicht darf. Außerdem bin ich wahrscheinlich die Letzte, mit der Zac etwas anfangen würde.«
»Quatsch. Du bist toll, Mira! Wenn er das nicht sieht, ist er dumm.« Wieder will sie widersprechen, doch erneut falle ich ihr ins Wort. »Außerdem sollte man einen Menschen nie zu schnell verurteilen. Ich bin mir sicher, auch Zac hat seine guten Seiten.«
Mira lächelt. »Danke, dass du das sagst.«
»Gerne. Und wenn du mal über diese Sache sprechen möchtest, bin ich immer für dich da.«
Wir lächeln uns an, dann wechselt Mira das Thema und ich beschließe, nicht weiter darauf herumzureiten. Sie hat mir so viel erzählt, wie sie möchte, und das ist vollkommen okay.
»Das hätte ich fast vergessen!« Sie kramt ihr Handy aus ihrer schwarzen Schürze. »Ich würde dich gern in unseren Gruppenchat einfügen, wenn du möchtest. Die Jungs sind auch einverstanden.«
»Das wäre schön«, erwidere ich lächelnd, woraufhin Mira auf ihrem Smartphone herumtippt. Schließlich steckt sie es wieder zurück in ihre Schürze. »Willkommen in unserer verrückten Gruppe. Wir werden jetzt bestimmt häufiger etwas zusammen unternehmen und so können wir uns viel besser kurzschließen.«
»Danke dir!«
Eine Weile unterhalten wir uns über die Uni. Mira muss für die nächste Woche einen Vortrag vorbereiten, während ich mich dringend an meine erste Hausarbeit setzen muss. Einer der Professoren ist schon zu Beginn des Semesters krank, deshalb sollen wir uns die Themen seiner Vorlesung selbst aneignen und eine Hausarbeit über ein Wunschthema aus diesem Gebiet abgeben, schon eher, als es normalerweise üblich ist. Ich nehme mir für diesen Abend vor, mich für ein Thema zu entscheiden und schon einmal zu recherchieren.
»Finn hat dich also gestern nach Hause gebracht?«, fragt Mira mich beiläufig.
»Ja, hat er.«
»Du magst ihn wirklich«, stellt Mira fest.
Kurz überlege ich, es einfach abzustreiten. Doch dann erinnere ich mich daran, dass Mira nun meine Freundin ist und ich mich ihr anvertrauen kann. »Ich mag ihn sehr.«
Schon zum zweiten Mal greift Mira über den Tisch nach meiner Hand. »Das ist okay, Enna. Finn ist toll!«
»Aber Finn hat auch eine Freundin. Und wir haben uns erst wiedergefunden, nach all der Zeit. Es hat sich viel verändert ...«
»Aber eure Liebe zueinander ist geblieben, Enna«, unterbricht Mira mich sanft. »Nur scheint sie jetzt eine andere zu sein.«
»Finn ist mit Rachel zusammen. Es ist total verwerflich von mir, auch nur daran zu denken, dass mehr zwischen uns sein könnte. Ich weiß auch nicht, was gerade mit mir los ist. Finn war immer mein bester Freund, dann war er so lange weg und jetzt ist auf einmal alles anders und da ist dieses komische Kribbeln in mir, wenn wir uns sehen und ...«
»Enna«, stoppt meine Freundin mich. »Vergiss nicht, auch mal Luft zu holen, du läufst schon rot an.« Mira lacht.
Ich atme einmal tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen. Schon seit Tagen beschäftigt mich dieses Gefühlschaos in mir.
»Du brauchst dich nicht schlecht fühlen, weil du ihn magst, Enna. Ihr steht euch viel näher, als Rachel und Finn es je werden. Finn liebt dich auch, Süße. Ich weiß nicht, ob er dich auf die gleiche Weise liebt, wie du ihn liebst, aber er liebt dich.«
Zuversichtlich lächelt sie mich an.
»Danke, Mira.«
Sie schaut auf meine leere Tasse. »Hast du noch Zeit für einen zweiten Kaffee?«, fragt sie mich.
»Für Kaffee habe ich immer Zeit!«
Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab, Rachel sitzt neben mir auf meinem Bett. Bereits seit einer Stunde diskutieren wir über den gestrigen Abend. Nachdem ich sie mit dem Kuss konfrontiert habe, von dem Jase mir heute erzählt hat, habe ich eine Entschuldigung erwartet. Entschuldigt hat sie sich, nur um kurz darauf auch mir eine Teilschuld zuzuweisen. Dieses Gespräch hier ist schon lange überfällig und ich hoffe, dass wir nun endlich einige Dinge klären können.
»Wir hatten diese Diskussion jetzt schon so oft«, ruft Rachel aufgebracht. »Es ist jedes Mal das Gleiche. Ich verstehe dich nicht, du verstehst mich nicht. Wir drehen uns im Kreis, Finn!«
Überfordert mit der Situation, fahre ich mir durch die Haare. »Glaubst du etwa, ich weiß das nicht?«
»Keine Ahnung, Finn! Immerhin bin scheinbar wieder ich diejenige, die alles falsch gemacht hat!«
Ruckartig drehe ich mich zu ihr um. »Was erwartest du denn von mir? Dass ich mich dafür entschuldige, dass du einen anderen geküsst hast?«
Rachel wirft die Hände in die Luft. »Du hast mich so wütend gemacht, sonst wäre es gar nicht dazu gekommen!«
»Für dich bin also ich der Schuldige?« Ich lasse mich erschöpft neben sie auf mein Bett fallen. Dieser Streit raubt mir alle Nerven.
»Hättest du mich nicht ständig damit genervt, dass ich mein Handy weglegen soll, hätten wir uns nicht gestritten und dann hätte ich diesen Kerl auch nicht geküsst!«
»Hör auf«, sage ich so ruhig ich kann. Ich halte ihre Vorwürfe nicht aus.
Doch Rachel denkt scheinbar gar nicht daran. »Mal abgesehen davon, bin ich nicht die Einzige, die Scheiße gebaut hat. Immerhin bist du mit Enna abgehauen und hast mich einfach zurückgelassen. Erzähl mir nicht, dass da nicht auch mehr lief!«
Nun kann auch ich nicht mehr ruhig bleiben. »Lass sie da raus, Rachel! Du scheinst mich wirklich schlecht zu kennen, wenn du glaubst, dass ich dich betrügen würde.«
»Wie auch immer. Fakt ist, dass du mit ihr abgehauen bist, während ich allein in diesem Club stand ...«
»Du warst nicht allein, Rachel. Mira und Jase waren bei dir«, berichtige ich sie. »Und ich Idiot schreibe ihm noch, dass er dich nach Hause bringen soll, während du dir schon den nächstbesten Typen geschnappt hast.« Entsetzt über meine eigene Dummheit schüttle ich den Kopf.
»Das war nicht einfach irgendein Typ!«, entfährt es Rachel daraufhin.
Ich zucke zusammen. »Was meinst du damit?«
Sie senkt den Blick.
»Mark ist nicht irgendein Typ. Er und ich chatten schon seit einer Weile.«
»Was?«, frage ich sie entsetzt. »Das läuft schon länger?«
»Bisher lief da nichts, außer dem Schreiben. Aber ich mag ihn. Er versteht mich, Finn. Er unterstützt meine Träume ...«
»Ich habe dich auch immer unterstützt, Rachel!«, unterbreche ich sie. »All die Male, die ich stundenlang Fotos von dir in irgendwelchen neuen Outfits gemacht habe. All die Messebesuche, zu denen ich dich gefahren habe ...«
»Darum geht es doch gar nicht, Finn! Es geht darum, dass du es nie verstehen konntest. Du hast es immer nur respektiert !«
Wieder fahre ich mir aufgebracht durch die Haare. Überraschenderweise kniet Rachel sich nun vor mich und legt ihre Hände auf meine Oberschenkel. »Entschuldige, das war nicht fair«, murmelt sie und sieht mir nun wieder in die Augen. »Es ist nur so, dass ich das Gefühl nicht loswerde, dass du meine Leidenschaft tolerierst, aber sie nicht nachempfinden kannst.«
Das ist das Ehrlichste, das sie seit Wochen zu mir gesagt hat. Ich beschließe deshalb, mich zu beruhigen und ihr weiter zuzuhören. Mit einem Nicken bedeute ich ihr weiterzusprechen.
»Es geht mir nicht darum, berühmt zu werden, mehr Follower zu bekommen und meine Fotos später in irgendeinem Modemagazin zu sehen«, erklärt sie mir. Es scheint ihr wirklich wichtig zu sein, dass ich sie verstehe. Es fühlt sich einfach toll an, etwas durch mich Entstandenes mit der Welt zu teilen. Es tut gut zu lesen, dass meine Arbeit geschätzt wird.«
»Das verstehe ich«, werfe ich schließlich ein und meine es komplett ehrlich. »Aber weshalb leidet ständig unsere Beziehung darunter?«
»Ich weiß es nicht, Finn.« Rachel erhebt sich und setzt sich schließlich wieder neben mich auf das Bett.
Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, während die vergangenen Wochen an mir vorbeiziehen. Jeder Streit, jede Meinungsverschiedenheit. Als Freunde haben Rachel und ich so gut funktioniert. Sie war schon immer eher verschlossen, besonders meinen Freunden gegenüber. Doch seit wir ein Paar sind, scheine auch ich kaum noch einen Draht zu ihr zu finden.
»Bist du noch glücklich, Rachel? Willst du diese Beziehung noch?«
Rachel schaut auf den Boden. Ich kenne ihre Antwort bereits, doch ich will, dass sie mir dabei in die Augen sieht.
»Schau mich bitte an«, sage ich ruhig.
Sie hebt den Blick und fängt meinen damit ein. »Nein«, bringt sie hervor. Es schimmern tatsächlich Tränen in ihren Augen. Noch nie zuvor habe ich sie so verletzlich gesehen. Es fühlt sich beängstigend an, doch es erleichtert mich zugleich zu sehen, dass sie dieses Gespräch scheinbar doch mehr bewegt, als ich annahm. »Es tut mir leid, Finn. Aber wir funktionieren nicht mehr. Nicht als Paar, auch wenn ich mir so sehr wünsche, dass es anders ist.«
Und obwohl sie es nicht ausgesprochen hat, sehe ich es in ihrem Blick. Ich genüge ihr nicht mehr. Und in diesem Moment fällt mir auf, dass wir diese Worte nie zueinander gesagt haben: Ich liebe dich.
Nie haben wir diese drei Worte ausgesprochen.
Und auch, wenn ich tief in mir bereits damit gerechnet habe, dass es keinen anderen Ausweg gibt, tut es weh, unsere Beziehung nun in Scherben zu sehen.
Fünf Jahre zuvor — 2015, Januar
»Ich kann es nicht mehr hören, Vera! Wir treten auf der Stelle!«, höre ich meinen Vater brüllen, während ich in meinem Bett liege.
Schon wieder streiten die beiden, und das so laut, dass ich nicht schlafen kann. Ich verstehe nicht, worum es geht, doch ich kann es mir denken. Seit Wochen geht das so, meinetwegen.
Weil ich schuld bin. Schuld daran, dass meine Familie Stück für Stück zerbricht und ich nichts tun kann, um das zu verhindern.
Hört auf!, denke ich. Hört doch endlich auf, so laut zu schreien!
Um mir die Zeit zu vertreiben und mich abzulenken, beginne ich damit, die Sterne zu zählen, die noch immer an der Decke über meinem Bett befestigt sind. Zu meinem neunten Geburtstag habe ich sie bekommen, nun kleben sie schon seit acht Jahren dort oben und selbst jetzt, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, bringe ich es nicht über mich, sie endlich abzunehmen. Zu groß ist noch immer meine Verbindung zu den Sternen.
»Finn ist ein Jugendlicher, fast noch ein Kind, Collin! Er wusste doch nicht, was er tat!«, ruft meine Mum.
Ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mich verteidigt und insgeheim weiß ich, dass auch Dad mir keinen Vorwurf machen möchte.
Jede verdammte Sekunde gebe ich mir die Schuld daran, dass Enna so traurig ist. Ich bin der Grund dafür, dass ich sie nicht mehr sehen darf und wir in wenigen Tagen wegziehen müssen. Meinetwegen konnten wir nicht zusammen auf den Ball gehen. Den Schulball, auf dem ich ihr doch sagen wollte, was ich für sie empfinde. Mein Fehler ist der Grund dafür, dass Mum und Dad sich noch mehr streiten als zuvor.
Und warum das alles? Weil ich einen Verdacht hatte. Einen dämlichen Verdacht, der dazu geführt hat, dass Ennas Lachen vielleicht nie mehr so unbeschwert klingen wird wie früher.
Jetzt sitze ich hier und heule wie ein kleines Baby. Dabei bin ich der Letzte, der einen Grund zum Weinen hat, während wenige Meter von mir entfernt die Welt des Mädchens, in das ich mich verliebt habe, in Scherben liegt.
Irgendwann höre ich die Haustür knallen und kurz darauf Mums Schluchzen aus der Küche. Ich werfe meine Bettdecke beiseite, verlasse mein Zimmer und gehe zu ihr.
»Mum?«, flüstere ich. Sie sitzt auf einem unserer Küchenstühle, den Kopf in die Hände gestützt. Als sie mich sieht, setzt sie ein Lächeln auf.
»Hey, Finn. Kannst du nicht schlafen?«
»Wo ist Dad?«, frage ich, ohne auf ihre Frage einzugehen.
»Dein Dad kommt gleich wieder.«
Ich nicke und setze mich an den Küchentisch, während Mum uns einen Tee macht. Nach ein paar Minuten stellt sie die dampfenden Tassen vor uns ab und setzt sich wieder zu mir.
»Alles wird gut, Finn«, sagt sie. »Hast du geweint?« Besorgt sieht sie mich an.
»Ja, aber alles wird gut, habe ich recht?«
Mum nickt und wir trinken schweigend unseren Tee. Doch auch die warme Flüssigkeit kann die Kälte in mir nicht vertreiben.
Irgendwann muss Rachel gegangen sein, denn als ich aus meiner Erinnerung wieder in die Realität finde, sitzt sie nicht mehr neben mir.
Ich bin wütend und enttäuscht darüber, dass ich so viel in diese Beziehung investiert habe, während Rachel schon länger mit uns abgeschlossen hatte. Obwohl es mich verletzte, dass sie bei unseren Treffen oft so abwesend war, habe ich mich nach ihr erkundigt. Ich habe mir ihre Fotos angesehen, mir Zeit für sie genommen und sie immer unterstützt.
In diesem Moment bereue ich, dass wir unsere Freundschaft damals aufgegeben haben. Wir dachten beide, dass wir das Richtige tun, und zu Beginn hat es sich auch so angefühlt. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass es ein großer Fehler war. Wir sind einfach zu verschieden. Und wahrscheinlich habe auch ich durch die Dämonen meiner Jugend, die mich noch immer verfolgen, viel negative Energie in unsere Beziehung gebracht.
Unsere Trennung fühlt sich richtig an, und dennoch ist da wieder dieses Gefühl in mir, das mich nicht loslässt: das Gefühl, versagt zu haben. Ich konnte diese Beziehung nicht retten, genauso wie ich meine Freundschaft zu Enna damals nicht retten konnte.
Wieder einmal fühle ich mich, als würde mir alles aus den Händen gleiten, was ich berühre.
Am Dienstag nach der Party mache ich mich sofort nach der Uni an meine Hausarbeit. Mit meinem Laptop auf dem Schoß sitze ich im Schneidersitz auf meinem Teppich, um mich herum liegen kreuz und quer meine Unterlagen verteilt. Noch immer habe ich es nicht geschafft, mich nach einem Schreibtisch für meine Wohnung umzusehen. Mein alter von zu Hause war leider nicht mehr transportfähig und zudem auch noch viel zu klein für meine Zwecke. Deshalb habe ich mich jetzt einfach auf dem Zimmerboden ausgebreitet. Neben mir liegt Beth an mich gekuschelt auf dem Teppich und schläft.
Während ich das Internet nach Fachliteratur durchsuche, die ich in meinen Text einbauen kann, wandern meine Gedanken immer wieder zu Finn. Ich frage mich, wie es ihm geht, und mache mir Sorgen. Schon seit mittlerweile drei Tagen habe ich nichts mehr von ihm gehört. Als ich gestern mit Mira telefonierte, versicherte sie mir, dass es ihm so weit gut gehe, er aber Zeit brauche, um alles zu verarbeiten. Bisher konnte ich mich davon abhalten, ihm eine Nachricht zu schreiben, doch mit jeder Stunde fällt es mir schwerer, mich nicht bei ihm zu melden. Ich erinnere mich daran, wie sehr ich meinen besten Freund damals gebraucht hatte und wie weh es mir tat, dass er nicht da war. Natürlich ist mir bewusst, dass wir beide uns verändert haben und nicht mehr die kleine Enna und der kleine Finn sind, die ständig aufeinanderhingen. Dennoch frage ich mich, ob er mich vielleicht vermisst oder sich wünscht, dass ich mich bei ihm melde.
Kurzerhand greife ich jetzt doch nach meinem Handy und öffne einen neuen Chat. Seit Mira mich zur Gruppe hinzugefügt hat, habe ich seine Nummer, doch bisher haben wir noch nicht privat miteinander geschrieben. Jedes Mal, wenn ich die App öffne, muss ich grinsen, weil mich unser Gruppenname anspringt. Für mich hat Mira ihn von Die drei Musketiere einfach zu Die vier Musketiere umbenannt. Jason hat mich im Chat bereits in der Gruppe willkommen geheißen, während von Finn noch keine Reaktion kam.
Ich klicke auf sein Profilbild und schaue es mir im Vollbildmodus an. Darauf ist Finn zu sehen, der an einem See sitzt, von dem ich annehme, dass es sich dabei um den Starfall Lake handelt, den ich bisher nur auf Bildern gesehen habe. Ich hoffe, dass ich bald auch dort stehen werde, denn die Landschaft sieht wundervoll aus. Bevor ich es mir anders überlegen kann, tippe ich eine kurze Nachricht an Finn.
Hey, Finn. Geht es dir gut?
Ich versende die Nachricht, die aber nur einen Haken bekommt. Er scheint sein Handy also ausgeschaltet zu haben. Ich starre noch einige Sekunden auf den Chat, dann lege ich das Handy wieder beiseite, um mich auf meine Hausarbeit zu konzentrieren.
Am Sonntag habe ich noch den ganzen Abend überlegt, welchem Thema ich sie widmen möchte. Schließlich habe ich mich dafür entschieden, über Jane Austen zu schreiben. Sie ist eine der berühmtesten britischen Schriftstellerinnen, doch auch in Amerika waren ihre Romane sehr bekannt und sind es auch heute noch. Ich möchte unbedingt eine gute Bewertung in meiner ersten Arbeit haben und deshalb all mein Herzblut für diese Autorin in meinen Text legen. Neben allgemeinen Informationen über sie und ihre Werke möchte ich am Ende der Hausarbeit noch eine Rezension zu einem ihrer Romane einbauen, um meiner Arbeit noch eine persönliche Note zu verleihen.
Eine Weile suche ich in der Onlinebibliothek der Universität nach Texten und Informationen, die ich mir ausdrucke, um dann alles durchzulesen und mir die wichtigsten Fakten daraus zu markieren. Zwischendurch koche ich mir einen Kaffee und füttere Beth, doch abgesehen davon arbeite ich konzentriert, bis mich das Klingeln meines Handys aus meiner Trance reißt. Auf dem Display erkenne ich das Gesicht meines Dads.
»Hey, Dad«, begrüße ich ihn herzlich. Wir haben schon einige Tage nichts mehr voneinander gehört, deshalb bin ich froh, dass er sich mal wieder meldet.
»Hallo, mein Liebling. Wie geht es dir?«
»Gut so weit. Ich arbeite gerade an einer Hausarbeit«, antworte ich und lasse meinen Blick dabei über das Chaos in meinem Schlafzimmer gleiten.
»Engagiert wie immer!« Dad lacht. »Kommst du voran?«
Ich nicke, obwohl er mich nicht sehen kann. »Es läuft super.«
»Ich bin stolz auf dich!«
»Danke, Dad. Wie geht es dir?« Ich speichere das Dokument auf meinem Laptop und klappe ihn zu.
»Gut«, antwortet er knapp. Irgendwie klingt er heute wirklich seltsam. Als würde er mir etwas verschweigen.
»Möchtest du mir etwas sagen?«, frage ich ihn also lachend.
Er atmet einmal tief durch. »Das möchte ich tatsächlich. Ich weiß nur noch nicht so genau, wie.«
Wenn er keine passenden Worte findet, ist es ernst. Doch ich erkenne eine leichte Freude in seinen Worten, weshalb ich dennoch mit einer positiven Nachricht rechne.
»Jetzt bin ich aber neugierig. Raus damit!«
Kurz ist es ruhig am anderen Ende der Leitung, dann spricht er leise seine Neuigkeit aus. »Ich habe jemanden kennengelernt, Enna.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Eine Frau.«
Im ersten Moment bin ich total überrascht und nehme mir einige Sekunden, um seine Worte zu verarbeiten. Dann werde ich mir ihrer Bedeutung bewusst und lächle.
»Das ist toll, Dad.«
»Wirklich?«, fragt er mich überrascht. »Ich weiß, dass das seltsam für dich sein muss. Ich wusste gar nicht, wie ich es dir sagen soll, und hatte total Angst, dass du vielleicht denkst ...«
»Stopp, Dad!«, unterbreche ich ihn lachend. »Ich freue mich für dich. Es ist so lange her, dass Mum gestorben ist.« Ich merke, wie sich sofort die Tränen in meinen Augen sammeln. So ist es immer, wenn ich von ihr spreche, auch nach all den Jahren noch. »Du verdienst es, glücklich zu sein, Dad.«
Ich sehe ihn vor mir, wie auch er den Tränen nahe ist. »Danke, meine Süße. Du weißt, dass ich deine Mum nie vergessen werde.«
»Das weiß ich, Dad.« Nun kullern die Tränen über meine Wange.
Ich höre es am anderen Ende der Leitung schnauben. »Jetzt heulen wir beide, oder?«, frage ich ihn lachend, während ich mir mit den Ärmeln meines Pullovers die Tränen aus dem Gesicht wische.
»Scheint so«, antwortet er, ebenfalls lachend.
»Möchtest du mir von ihr erzählen?«
»Gern, Enna. Aber lieber persönlich, wenn ich dich mal wieder besuche.«
Ich nicke. »Das klingt gut, Dad.«
Wir quatschen noch eine Weile über die Uni, bis wir auflegen und uns für die kommenden Tage wieder zum Telefonieren verabreden. Anschließend widme ich mich wieder meiner Hausarbeit und stelle fest, dass ich wirklich stolz auf mich sein kann. Ich vermisse meine Mum, doch ich habe ihren Tod mittlerweile so gut verarbeitet, dass ich mich wirklich aus vollem Herzen für die neue Liebe meines Dads freuen kann.
Am Freitag arbeite ich vor der Uni einige Stunden im Buchladen. Meine erste Vorlesung habe ich an diesem Tag immer erst am Nachmittag, weshalb ich bis zum Mittag aushelfen kann.
Ernest hat mir bereits einen Überblick über meinen Aufgabenbereich gegeben. Ich darf Kunden beraten und auch abkassieren. Wenn es etwas ruhiger im Geschäft ist, nutze ich die Zeit, um neue Ware zu verräumen und gegebenenfalls auch die Lagerbestände zu checken und Bücher nachzubestellen. Während meiner ersten Schichten ist Ernest immer mit im Buchladen, um für meine Fragen bereitzustehen. Wir teilen uns die Arbeit und sind ein gutes Team. Ich habe das Gefühl, nicht nur eine Aushilfe zu sein, sondern wirklich ein Teil des Buchladens. Ernest bezieht mich in viele Entscheidungen mit ein. Heute darf ich sogar das Schaufenster neu bestücken.
Gerade breite ich eine samtrote Decke über einem kleinen Podest im Schaufenster aus, um darauf einige Bücher zu platzieren. Jeden Monat wird hier neu dekoriert und ich bin wirklich glücklich darüber, dass ich die Gestaltung für den Oktober übernehmen darf. Es wird herbstlich im Schaufenster. Zu Hause habe ich mir aus buntem Papier Blätter gebastelt, die ich zwischen den Büchern im Schaufenster verteilen möchte. Die Geschichten, die ich mir zum Ausstellen ausgesucht habe, sind alle für gemütliche Leseabende gedacht. Ich greife nach einer Ausgabe von Cornelia Funkes Tintenherz , einem meiner absoluten Lieblingsbücher der deutschen Schriftstellerin, die mittlerweile aber in Italien lebt und international erfolgreich ist. Ich streiche gerade über den roten Einband, als Ernest seinen Kopf ins Schaufenster steckt.
»Kommst du zurecht?«, fragt er mich grinsend.
Ich nicke. »Danke, dass ich mich hier austoben darf.«
Ernest lacht und betrachtet die vielen Blätter, die um mich herumliegen. »Du hast dir ja wirklich was überlegt. Wie toll!«
»Ich hoffe, die Buchauswahl ist in Ordnung?« Ich deute auf den Stapel neben mir, auf dem sich neben der Tintenwelt -Reihe auch einige aktuelle Bücher befinden. Er liest sich mit schief gelegtem Kopf die Titel der fünf Bücher durch, die ich ausgewählt habe.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Und wieder einmal zeigt sich mir, dass du einen ausgezeichneten Buchgeschmack hast, meine liebe Enna.«
Grinsend danke ich ihm und setze meine Arbeit fort. Ernest verschwindet im hinteren Bereich des Buchladens. In der nächsten Stunde dekoriere ich das Schaufenster. Zwischendurch berate ich eine Kundin, die nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre kleine Tochter sucht. Die Arbeit im Buchladen macht mir großen Spaß und ich freue mich, dass ich mein Wissen über Bücher einbringen und meine kreative Ader ausleben kann.
In meiner kurzen Pause schaue ich auf mein Handy und entdecke eine Nachricht von Mira, die fragt, ob wir uns zum Mittagessen treffen wollen. Ich antworte ihr, dass ich in einer Stunde fertig mit Arbeiten bin und sie mich gern an der Buchhandlung abholen kann. Die Zeit vergeht wie im Flug und schließlich läutet die kleine Glocke über der Tür des Buchladens und Mira kommt zu mir an die Kasse, an der ich gerade einen Kunden bediene.
»Viel Freude mit dem Buch!«, verabschiede ich den Mann, der sich eben eine Ausgabe von Roald Dahls Hexen hexen gekauft hat. Mira hat scheinbar gesehen, welches Buch er mitgenommen hat, denn als er an ihr vorbei in Richtung Ladentür läuft, stoppt sie ihn kurz. »Das ist toll. Sie werden es lieben!«, sagt sie grinsend zu ihm.
Lächelnd nickt er. »Den Film kenne ich schon. Jetzt bin ich gespannt auf das Buch.«
»Das Buch ist besser! Viel Spaß damit.« Mira wirft dem Mann ein letztes Lächeln zu, bevor er die Buchhandlung verlässt.
Ich laufe um die Ladentheke herum und begrüße meine Freundin mit einer herzlichen Umarmung. »Du hast Roald Dahl gelesen. Dich mag ich«, sage ich zu ihr, während wir uns umarmen.
Mira lacht. »Da bin ich aber froh.«
Wir lösen uns voneinander. Kurz laufe ich ins Hintere des Ladens, um mich von Ernest zu verabschieden, der mir für meine gute Arbeit heute dankt. Ich versichere ihm, dass es mir wie immer viel Freude gemacht hat, schnappe mir meinen Rucksack und meine Jacke und verlasse mit Mira den Buchladen.
Draußen empfängt uns ein kalter Windstoß. Langsam, aber sicher zieht der Herbst in Starfall ein, weshalb ich gestern auch meine dickere schwarze Jacke aus den Tiefen meines Schranks gekramt habe, die ich heute über Jeans und Pulli trage. Mira sieht heute wieder zauberhaft aus in ihrem roten Herbstrock und den schwarzen Stiefeletten, die sie dazu trägt. Auch sie hat sich in einen dunkelgrünen Mantel gekuschelt, der ihr Outfit super abrundet.
Während wir gemütlich zum Campus schlendern, unterhalten wir uns über die Fortschritte in unseren Ausarbeitungen. Mira ist fast fertig mit ihrem Vortrag, den sie in der kommenden Woche halten muss. Ich erzähle ihr, dass ich gut vorankomme mit meiner Hausarbeit, auch wenn ich sie bestimmt noch mehrmals überarbeiten werde. Ich bin Perfektionistin und möchte, dass ich das Beste aus meiner Aufgabe heraushole und sie möglichst fehlerfrei abgeben kann. Mira fragt mich, weshalb ich schon zu Beginn des Semesters eine schriftliche Arbeit abgeben muss, und ich erkläre ihr, dass der Professor wegen Krankheit nicht vor Ort sein kann und deshalb mit uns vereinbart hat, dass wir unsere Arbeiten zeitiger abgeben, was für uns den Vorteil hat, dass wir in der Klausurenphase entlastet werden. Für die theoretischen Inhalte des Moduls haben wir einen Onlinezugang erhalten und in unserer Themenwahl sind wir sehr frei, sodass wir über etwas schreiben können, das uns wirklich interessiert, und in der Untersuchung unsere eigenen Erfahrungen einbringen können. Aus diesem Grund waren auch alle direkt einverstanden mit der zeitigen Abgabe.
Als irgendwann Miras Handy vibriert, zieht sie es aus ihrer Tasche und tippt darauf herum. »Jase hat ein Video an die Gruppe geschickt.«
Gemeinsam schauen wir das Video an, in dem zwei Katzen zu sehen sind, die sich gegenseitig abschlecken. Sofort müssen wir beide grinsen. »Wie süß!«, sage ich begeistert.
»Das hat er bestimmt reingestellt, um Finn zu provozieren. Der kommt nämlich seit Tagen nur noch zum Essen und Duschen aus seinem Zimmer raus.«
Sofort breitet sich wieder dieses seltsame Gefühl in mir aus, das ich bereits seit einer Woche zu verdrängen versuche. Nun sind es schon sieben Tage, in denen ich nichts von Finn gehört habe, und meine Sorge um ihn ist mit jedem Tag größer geworden, weil er noch immer nicht auf meine Nachricht geantwortet hat.
»Meinst du, das Video holt ihn aus seinem Loch wieder raus?« Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ihn aus seinem Zimmer lockt.
Mira schüttelt den Kopf. »Wahrscheinlich hofft Jase, dass ihn das Video so sehr provoziert, dass er ihm dafür eine runterhauen will. Aber Finn ist momentan alles so ziemlich egal.«
»Er vermisst Rachel bestimmt. Wie konnte sie ihm das nur antun?« Noch immer bin ich entsetzt darüber, dass Rachel Finn verletzt hat. Es fühlt sich an, als würde sich die kleine Enna, die Finns beste Freundin war, in mir melden und gegen diese Frau in den Kampf ziehen wollen, die ihm wehgetan hat.
»Ich glaube, Finns Problem ist eher, dass er in Selbstmitleid versinkt. Er zieht sich selbst oft in die Verantwortung, wenn schlimme Dinge geschehen, und redet sich wahrscheinlich gerade ein, dass er die Beziehung ruiniert hat. Das ist natürlich totaler Quatsch, das wissen wir alle, aber momentan ...«
»Er gibt sich die Schuld dafür, dass Rachel ihn betrogen hat?!«
Mira zuckt mit den Schultern. »Ich kann es mir vorstellen, ja.«
Ich erinnere mich daran, wie Finn mir von einer seiner Ängste erzählt hat — davon, dass er Panik davor hat, einem anderen Menschen nicht genug zu sein und ihn dadurch zu enttäuschen. Es liegt also nahe, dass er den Grund für die Trennung der beiden bei sich und seinen Fehlern sucht.
Der Gedanke, dass Finn in Selbstmitleid versinkt, macht mich so rasend, dass ich plötzlich stehen bleibe.
»Wo ist er gerade?«, frage ich Mira.
»In der WG. Er ist schon die ganze Woche nicht zur Uni gegangen, obwohl er sonst zu jeder Vorlesung geht. Er ist da normalerweise total penibel. Du kennst ihn ja.«
Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. »Macht es dir etwas aus, wenn wir unser Mittagessen heute verschieben?«
»Quatsch, das geht klar. Aber was hast du vor?« Überrascht sieht Mira mich an und scheint zu überlegen, was mir durch den Kopf geht.
»Ich werde Finn aus seinem Loch holen. Was denn sonst?«
Mira sieht mich überzeugt an. »Ich glaube, wenn das jemandem gelingt, dann dir.«
Ich nicke und überlege noch im selben Moment, wohin ich mit Finn gehen könnte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er muss raus aus seinem Zimmer und weit weg von der WG.
»Hat Finn einen Lieblingsplatz? Irgendeinen Ort, an dem er sich wohlfühlt und den er nicht mit Rachel verbindet?«
Mira blickt mich lächelnd an. »Der Starfall Lake!«
Ich nicke. Finn hat diesen Ort schon oft erwähnt.
»Wie kommen wir da hin?«
»Mit dem Auto«, antwortet sie mir. »Es fährt auch ein Zug, der in der Nähe hält, aber der fährt nur ein paar wenige Male am Tag.«
»Mit dem Auto also«, sage ich. Allein bei dem Gedanken daran, in dieses enge Gefährt zu steigen, wird mir übel. Doch ich will Finn zu diesem Ort begleiten. Er war so oft für mich da, auch nach dieser Partynacht blieb er bei mir und befreite mich aus meiner Angst. Nun will auch ich ihm eine Stütze sein.
Entschlossen nicke ich. »So machen wir es.«
Mira legt mir einen Arm um die Schulter. »Ich bin froh, dass du für ihn da sein möchtest, Enna. Er braucht dich jetzt, glaub mir.«
Wir umarmen uns zum Abschied. Mira geht in Richtung Campus davon und ich mache mich auf den Weg nach Hause. Unterwegs schreibe ich Finn eine kurze Nachricht, dass er sich etwas anziehen und in der WG auf mich warten soll, obwohl ich ohnehin bezweifle, dass er auf sein Handy schaut. Einer Kommilitonin, die mit mir in den heutigen zwei Vorlesungen sitzt, schreibe ich noch in einer SMS, dass ich heute nicht komme, und bitte sie, mir später ihre Notizen zu schicken. Es ist das erste Mal, dass ich nicht zu einer Vorlesung gehe, doch ich habe dort keine Anwesenheitspflicht und die Themen, die heute durchgenommen werden, sind mir schon bekannt — das hat mir mein Uni-Planer auf dem Laptop heute Morgen verraten.
Also gut, Enna, mache ich mir in Gedanken Mut, während ich die Straße entlang zu meiner Wohnung laufe. Es wird Zeit, dass du dich der nächsten deiner Ängste stellst.
Das laute Schrillen der Klingel reißt mich aus dem Schlaf. Ich werfe einen Blick auf den Wecker neben mir und stelle fest, dass es schon zwei Uhr nachmittags ist. Obwohl ich keine Lust habe aufzustehen, quäle ich mich aus dem Bett und schlurfe in meiner Boxershorts zur Wohnungstür.
Seit einer Woche habe ich keinen Fuß mehr aus der Wohnung gesetzt. Während Rachel, laut ihres Insta-Profils, ihr Leben genießt, habe ich noch immer an unserem Streit zu knabbern. Es ist nicht die Tatsache, dass wir uns getrennt haben, die mich belastet. Vielmehr sind es die Vorwürfe, die Rachel mir gemacht hat, und die Tatsache, dass ich mal wieder etwas in meinem Leben gehörig versaut habe.
Ich öffne die Wohnungstür und erwarte den Postboten oder Jase, der häufiger seinen Schlüssel vergisst. Als ich in Ennas warme braune Augen schaue, erstarre ich. Was tut sie denn hier?
»Hey«, begrüßt sie mich kurz. Bevor ich sie hereinbitten kann, stürmt sie bereits an mir vorbei. In der einen Hand trägt sie einen großen Korb und unter den anderen Arm hat sie eine große Picknickdecke geklemmt. Sie geht an mir vorbei in die Küche und ich laufe ihr hinterher. Ich bin noch gar nicht richtig wach und kann kaum klar denken.
»Was machst du hier?«, frage ich sie und fahre mir mit beiden Händen über das Gesicht. Ein lautes Gähnen entfährt mir.
Enna steht vor mir, den Korb und die Decke neben sich auf dem Boden, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie will gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie zu realisieren scheint, wie knapp ich bekleidet bin. Ihr Blick wandert von meinem Gesicht über meinen Oberkörper und bleibt etwas zu lang in der Mitte meines Körpers hängen, bis er wieder nach oben wandert und auf meiner Brust liegen bleibt. Ich frage mich, was sie scheinbar so fasziniert, aber was es auch sein mag, es hinterlässt ein unglaubliches Gefühl in mir. Enna erröten zu sehen, lässt ein Prickeln durch meinen gesamten Körper schießen.
»Enna?« Sofort erwacht sie aus ihrer Trance und richtet den Blick wieder auf mein Gesicht.
Peinlich berührt räuspert sie sich. »Könntest du dir etwas anziehen?«, fragt sie mich, woraufhin ich beide Augenbrauen nach oben ziehe und sie belustigt anschaue. »Bitte«, setzt sie flehend hinterher.
»Warum sollte ich mir etwas anziehen? Ich habe nicht vor, irgendwo ...«
»Du verschwindest jetzt sofort in deinem Zimmer und ziehst dir etwas an!«, ruft Enna und scheint dabei noch mehr zu erröten. Süß.
»Erklärst du mir dann auch, weshalb du mich beim Schlafen störst?«
»Du hast nicht allen Ernstes bis jetzt geschlafen. Finn!«
Ich lache und in diesem Moment fällt mir auf, dass ich das schon seit Tagen nicht mehr getan habe. Während ich in meinem Schrank nach einer Hose, einem Shirt und meinem schwarzen Hoodie krame, frage ich mich erneut, was sie vorhat.
Enna schaut in den Picknickkorb, als würde sie sich vergewissern wollen, dass sie nichts vergessen hat und alles an Ort und Stelle ist.
»Was hat das alles zu bedeuten?«
Wieder stemmt Enna die Hände in ihre Hüften. Siegessicher sieht sie mich an. »Wir beide machen jetzt einen Ausflug.«
»Davon weiß ich ja noch gar nichts.«
»Hättest du in der letzten Stunde mal auf dein Handy geschaut, hättest du dich darauf vorbereiten können. Da du das nicht getan hast, musst du jetzt leider sehr spontan sein.«
»Wohin soll es denn gehen?« Eigentlich habe ich gar keine Lust, die Wohnung zu verlassen.
»Wir fahren an den See.«
»Enna. Nimm es mir nicht übel, aber ...«
»Vergiss es, Finn!«, ruft Enna und drückt mir ihren rechten Zeigefinger an die Brust. »Du hast seit Tagen diese Wohnung nicht verlassen. Und versuch erst gar nicht, dich da rauszureden, deine Freunde haben mir von deinem Igel-Verhalten erzählt!«
Ich lache. »Meinem Igel -Verhalten?«
»Genau. Seit Tagen vergräbst du dich hier in deiner Höhle. Das werden wir jetzt ändern!«
Ich sehe die Entschlossenheit in ihrem Blick und sehe ein, dass es wohl schlauer ist, jetzt nachzugeben. »Du weißt aber schon, dass es ungefähr fünf Stunden Fußmarsch sind bis zum Starfall Lake?«, frage ich sie belustigt.
»Wir werden nicht laufen«, sagt Enna entschlossen.
»Der Zug fährt nur ...«
»Einige Male am Tag, ich weiß. Wir werden mit deinem Auto fahren.«
Unsicher sehe ich sie an. »Enna, du musst das nicht tun.« Wenn ich an das letzte Mal denke, als ich sie in mein Auto setzen wollte, ist das nicht so gut gelaufen, und ich möchte sie auf keinen Fall erneut in Verlegenheit bringen.
»Ich will aber, Finn.« In ihrem Blick liegt Entschlossenheit.
»Bist du sicher?«, frage ich sie vorsichtig und lege meine Hand auf ihre Schulter. »Vielleicht ist es noch zu früh ...«
»Ich bin mir sicher. Ich habe eine Scheißangst, aber ich möchte es versuchen. Mit dir .«
Dass sie mir so sehr vertraut, haut mich in diesem Moment fast um.
»Also, was ist? Bist du dabei?« Fragend sieht sie mich an.
Ich atme tief durch. »Klar bin ich dabei.«