KAPITEL 21

Leben im Moment

Enna

»Geht es dir gut?«, flüstert Finn mir sanft ins Ohr. Wir liegen aneinandergekuschelt in meinem Bett, die Bettdecke über uns ausgebreitet, mein Kopf an seine Schulter gelehnt und seine Arme um mich geschlungen. Ich kann einfach nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen steigen und schließlich still über meine Wangen rollen.

»Enna?«, besorgt rückt Finn ein Stück von mir ab, um mir in die Augen sehen zu können.

»Es ist okay«, murmle ich ihm leise entgegen. »Ich bin nur so unglaublich glücklich.«

Erleichtert atmet Finn aus, dann beugt er sich zu mir und küsst mich ganz sanft.

»Wie war es für dich?«, fragt er mich dann liebevoll.

Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Es war perfekt.« »Hattest du starke Schmerzen?« Mit seiner Hand zieht er sanfte Kreise auf meinem nackten Rücken.

»Anfangs ja«, antworte ich ehrlich. »Aber mit der Zeit wurde es besser.« Ich hebe meinen Kopf und sehe, dass Besorgnis in seinen Augen liegt. »Es war wundervoll, Finn. Und mit der Zeit werde ich bestimmt auch besser, sodass ...«

»Enna«, unterbricht er mich und legt einen Finger unter mein Kinn. »Es war vielleicht nicht das erste Mal für mich. Aber dennoch hat es mir genauso viel bedeutet wie dir.«

Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Danke«, murmle ich.

»Wofür?«, fragt Finn, während er sich eine meiner Haarsträhnen um den Finger wickelt.

»Dafür, dass ich mich bei dir fallenlassen und einfach mitten im Moment leben kann«, antworte ich.

Lächelnd legt er seine Lippen auf meine und küsst mich.

Unter dem sanften Streicheln von Finns Hand auf meinem Rücken falle ich schließlich in einen ruhigen Schlaf. Und zum ersten Mal seit Langem fühle ich mich dabei sicher und beschützt. Schon bevor ich in den Schlaf gleite, weiß ich, dass die Albträume heute ausbleiben werden.

Weil er bei mir ist.

KAPITEL 22

Erinnerungen

Enna

Am Montagmorgen weckt mich das Klingeln meines Handys auf dem Nachttisch. Ich werfe einen Blick zu Finn, der ruhig neben mir schläft und den das Geräusch nicht gestört hat. Vorsichtig löse ich seinen Arm von mir, den er um meinen Bauch geschlungen hat, greife mir mein Handy und gehe damit in den Flur, um ihn nicht zu wecken. Die Schlafzimmertür schließe ich hinter mir, dann nehme ich Ernests Anruf entgegen.

»Ernest?«, frage ich und klinge dabei noch total verschlafen.

»Guten Morgen, Enna«, begrüßt er mich. »Ich habe dich doch hoffentlich nicht geweckt?«

»Nein, Ernest. Ich war ohnehin schon wach«, lüge ich, um ihm kein schlechtes Gewissen zu machen. »Was gibt es denn?«

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Ich weiß, dass du montags eigentlich nicht eingeplant bist, aber meiner Frau geht es nicht sonderlich gut heute. Ich würde gern nach Hause gehen, um nach dem Rechten zu sehen, also ...«

»Ich springe natürlich gern ein«, unterbreche ich ihn. »Das ist gar kein Problem. Eine Freundin kann im heutigen Seminar für mich mitschreiben.« Wenn es Ernests Frau nicht gut geht, sollte er sich um sie kümmern, anstatt im Buchladen zu stehen und sich Sorgen zu machen. Und ich habe immerhin Harlow, auf die ich mich verlassen kann.

»Du bist ein Schatz, Enna«, bedankt er sich.

»Ich mache mich schnell fertig und bin in einer halben Stunde im Buchladen.« Mit dem Handy am Ohr laufe ich ins Badezimmer.

»Ich danke dir, meine Liebe«, erwidert Ernest, dann verabschieden wir uns.

Während ich mir die Zähne putze, lasse ich den gestrigen Tag Revue passieren. Finn und ich haben beinahe den ganzen Tag mit Kuscheln verbracht. Gestern Abend haben wir dann ein weiteres Mal miteinander geschlafen. Finn so nah zu sein, erfüllt mich mit so viel Glück und Liebe, dass ich es in vollen Zügen genieße. Gestern war das Ziehen schon viel weniger zu spüren, obwohl ich noch immer keinen Orgasmus hatte. Doch ich habe für mich beschlossen, mir damit keinen Druck zu machen. Finn ist der wundervollste Mensch, den ich kenne. Er ist geduldig und liebevoll. Ihm kann ich vertrauen und mit ihm ist alles so viel leichter.

Ich hatte mich auf den Tag heute mit ihm gefreut, doch Ernest braucht meine Hilfe und die Arbeit in der Buchhandlung macht mir Spaß. Außerdem würde ich nach dem Mittag schon wieder hier sein, da das Starfall Books montags ohnehin nur bis dreizehn Uhr geöffnet hat und ich den Laden somit schon zur Mittagszeit schließen kann.

Nachdem ich meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und mir meine Jeans und einen gemütlichen Pullover angezogen habe, werfe ich noch einen kurzen Blick in das Zimmer. Finn liegt mit nacktem Oberkörper in meinem Bett, den einen Arm hinter seinem Kopf verschränkt und den anderen unter dem weißen Laken vergraben. Beth hat sich in der Zwischenzeit an seine Beine gekuschelt und schläft neben ihm. Bei diesem Anblick geht mir das Herz auf. Am liebsten würde ich mich wieder zu den beiden legen und mich an Finn kuscheln, um seine Wärme spüren zu können, doch ich bleibe standhaft. Ich beschließe, ihn nicht zu wecken, da ich mich erinnere, dass er montags ohnehin keine feste Vorlesung hat und den Tag meistens nur zur Vorbereitung auf die Woche nutzt.

In der Küche greife ich nach meinem Notizblock und hinterlasse Finn eine kurze Nachricht darauf. Anschließend schnappe ich mir meine Handtasche und den Wohnungsschlüssel und mache mich auf den Weg zur Buchhandlung.

Finn

Ich werde von einem lauten Geräusch aus dem Schlaf gerissen und brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ich nicht in meinem Bett liege, sondern in Ennas aufgewacht bin. Ein Grinsen bei der Erinnerung an die letzte Nacht überkommt mich, doch als ich nach Enna greifen will, stelle ich fest, dass sie nicht mehr neben mir liegt.

Verwirrt richte ich mich auf, als das nervige Geräusch erneut ertönt. Diesmal bin ich wach genug, um es deutlich als Türklingeln identifizieren zu können. Beth gibt einen murrenden Laut von sich, als ich mich aus dem Bett quäle und sie allein darin liegen lasse. Auf dem Weg zur Tür frage ich mich, wo Enna ist und wer um Gottes willen vormittags an ihrer Tür klingelt. Nur in meiner Boxershorts schlurfe ich zur Wohnungstür und ziehe sie auf, während ich mir verschlafen über das Gesicht reibe.

»Na endlich, Enna. Ich dachte schon, du hast mich ...«, beginnt der Mann vor mir, während er sein Handy von seinem Ohr löst. Als er mich ansieht, stockt er in seinen Worten. Und mir bleibt im selben Moment der Atem weg.

Ich erkenne ihn sofort. In den letzten Jahren ist er gealtert, doch wie könnte ich mich nicht an ihn erinnern?

»Collin«, bringe ich nur hervor, während er mich aus geweiteten Augen einmal von oben bis unten mustert.

Nie wieder, Finn. Nie wieder wirst du ihr zu nahekommen.

Bei der Erinnerung an die letzten Worte, die er zu mir sagte, als ich fünfzehn Jahre alt war, durchfährt mich eine eisige Kälte. Plötzlich werde ich mit all dem konfrontiert, was ich in den letzten Wochen krampfhaft versuchte zu vergessen. Auf einmal prasseln all die Erinnerungen an damals auf mich ein, die ich verdrängen wollte. Für Enna. Für mich. Für uns .

»Finn«, presst er meinen Namen schließlich hervor.

Enna

Ich ziehe die schwere Tür der Buchhandlung hinter mir zu und schließe sie ab, bevor ich den Schlüssel in meiner Handtasche verschwinden lasse. Lächelnd laufe ich die Straße entlang in freudiger Erwartung, mich gleich wieder zu Finn kuscheln zu können.

Nachdem ich Ernest abgelöst und seiner Frau alles Gute gewünscht habe, verbrachte ich die letzten drei Stunden damit, Kunden zu bedienen und die neue Ware zu verräumen. Eine Kundin bedankte sich mehrmals für meine gute Empfehlung bei mir. Vor einigen Tagen hat sie auf meinen Rat hin einen Liebesroman gekauft, den sie dann in wenigen Stunden verschlungen hat. Heute hat sie sich den zweiten Teil der Buchreihe gekauft und mir mit ihrem Lob ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert.

Ich ziehe mein Handy aus meiner Jackentasche, um meine Nachrichten zu checken. Sofort springen mir drei verpasste Anrufe von Dad entgegen. Abrupt bleibe ich stehen, als mich die Erkenntnis trifft: verdammt. Wie zur Hölle konnte ich ihn vergessen? Erst letzte Woche haben wir telefoniert und darüber gesprochen, dass er mich heute an seinem freien Tag besuchen kommen möchte. Doch während all der schönen Momente mit Finn an diesem Wochenende habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit habe ich etwas vergessen. Ich werfe einen Blick auf die Zeitanzeige auf meinem Handy und stelle entsetzt fest, dass er bereits vor einer halben Stunde bei mir sein wollte.

Sofort rufe ich Finn an, um ihn vorzuwarnen, in der Hoffnung, dass Dad sich wie immer etwas verspätet und noch nicht vor meiner Wohnung steht. Bei dem Gedanken daran, wie Dad Finn halb nackt in meinem Bett vorfindet, muss ich beinahe lachen, doch ich möchte meinem Freund diesen peinlichen Moment gern ersparen. Immerhin hat Dad einen Zweitschlüssel für meine Wohnung und würde bestimmt nicht zögern, diese zu betreten, wenn er sich sorgt, weil ich ihm nicht öffne.

Finn nimmt nicht ab. Vielleicht schläft er noch und Dad ist noch gar nicht da , beruhige ich mich, während ich die Straße zu meiner Wohnung entlanglaufe. Als ich Dads Pick-up vor meinem Wohnhaus stehen sehe, verflüchtigt sich diese Hoffnung allerdings sofort.

Schnell öffne ich die Haustür und renne beinahe bis zu meiner Wohnung in den obersten Stock. Während ich nach dem passenden Schlüssel an meinem Schlüsselbund suche, halte ich abrupt inne. Aus dem Inneren meiner Wohnung sind laute Stimmen zu hören. Deutlich erkenne ich die meines Dads, der sich total in Rage redet. Verwirrt bleibe ich einige Sekunden vor meiner Wohnung stehen, doch von hier aus kann ich die Worte der beiden nicht verstehen, also sperre ich meine Wohnungstür auf.

»Ich kann es einfach nicht glauben!«, brüllt Dad aus der Küche. Vor lauter Schreck bleibe ich im Flur stehen. Unfähig, auch nur einen Mucks zu machen, höre ich den beiden Menschen, die ich am meisten liebe auf der Welt, beim Streiten zu.

»Wie kannst du ihr das antun, Finn?«, ruft Dad entsetzt. »Nach allem, was passiert ist? Nach allem, was du getan hast?«

»Glauben Sie, ich habe mir das ausgesucht?«, fragt Finn ihn ruhig, dennoch so laut, dass ich ihn verstehen kann. »Glauben Sie wirklich, ich wollte mich in ihre Tochter verlieben? Glauben Sie, es macht mir Spaß, sie jeden Tag aufs Neue zu belügen?« Ich trete einen Schritt näher an die offene Küchentür heran, um ihn besser hören zu können. Ich verstehe die Bedeutung seiner Worte nicht, bin verwirrt und nicht dazu in der Lage, auch nur einen Ton von mir zu geben.

»Du hast kein Recht dazu, hier das Opfer zu spielen!« Dads Brüllen lässt mich augenblicklich zusammenzucken.

»Ich werde ihr die Wahrheit sagen, Collin. Ich habe es wirklich vor, aber ich kann ihr momentan einfach nicht so sehr wehtun.«

Welche Wahrheit? Was geht hier vor sich?

»Einen Teufel wirst du tun!«, brüllt Dad. »Du wirst meine Tochter nicht noch einmal verletzen. Nicht, nachdem sie schon ihre Mutter deinetwegen verloren hat!«

Ich halte augenblicklich die Luft an.

Mum.

»Sie haben keine Ahnung, welche Vorwürfe ich mir seit diesem Tag mache!« Nun schreit auch Finn. »Ich leide seit verdammten fünf Jahren unter diesem Unfall!«

Der Unfall.

»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun. Aber verdammte Scheiße, das kann ich nun mal nicht! Ich kann nicht mehr rückgängig machen, dass ich in diesem verdammten Auto saß!«

Mum. Der Unfall. Das Auto.

»Du hättest dich damals einfach zusammenreißen können, verdammt! Wegen deiner dämlichen Vermutung hast du alles ...«

»Ich war fast noch ein Kind, Collin«, unterbricht Finn ihn. »Glauben Sie, ich wusste, was ich da tat? Ich hatte keine gottverdammte Ahnung!«

Ein lautes Schlagen auf den Küchentisch lässt mich zusammenzucken. »Du hattest nie das Recht dazu, Enna damit zu konfrontieren. Eine Affäre , Finn«, Dad lacht laut auf. »Wegen dieser lächerlichen Unterstellung entstand dieser dämliche Streit und nur deshalb liegt meine Frau jetzt unter der Erde, verdammt noch mal!«

Wenn Herzen wirklich brechen können, dann bin ich mir sicher, dass meins in diesem Moment in mehrere Teile zerfällt. Als die ersten Erinnerungen über mich einströmen, wird mir schwindelig. Ich greife nach der Kommode, um mich daran festzuhalten.

Mum. Der Unfall. Das Auto. Der Streit.

Wie ein Blitzschlag durchfährt die Erkenntnis meinen gesamten Körper. In derselben Sekunde wird mir schlecht und die Tränen steigen mir in die Augen. Die Erinnerungen, die ich mir seit Jahren herbeisehne, von denen ich nicht akzeptieren konnte, dass sie verschwunden sind — sie alle strömen in diesem Moment auf mich ein.

Mum. Der Unfall. Das Auto. Der Streit.

Finn.

Die Bilder dieses schrecklichen Tages ziehen an mir vorbei wie ein Film. Ich kann nicht verhindern, dass ein Zittern durch meinen Körper fährt und meine Beine weich werden lässt. Ich verliere die Kraft, kann mich nicht mehr aufrecht halten und kippe nach rechts. Mit meinem Arm fange ich mich ab, bevor ich zu Boden gehen kann. Ein lautes Klimpern erfüllt den Raum, als mir mein Schlüssel aus der Hand fällt.

Sofort verstummen die Stimmen in der Küche. Schnellen Schrittes kommt Finn in den Flur gelaufen. Einige Meter vor mir bleibt er stehen. Mit geweiteten Augen sieht er mich an. Durch meinen verschwommenen Blick sehe ich Wut, Angst und Verzweiflung in seinen Augen. Kurz darauf taucht auch Dad neben ihm auf und sieht mich ebenso schockiert an.

»Enna«, sprechen beide im selben Moment meinen Namen aus.

Das Bild der beiden verschwimmt. Stattdessen reihen sich die Bilder aus der Vergangenheit vor meinem inneren Auge aneinander und geben mir endlich alle Antworten, nach denen ich bisher vergeblich gesucht habe.

Ich höre Mums Lachen in meinem Ohr, als sie den Anruf über die Freisprechanlage entgegennimmt. Ich sehe meinen besten Freund neben mir sitzen, den Blick wütend auf sie gerichtet. Kurz darauf höre ich unsere lauten Stimmen durch das Auto rufen. Ich sehe meine Mum, wie sie sich nach hinten dreht, um uns zu beruhigen. Dann höre ich mich. Ich schreie sie an, als ich die rote Ampel erkenne.

Und dann höre ich den Knall, der mein Leben für immer veränderte.

Nichts bleibt in mir. Nichts als Dunkelheit.

Wie von selbst bewegen sich meine Füße in Richtung Schlafzimmer. In diesem Moment kann ich nichts mehr ertragen. Ich will die beiden Menschen, von denen ich nun weiß, dass sie mich jahrelang belogen haben, nicht mehr sehen. Ich will nichts mehr hören, nichts mehr sehen, aber vor allem nichts mehr fühlen.

Finn greift nach meinem Arm, doch ich entreiße ihn ihm, bevor er mich festhalten kann. Ich laufe ins Schlafzimmer, fühle mich wie gelähmt, betäubt. Die Tür werfe ich hinter mir zu und drehe dann den Schlüssel im Schloss. Ich werfe mich auf den Teppich, lasse mich einfach nach unten fallen, weil ich keine Kraft mehr habe, mich auf den Beinen zu halten.

Ich blende das Rufen aus dem Flur aus. Ich blende die helle Sonne aus, die auf mich scheint und meinen Körper wärmt, obwohl es in mir so kalt geworden ist. Ich blende alles aus, schließe meine Augen und lasse den Tränen freien Lauf.

KAPITEL 23

Alles verloren

Enna

Fünf Jahre zuvor — 2015, Januar

»Please forgive me«, singt Mum laut einen ihrer liebsten Songs mit, der gerade im Radio läuft.

Als Finn und ich uns vor einigen Stunden in den Kopf setzten, unbedingt Pizza bei unserem Filmeabend essen zu wollen, war Mum davon nicht wirklich begeistert. Doch ich konnte sie schon immer gut überreden und auch heute gelang es mir. Durch den heftigen Schneefall in den letzten Stunden pausieren die Lieferdienste ihre Auslieferung, weshalb Mum uns nun zum Italiener fährt, damit wir uns die Pizzen selbst abholen können.

Schon seit Stunden schneit es, doch wir haben nur einen kurzen Weg zum Einkaufszentrum, weshalb sie sich dann doch breitschlagen ließ. Nun sitzen wir im Auto, Mum fährt, Finn und ich sitzen auf der Rückbank und verdrehen bei ihrem lauten und schiefen Gesinge die Augen. Mum liebt es, ihre liebsten Songs im Auto mitzusingen.

Das Lied endet und irgendwann klingelt Mums Handy. Sie drückt einen Knopf vorn im Auto, nimmt den Anruf an, dann ist die Stimme von Finns Dad zu hören. »Olivia«, begrüßt er sie. »Wohin seid ihr denn unterwegs um diese Zeit? Vera und ich haben euch eben wegfahren sehen.«

Mum lacht. »Hallo, Martin. Enna und Finn haben sich in den Kopf gesetzt, dass sie unbedingt Pizza zum Abendbrot essen wollen.«

Finns Dad stimmt in ihr Lachen mit ein. »Und du hast dich überreden lassen, deshalb noch mal loszufahren?«

»Du kennst mich doch. Meiner Kleinen kann ich nichts abschlagen.«

»Was macht mein Sohn?« Kurz wirft sie einen Blick in den Rückspiegel zu uns beiden. »Gerade schaut er etwas grimmig«, antwortet sie dann.

Verwirrt drehe ich meinen Kopf vom Fenster weg und schaue meinen besten Freund an, der bis eben noch mit mir gelacht hat. Doch jetzt schaut er wirklich sehr komisch. Wütend starrt er meine Mum an.

»Finn?«, frage ich ihn leise, während Mum sich weiter mit seinem Dad unterhält. Doch anstatt mich anzusehen, schaut er verbittert geradeaus.

Mum und Martin lachen gemeinsam über irgendwas, doch ich höre den beiden nicht mehr zu. Finn ist wie ausgewechselt. Ich kann gar nicht verstehen, was auf einmal mit ihm los ist.

»Bis morgen, Olivia«, verabschiedet sich sein Dad dann. »Ich freue mich!«

Mum beendet lächelnd das Gespräch.

»So, ihr beiden«, sagt sie. »Wir sind gleich da. Habt ihr euch schon überlegt, welche Sorte Eis ...«

»Lassen Sie meinen Dad in Ruhe!«, ruft Finn auf einmal laut.

Ich zucke zusammen und auch Mum scheint geschockt zu sein. »Finn«, sagt sie. »Was ist denn auf einmal mit dir ...«

»Sie zerstören meine Familie!«, brüllt Finn. »Wegen Ihnen streiten Mum und Dad sich, oder? Weil Sie mit meinem Dad schlafen!« Mum zuckt augenblicklich zusammen.

»Finn!«, rufe ich entsetzt. »Hör auf, meine Mum so anzuschreien.«

»Enna, verstehst du es denn nicht? Deine Mum betrügt deinen Dad mit meinem Dad!«

»Wie bitte?«, ruft Mum nun aufgebracht. »Finn, wieso denkst du denn so was?«

»Ich habe Sie gesehen. Mit meinem Dad. Er hat Sie umarmt, und zwar nicht gerade freundschaftlich!«

Ich erkenne meinen besten Freund einfach nicht wieder. Es ist nicht in Ordnung, wie laut er meine Mum anschreit. Außerdem glaube ich ihm kein Wort.

»Wieso lügst du, Finn?« Sonst werde ich nie laut, aber er darf meine Mum nicht so anschreien. Niemand darf das.

»Ich lüge nicht!«

»Doch, das tust du!«

»Wieso glaubst du ihr mehr als mir?«

»Weil Mum so etwas nie tun würde!«

Wir schreien uns weiter an, während Mum die ganze Zeit über versucht, uns zu beruhigen. Doch wir hören ihr gar nicht zu. Irgendwann dreht sie sich ruckartig zu uns um.

»Jetzt hört doch auf zu schreien!« Ich schaue in ihr verzweifeltes Gesicht.

Dann erkenne ich die rote Ampel vor uns.

»Mum, pass auf!«, rufe ich ihr noch zu, doch es ist bereits zu spät.

Wir fahren auf die Kreuzung zu, als Mum sich erschrocken wieder nach vorn dreht und das Lenkrad krampfhaft umklammert hält.

Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das laute Hupen der Autos. Mum schreit auf, dann ist da ein lauter Knall und plötzlich fühlt es sich an, als würden wir fliegen. Ich werde in meinen Sitz gepresst und höre einen weiteren Schrei, von dem ich nicht weiß, ob er von Finn oder von mir kommt. Ein lautes Piepen ertönt in meinem Kopf.

Dann ist da nur noch Dunkelheit.

Finn

»Enna! Bitte mach die Tür auf.«

Als ich sie eben so vor mir stehen sah, mit diesem unglaublichen Schmerz in den Augen, blieb mir beinahe das Herz stehen. Dass sie dieses Gespräch mit anhören musste und so auf diese Weise die Wahrheit erfuhr, zerreißt mich innerlich.

Wieso habe ich nicht eher mit ihr gesprochen, verdammt?

»Sie wird nicht öffnen«, murmelt Collin hinter mir. »Wir haben es gehörig versaut.«

Ich drehe mich um, lehne meinen Kopf an die Tür und fahre mir mit den Händen durch die Haare. »Scheiße.« Tränen treten mir in die Augen. Ich kann nichts dagegen tun. All der Schmerz in mir überflutet mich in diesem Moment. »Ich kann sie nicht verlieren. Nicht noch einmal«, flüstere ich, mehr zu mir selbst als zu Ennas Vater.

Fast rechne ich damit, dass er mich daraufhin wieder mit Vorwürfen überschüttet, doch stattdessen macht er einen Schritt auf mich zu. »Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Ich war sauer, ich habe die Beherrschung verloren und dafür entschuldige ich mich.«

Ich bringe nur ein kurzes Nicken zustande. Eine Weile stehen wir schweigend nebeneinander, die Sorge um Enna scheint uns beide abzulenken und zu verhindern, dass unser Streit erneut eskaliert. Nichts ist mehr von Bedeutung, vergessen scheint seine Wut. Was in diesem Moment zählt ist nur Enna. Irgendwann höre ich sie leise schluchzen, und nun bin ich mir sicher, dass mein Herz tatsächlich einen Riss bekommt. Ich drehe mich wieder zur Tür um und lege meine Stirn an das Holz, das genauso kalt zu sein scheint wie mein Inneres in diesem Moment. Nichts wünsche ich mir mehr, als Enna zu halten, sie zu beruhigen, für sie da zu sein. »Enna«, flüstere ich. »Vergib mir. Ich ...«

Eine Hand legt sich von hinten auf meine Schulter. »Finn«, sagt Collin eindringlich. »Ich kenne meine Tochter sehr gut. Sie wird nicht aus diesem Zimmer kommen. Nicht, solange wir hier sind.«

»Aber wir müssen doch ...«, beginne ich.

»Hör mir zu, Finn.« Collin dreht mich zu sich. Ich erkenne keinen Hass und keine Wut mehr in seinem Blick. Stattdessen scheint uns die Sorge um Enna zu verbinden. »Ich liebe mein Kind über alles. Und es fällt mir nicht leicht, dich nach all der Zeit wiederzusehen, glaub mir. Doch dir scheint auch sehr viel an Enna zu liegen. Richtig?«

Ich nicke, während ich meine Tränen wegblinzle. »Nichts ist mir wichtiger als sie.«

»Wir müssen ihr die Zeit geben, die sie braucht.«

Das Letzte, was ich gerade möchte, ist, Enna allein zu lassen. Allein mit all den Fragen, die sie haben, und all dem Schmerz, den sie empfinden muss. Dennoch nicke ich zustimmend.

»Ich schreibe Mira eine Nachricht«, erwidere ich und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

»Das ist deine Mitbewohnerin, richtig?«, fragt Ennas Dad mich.

Ich nicke. »Und mittlerweile auch Ennas beste Freundin hier. Wenn jemand zu ihr durchdringen kann, dann sie.«

Während ich die Nachricht an Mira schreibe, zieht Collin sich Jacke und Schuhe an und kramt seinen Autoschlüssel aus der Jackentasche hervor. Ich tue es ihm gleich, nachdem ich die WhatsApp an Mira geschickt habe. Schweigend laufen wir das Treppenhaus nach unten. Vor dem Haus bleiben wir unschlüssig nebeneinander stehen.

»Ist das dein Wagen?«, fragt Collin mich.

Ich nicke. »Wenn ich daran denke, dass wir vorgestern noch damit unterwegs waren. Es war alles gut. Enna war glücklich, als wir ...«

»Moment«, unterbricht Collin mich. »Enna ist mit dir in diesem Auto gefahren?«, fragt er mich überrascht, scheint kaum glauben zu können, was ich eben gesagt habe.

»Ist sie«, antworte ich ihm. Wir beide wissen, was das für Enna bedeutet.

Kurz scheint Collin seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, dann sieht er mich wieder an. »Ich kenne dich nicht, Finn. Nicht mehr. Meine Wut kann ich beim besten Willen nicht abstellen. Es fällt mir schwer, dir in die Augen zu schauen, weil ich dann all die Bilder von damals wieder vor mir habe.« Kurz macht er eine Pause und atmet einmal tief durch, als würden ihn seine nächsten Worte eine Menge Überwindung kosten. »Aber du musst ihr einfach guttun, wenn sie dir so sehr vertraut, dass sie sogar mit dir in diesen Wagen gestiegen ist.«

Abgesehen von einem kurzen Nicken bringe ich nichts zustande. Das sind die ersten beinahe freundlichen Worte, die Collin in der letzten Stunde zu mir gesagt hat.

»Vielleicht können wir uns bald über alles unterhalten«, sagt er. »Ich habe mit Sicherheit auch nicht alles richtig gemacht damals und denke, dass uns ein Gespräch helfen könnte. Für Enna.«

»Das wäre gut, denke ich.«

Collin geht zu seinem Pick-up, öffnet die Wagentür und dreht sich noch einmal um. »Sie wird uns verzeihen, Finn.« Wenige Sekunden später startet er den Motor und fährt davon.

Ihnen wird sie verzeihen , denke ich, während nun auch ich zu meinem Auto laufe. Bei mir bin ich mir da nicht so sicher.

Ich starte den Wagen und lenke ihn auf die Straße. Mit jedem Meter, den ich fahre, zieht sich mein Herz ein Stück weiter zusammen.

Enna

Mit Beth an meinem Bauch muss ich irgendwann eingeschlafen sein. Die Ereignisse der letzten Minuten waren einfach zu viel für mich und haben mich erschöpft. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, als mich das Klingeln an der Tür weckt.

Nicht dazu fähig, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, bleibe ich liegen. All die Erinnerungen an die Nacht, in der ich meine Mum verlor, haben mich ausgelaugt. Zu wissen, dass mein Dad und mein bester Freund mich all die Jahre belogen haben, lässt mich an allem zweifeln, woran ich bisher geglaubt habe. Irgendwann haben die beiden die Wohnung verlassen, nachdem sie es aufgaben, immer wieder nach mir zu rufen und an die Tür zu klopfen.

Ich bin wütend auf Dad und Finn. Wie konnten sie mich so belügen? Wie konnten sie mir vorenthalten, was damals wirklich geschah?

Ich bin wütend auf mich selbst. Wie konnte ich vergessen, dass Finn neben mir saß?

Als es erneut klingelt, löse ich mich langsam von Beth und erhebe mich. Noch immer wacklig auf den Beinen, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir, schlurfe ich zur Tür. Ich drücke auf den Türöffner, ohne zu wissen, wen ich da überhaupt ins Haus lasse. Mir fehlt die Kraft, die Freisprechanlage zu nutzen.

Spätestens als ich hastige Schritte höre, weiß ich, dass es schon mal nicht die Post sein kann, denn die lässt sich immer Zeit. Doch egal, wer es ist, ich hoffe, dass derjenige schnell wieder verschwindet. Ich kann kaum klar denken, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin.

Miras blonder Haarschopf taucht auf der Treppe auf. Schnellen Schrittes läuft sie zu mir hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ihre Uni-Tasche um die Schulter gehängt, steht sie schließlich außer Atem vor mir. Ein Blick in mein Gesicht scheint ihr zu reichen, um meinen Schmerz zu erkennen.

»Enna«, sagt sie nur, lässt ihre Tasche neben sich auf den Boden sinken und breitet wortlos die Arme aus.

Ein Blick in ihre warmen Augen reicht, um mir erneut die Tränen in die Augen zu treiben.

»Komm her«, murmelt Mira noch, dann lasse ich mich von ihr in eine innige Umarmung ziehen und meinen Tränen erneut freien Lauf. »Alles wird wieder gut«, murmelt sie, während sie mich fest umschlungen hält und mir beruhigend über den Rücken streichelt.

Wenig später sitzen Mira und ich auf meinem Bett im Schneidersitz nebeneinander. Zwischen uns steht eine Taschentuchbox, aus der meine Freundin mir alle paar Minuten eins reicht, während ich ihr unter Tränen von den Ereignissen der letzten Stunden erzähle. Finn scheint nicht nur mir nichts von seinem Geheimnis erzählt zu haben, denn auch Mira ist geschockt darüber, dass er so etwas Bedeutendes verheimlicht hat.

»Ich kann kaum glauben, was du mir da gerade erzählst«, sagt Mira und sieht mich aus geweiteten Augen an.

»Es ist heftig, Mira. Es tut so unendlich weh.«

Sie greift nach meinen Händen. Mit ihren Daumen streicht sie mir sanft über die Handrücken, während ich weiterspreche. »Die beiden Menschen, die mir am meisten bedeuten auf der Welt, haben mich belogen. Mein Dad ...« Kurz stockt mir der Atem. »Wie konnte er es all die Jahre wissen und mir verheimlichen? Wieso hat er mir damals nicht erzählt, wie es zu dem Unfall kam? Er wusste doch, wie sehr ich darunter litt, dass ich mich nicht mehr genau an alles erinnern konnte.«

Mira zuckt mit den Schultern, einen mitleidigen Ausdruck auf dem Gesicht. »Ich kann mir vorstellen, wie sehr dich das verletzt, Enna. Es scheint noch viele offene Fragen zu geben.«

»Die beiden haben sich so heftig gestritten. Dad scheint Finn die Schuld am Unfall zu geben.«

»Gibst du ihm denn die Schuld?«, fragt sie mich dann vorsichtig.

Sofort schüttle ich entschieden den Kopf. »Meine Mum saß am Steuer. Niemand von uns hätte ahnen können, dass sie die Ampel übersieht. Hätte Finn sie nicht abgelenkt, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Es war nie seine Absicht, uns zu verletzen. Er wollte nie, dass so etwas passiert, das weiß ich.«

»Deine Mum hatte aber keine Affäre mit seinem Dad?«, fragt sie mich dann noch vorsichtiger.

»Nein«, antworte ich intuitiv, obwohl ich die Antwort selbst nicht kenne. »Mum hätte Dad niemals betrogen. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.«

»Nach allem, was du mir über deine Eltern erzählt hast, kann ich mir das auch nicht vorstellen. Aber irgendetwas muss Finn ja auf diesen Gedanken gebracht haben. Ich möchte ihn keinesfalls in Schutz nehmen, Enna, aber ...« Sie scheint sich nicht zu trauen, ihren nächsten Gedanken auszusprechen.

»Du kannst ehrlich sein«, ermutige ich sie.

»Finn war noch jung. Es muss furchtbar für ihn gewesen sein, zu glauben, dass deine Mum ein Verhältnis mit seinem Dad hat. Mit sechzehn Jahren wirft einen so etwas schnell aus der Bahn. Für ihn war sie diejenige, die seine Familie zerstört«, meint Mira.

Ich denke über die Bedeutung ihrer Worte nach. Das Bild von Finn taucht vor meinem inneren Auge auf. Wie er neben mir saß, den Blick nach vorn gerichtet und die unglaubliche Wut in seinen Augen, die ich mir einfach nicht erklären konnte..

»Ich erinnere mich an den Streit. Gott, Mira, jetzt weiß ich alles wieder. Warum nur habe ich es so lange verdrängt? Warum konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er neben mir saß? Warum ...?

»Enna«, unterbricht sie mich sanft. »Du hast etwas wirklich Schlimmes durchgemacht. Ein Erlebnis, das traumatisierend war. Ich bin keine Spezialistin auf diesem Gebiet, aber ich denke, es ist ganz normal, dass das Kind in dir sich einfach nicht an alles erinnern wollte

»Aber warum haben sie mich belogen, Mira? Weshalb hat mir denn niemand gesagt, was wirklich passiert ist?«, frage ich sie verzweifelt.

»Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, besteht darin, mit den beiden zu sprechen«, spricht sie das aus, was ich eigentlich selbst schon weiß. »Es ist wahnsinnig schwer, ich weiß. Aber wenn du Antworten auf deine Fragen willst, musst du mit deinem Dad sprechen. Und auch mit Finn.«

»Ich weiß.« Wieder steigen mir Tränen in die Augen. »Aber es tut so weh, Mira. Ich habe Finn vertraut. Ich habe ihm so viel von mir gegeben. Er war der Einzige, dem ich mich anvertrauen konnte, abgesehen von dir und Dad natürlich. Aber das mit Finn war anders. Er und ich ...«

»Ihr liebt euch«, beendet Mira meinen Satz. »Er bedeutet dir auf eine andere Weise etwas, als dein Dad und ich es tun. Für dich ist Finn ein ganz besonderer Mensch, daher trifft dich sein Schweigen so sehr.«

Am liebsten würde ich es abstreiten. Ich würde nichts lieber tun, als mir einzureden, dass ich nichts für Finn empfinde. Seine Lüge versetzt mir einen Stich ins Herz. Das Herz, das ich ihm geschenkt habe. Doch ich weiß selbst, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt habe und keine Ausrede der Welt darüberstehen könnte. Also nicke ich.

»Verdammt, ich liebe ihn so sehr, wie ich nie zuvor einen Menschen geliebt habe.«

Mira zieht mich in ihre Arme und streichelt mir sanft über den Kopf, während ich in ihren Pullover weine. »Warum hat er mich angelogen, Mira? Wieso?«, bringe ich unter Schluchzern hervor, die mir den Atem rauben.

»Weil er dich genauso sehr liebt, wie du ihn liebst«, antwortet sie mir. Dann schiebt sie mich leicht von sich, nimmt mein Gesicht in ihre Hände, damit ich sie ansehe. »Wenn man einen Menschen liebt, dann tut man manchmal blöde Dinge, Enna. Ich kenne Finn und ich weiß, wie verrückt er nach dir ist.«

»Warum lügt er dann?«

»Wahrscheinlich, weil er dich schützen wollte. Dich, sich selbst und eure Liebe.«

Ich lasse meinen Blick hinter Mira aus dem Fenster wandern. Die Sonne steht hoch am Himmel und leuchtet direkt auf mein Bett. Sie wärmt mich und langsam scheint ihre Wärme auch wieder in mein Inneres zu gelangen. Das Gespräch mit Mira holt mich wieder in die Realität zurück. »Hör mal, Enna. Wenn du mich fragst, gibt es noch einige Dinge, die ungeklärt sind. Und du verdienst die Antworten auf all deine Fragen.« Sie schiebt mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du musst mit deinem Dad reden. Gib ihm die Chance, dir alles zu erklären. Er wird sich wahnsinnige Sorgen machen.«

»Wieso bist du eigentlich hier?«, frage ich Mira. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, dass wir gar nicht verabredet waren.

»Finn hat mir eine Nachricht geschrieben. Nimm dir heute erst mal Zeit für dich. Es ist wichtig, dass du deine Gedanken sortierst. Gerade bist du ohnehin viel zu aufgedreht für ein klärendes Gespräch. Außerdem sehen deine Haare wirklich furchtbar aus.«

Damit entlockt sie mir tatsächlich ein kurzes Lächeln. »Und dann?«

»Dann rufst du deinen Dad an und bittest ihn, zu dir zu kommen«, meint Mira. »Was Finn angeht ...«

Sofort schüttle ich den Kopf. »Ich bin so verletzt, Mira. Er hat mir auf eine ganz andere Weise wehgetan, als es mein Dad getan hat. Mit meinem Dad kann ich sprechen, das schaffe ich, aber mit Finn ...«

»Das ist okay«, unterbricht Mira mich. »Sprich erst mal mit deinem Dad und gib ihm die Chance, dir alles zu erklären. Dann hast du die Antworten auf deine Fragen und kannst entscheiden, was als Nächstes passiert.«

»Also ein Schritt nach dem anderen?«, frage ich Mira.

Sie nickt. »Ein Schritt nach dem anderen.«

KAPITEL 24

Ein Schritt nach dem anderen

Enna

Mit »Right Here« von Ashes Remain auf den Ohren jogge ich durch eine von Starfalls vielen Alleen in der Nähe des Campus.

Nachdem Mira sich gestern vergewissert hat, dass ich allein zurechtkomme, habe ich den Abend mit Putzen verbracht. Ich musste mich ablenken und auf andere Gedanken kommen. Nachdem ich drei verpasste Anrufe von Finn auf meinem Handy entdeckt habe, drehte ich mein Spotify laut und legte mich wieder aufs Bett, nur um dann erneut in einem Meer aus Tränen zu versinken.

Heute Morgen habe ich nach einer beinahe schlaflosen Nacht beschlossen, dass es an der Zeit ist, aus meiner Trauer herauszufinden. Ich vermisse meine Mum gerade so sehr wie nie zuvor. Sie war meine engste Vertraute, mein liebster Mensch auf Erden. Dass sie mir genommen wurde, schmerzt noch immer tief, doch gerade jetzt, da ich weiß, dass ich so lange in einer Lüge lebte, vermisse ich sie noch mehr. Ich wünschte, sie könnte mir zu etwas raten. Mich an die Hand nehmen und mir sagen, was ich jetzt tun soll. Aber das kann sie nicht.

Ich kann sie nicht mehr um Rat fragen und der Gedanke daran, dass ich das auch in Zukunft nie mehr werde tun können, erfüllt mich mit tiefer Trauer und Wut.

Und genau diese Gefühle versuche ich jetzt aus meinem Körper zu vertreiben, indem ich laufe. Ich renne die Straßen von Starfall entlang, werde immer schneller und schneller, bis der Schmerz in meiner Seite den Schmerz in meiner Seele vertreibt. Ich konzentriere mich ganz auf meine Atmung und gebe mich dem Gefühl der Erschöpfung hin. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich mich wirklich sportlich betätige. Mit Mum habe ich früher manchmal Yoga gemacht und diese Tradition nach ihrem Tod auch beibehalten, doch irgendwann war die Erinnerung daran, wie wir uns gemeinsam lachend auf unseren Matten in Pose warfen, einfach zu schmerzhaft.

Auch jetzt treten bei dem Gedanken daran Tränen in meine Augen. Ich kann kaum fassen, dass ich nach dem gestrigen Tag überhaupt noch weinen kann. Als der Song meiner Playlist dann auch noch wechselt und die ersten Töne von »Quite Miss Home« ertönen, strömen mir die Tränen unaufhaltsam über das Gesicht. Dieser Song erinnert mich an alles, was ich verloren habe. Meine Erinnerung an diese Nacht, die mir geraubt wurde. Die Menschen, die mich belogen haben, anstatt mir diese Erinnerung wiederzugeben. Den Mann, dem ich mein Herz zu Füßen gelegt habe und den ich noch immer so sehr liebe, obwohl er mir so sehr wehgetan hat.

Ich renne immer schneller und schneller, bis ich irgendwann nicht mehr kann und die letzten Meter zurück zu meiner Wohnung nur noch gehe. Meine schwarze Jogginghose klebt an meinen Beinen, mein Shirt unter meiner Trainingsjacke ist komplett durchgeschwitzt. Mit dem schwarzen Schlauchtuch, das ich um den Hals trage, wische ich mir den Schweiß von der Stirn und die Tränen aus dem Gesicht.

Wieder in meiner Wohnung, springe ich unter die Dusche und lasse mich vom Vanilleduft meines Shampoos umhüllen. Eine Weile stehe ich einfach unter dem warmen Wasserstrahl, der auf mich niederprasselt, und genieße die Wärme auf meiner Haut. Nachdem ich meine Haare gewaschen und getrocknet habe, werfe ich mich in eine bequeme Hose und ein lockeres Oberteil und schließlich auf mein Bett. Ich schnappe mir mein Handy und antworte Mira auf eine Nachricht, in der sie mich fragt, wie es mir geht. Anschließend mache ich mir einen starken Kaffee, den ich am Küchentisch trinke. Doch auch das Koffein kann mir meine Müdigkeit aufgrund des Schlafmangels von letzter Nacht nicht austreiben. Zurück in meinem Zimmer, rolle ich mich auf meinem Bett zusammen und hole die Stunden Ruhe und Entspannung nach, die ich in der letzten Nacht wegen meiner rasenden Gedanken nicht bekommen konnte.

Am späten Nachmittag wache ich auf. Blinzelnd öffne ich die Augen und bleibe eine Weile einfach so liegen, während mein Blick immer wieder zu meinem Nachttisch wandert, auf dem mein Handy liegt. Mein Entschluss, die Uni heute nicht zu besuchen, fühlt sich noch immer richtig an. Ich liebe mein Studium, doch ich fühle mich einfach nicht dazu in der Lage, heute auch nur eine Veranstaltung zu besuchen.

Dad hat heute mehrmals versucht, mich zu erreichen, doch auch er hat es irgendwann aufgegeben. Ich kenne ihn und weiß, dass er sich wahrscheinlich seit gestern unglaubliche Sorgen um mich macht. Und auch wenn ich noch immer so enttäuscht von ihm bin wie nie zuvor, möchte ich ihn zumindest wissen lassen, dass es mir gut geht. Kurzerhand greife ich nach meinem Smartphone und tippe eine kurze Nachricht an ihn, in der ich schreibe, dass er sich keine Sorgen machen soll. Er antwortet nach wenigen Sekunden nur mit einem Herz, was mich kurz zum Lächeln bringt. Immer wenn Dad mir sagen möchte, dass er mich liebt, schickt er mir dieses Herz-Emoji. Er war schon immer der Meinung, dass man Liebesbekundungen persönlich machen sollte und nie über das Handy.

Den Rest des Tages verbringe ich damit, mit Beth zu kuscheln. Sie scheint zu merken, dass es mir nicht gut geht, denn sie ist anhänglich und kommt mir ständig hinterhergetrottet. »Tiere sind die ehrlichsten Wesen auf diesem Planeten«, murmle ich, während sie neben mir auf dem Bett liegt und ich ihren Kopf streichle. Beth schnurrt und schmiegt sich an meine Hand. »Du würdest mich nie anlügen, oder, Süße?« Beth miaut zustimmend.

Irgendwann greife ich noch ein weiteres Mal nach meinem Handy. Es bringt mir nichts, hier im Selbstmitleid zu versinken. Jede Minute, die vergeht, ohne dass ich eine Antwort auf all meine Fragen erhalte, macht mich rasender. Der Wunsch in mir, endlich Klarheit zu schaffen, wird schließlich so groß, dass ich mich überwinde und meinem Dad eine Nachricht schreibe. Ich frage ihn, ob er morgen zum Reden vorbeikommen möchte, und erhalte wenige Minuten später eine Antwort. Er schreibt, dass er sich freut, und fragt mich, wann er da sein soll. Nachdem ich heute nicht in die Uni gegangen bin, um mir Zeit für mich zu nehmen, habe ich vor, morgen wieder meine Vorlesungen zu besuchen. Also schreibe ich Dad, dass er am späten Nachmittag vorbeikommen kann. Erst übermorgen arbeite ich wieder im Buchladen, weshalb ich morgen Nachmittag nichts vorhabe. Wir vereinbaren eine Uhrzeit, und dann lege ich mein Handy wieder beiseite.

Bis spät in die Nacht hinein arbeite ich dann an meinem Präsentationsteil des Vortrags mit Harlow, um mich abzulenken. Gerade recherchiere ich den Einfluss der Einwanderer aus England, Schottland und Irland auf das amerikanische Englisch und versinke in Artikeln über die damalige Geschichte. In zwei Wochen sind wir an der Reihe, unsere Ergebnisse vorzustellen, kurz vor Beginn der Weihnachtsferien.

Bei dem Gedanken daran, nun schon ein fünftes Mal Weihnachten ohne meine Mum zu verbringen, überkommt mich erneut Trauer.

»Ich vermisse dich, Mum«, murmle ich in Richtung meines Fensters. Immer wieder gibt es Momente, in denen ich hoffe, dass sie vom Himmel aus zu mir schaut. Der Gedanke daran, dass sie nicht verschwunden ist, sondern dort oben noch immer über mich wacht, erfüllt mich mit Liebe und Wärme. Er macht den Verlust erträglicher, weshalb ich für immer daran festhalten möchte. Ein leichter Windhauch streift durch das gekippte Fenster in den Raum, als würde mir Mum damit eine Umarmung schenken. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und erinnere mich an sie zurück.

Zwölf Jahre zuvor — 2008, Dezember

»Darf ich die Kugeln an den Baum hängen?«, frage ich Mum hoffnungsvoll.

»Wollen wir das nicht lieber deinen Dad machen lassen?« Aus strahlenden Augen sieht sie mich an.

»Aber du weißt doch, was letztes Jahr passiert ist«, sage ich belustigt.

Schon seit einer Stunde schmücken wir unsere Wohnstube mit der Weihnachtsdekoration. Dad hat eben den Weihnachtsbaum aufgestellt. Er ist viel größer als der, den wir letztes Jahr hatten, und darüber freue ich mich sehr.

»Ich erinnere mich daran.« Lachend greift Mum nach einer weiteren Kiste mit Baumschmuck. »Erzähl uns doch noch mal, was Dad passiert ist, meine Süße.«

»Bitte nicht!«, ruft Dad entsetzt aus der Küche. »Ich brauche nicht noch eine weitere Erinnerung daran, dass ich ...«

»Du bist von der Leiter gefallen«, sage ich schmunzelnd. »Du wolltest den Stern ganz oben auf die Spitze setzen, dann hast du aber gewackelt und bist mit der Leiter umgekippt.«

Belustigt sehen wir uns an.

»Lacht ihr mich etwa gerade aus?«, fragt Dad entsetzt. Mit einer Kanne voll dampfendem Tee kommt er zu uns in die Stube. Er stellt den Tee und die Tassen auf dem Tisch ab, dann kommt er zu uns.

»Wir würden dich doch nie auslachen, Liebling«, sagt Mum.

Dad gibt ihr einen Kuss auf die Wange, dann drückt er mir einen auf den Kopf. »Also, Enna«, sagt er dann. »Du willst in diesem Jahr die Kugeln aufhängen?«

Ich nicke eindringlich. »Bitte!«, bettle ich ihn an.

Dad greift nach einer der vielen Kisten mit Baumschmuck und zieht einige rote Kugeln daraus hervor. »Was hältst du von folgender Idee?«, fragt er mich. »Unten am Baum hängst du die Kugeln auf und für den oberen Teil hebe ich dich hoch.«

»So machen wir es!«, rufe ich begeistert.

Als Dad mich wenig später für die erste Kugel nach oben hebt, schnappt Mum nach Luft. »Collin!«, ruft sie. »Lass bitte nicht auch noch unser Kind fallen!«

Dad dreht sich zu ihr um, mich noch immer hoch über sich in seinen Armen. »Hast du das gehört, Enna?«, fragt er mich. »Deine Mum hat Angst, dass ich dich fallen lasse.« Während er mich noch immer in der Luft hält, rennt er durch das Wohnzimmer, sodass ich mich fühle, als würde ich schweben.

»Schau mal, Mama!«, rufe ich begeistert. »Ich kann fliegen!«

Nun lacht auch Mum mit uns. Sie springt auf, breitet die Arme wie Flügel neben sich aus und rennt hinter uns her. Wir fliegen alle gemeinsam durchs Wohnzimmer, bis wir erschöpft auf dem Teppich landen und kaum noch Luft bekommen.

»Ich freue mich auf Weihnachten«, sage ich irgendwann.

»Ich mich auch«, antworten Mum und Dad wie aus einem Mund.

Finn

Die Stunden ohne Enna ziehen an mir vorbei, während ich beinahe die ganze Zeit über die Decke meines Zimmers anstarre. In meinem Bauch hat sich ein Gefühl breitgemacht, das ich seit vorgestern nicht mehr loswerde. Ich kann nicht genau sagen, ob es Wut oder Verzweiflung ist, wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Sie ist raus. Die Wahrheit, die mich seit Jahren beinahe jeden Tag verfolgte, ist endlich ausgesprochen. Doch statt mich deshalb erleichtert zu fühlen, fühle ich beinahe gar nichts, abgesehen von dem riesigen Knoten in meinem Inneren. Nie hätte sie es so erfahren sollen. Nicht auf diese Art und Weise. Meine Anrufe hat Enna ignoriert, nur von Mira weiß ich, dass es ihr so weit gut geht. Mehr habe ich aus ihr aber auch nicht herausbekommen, stattdessen hat sie mir etwas von wegen Freundschaftsehrenkodex und Solidarität erzählt. Obwohl ich weiß, dass es richtig ist, dass sie mir nichts über das Gespräch der beiden verrät, könnte ich platzen. Ich will wissen, was in Enna vorgeht. Ob sie mich bereits aufgegeben hat, ob sie sauer ist oder wütend oder einfach enttäuscht. Und vor allem will ich wissen, ob sie uns aufgegeben hat. Bei dem Gedanken daran, sie erneut zu verlieren, zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen.

Die Erinnerungen an den Tag, an dem ich meine beste Freundin enttäuscht habe, durchfluten mich immer wieder. Ich bin einfach nur wütend. Wütend auf mich, auf diese scheißrote Ampel und auf die ganze gottverdammte Welt. Die Gedanken rasen so schnell durch meinen Kopf, dass ich nicht mehr ruhig liegen kann, also springe ich von meinem Bett auf und tigere unruhig durch mein Zimmer. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass diese Lüge uns nicht zerstören würde? Wie konnte ich die Frau, die mir am meisten bedeutet, nur so verletzen?

Wütend trete ich gegen den Bettpfosten, doch auch der kurze Schmerz, der meinen Fuß durchfährt, kann den in meinem Inneren nicht überdecken. Ich balle meine Hand zur Faust und lasse sie in einer schnellen Bewegung auf meinen Kleiderschrank knallen. Immer wieder schlage ich auf das weiße Holz ein, während mir erneut Tränen der Verzweiflung in die Augen steigen. Ein Schrei der Verzweiflung löst sich aus meiner Kehle, bevor ich ihn unterbinden kann.

Ich höre gar nicht, wie die Tür aufgeht und Jase in mein Zimmer gelaufen kommt. Ich bemerke ihn erst, als sich seine Hand auf meine Schulter legt und er mich zu sich zieht. Erschöpft lasse ich meinen Kopf an seine Schulter fallen und lasse meinen Tränen freien Lauf.

Fünf Jahre zuvor — 2015, Januar

»Finn?«, höre ich meine Mum leise flüstern. »Finn, Schatz?«

Langsam öffne ich meine Augen, doch das Leuchten um mich herum ist so hell, dass ich sie sofort wieder schließe. »Mum?«, murmle ich leise.

Ich bewege vorsichtig meine Hände. Die eine liegt auf der Matratze neben mir, die andere hält Mum fest. Über mir ist eine große Decke ausgebreitet, mein Kopf liegt in einem Kissen. »Wo sind wir?«, frage ich.

»Wir sind im Krankenhaus, Finn«, erklärt Mum. »Du hattest einen schweren Autounfall. Ich bin so froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist.«

Sofort kann ich mich an alles erinnern. An den Streit, den lauten Knall und dann die plötzliche Dunkelheit. Und an ...

»Enna«, sage ich so fest ich kann. »Wo ist Enna?«

»Es geht ihr gut«, antwortet Mum. »Sie liegt einige Zimmer weiter.

Bisher ist sie noch nicht aufgewacht, aber die Ärzte sagen ...«

»Ich muss zu ihr, Mum.« Ich versuche, mich aufzurichten, aber mir tut alles weh, weshalb ich mich wieder zurück ins Kissen fallen lasse. »Ich muss ihr sagen, dass es mir leidtut.«

Ich drehe meinen Kopf zu Mum und sehe, dass sie weint. »Warum willst du dich entschuldigen, Finn? Du kannst doch nichts dafür, dass ...«

»Doch«, presse ich hervor. »Ich habe Ennas Mum angeschrien. Ich war so wütend, dass sie und Dad ...«

»Was ist mit ihr und Dad?« Verwundert sieht Mum mich an.

»Ich habe die beiden zusammen gesehen. Sie haben sich umarmt«, antworte ich ihr. »Trennt ihr euch jetzt, Mum? Wird Dad dich wegen ihr verlassen?«

»Was redest du denn da für wirres Zeug, Finn?«

»Ich muss mich bei Enna entschuldigen«, sage ich wieder. »Bei Enna und bei ihrer Mum. Ich hätte ihre Mum nicht anschreien dürfen, dann hätte sie sich auch nicht umgedreht und wäre nicht über Rot gefahren.«

Kurz hält Mum die Luft an. Tränen laufen ihr über das Gesicht, während sie weiterspricht. »Alles wird wieder gut, mein Schatz. Schlaf noch ein bisschen.« Irgendetwas sagt mir, dass das nicht alles ist, was sie mir sagen möchte. Da ist noch etwas, etwas, das sie mir verschweigt.

»Was ist los, Mum?«, frage ich sie deshalb. »Was verheimlichst du vor mir?«

»Finn, das ist nicht der richtige Zeitpunkt ...«

»Sag es mir«, bitte ich sie, während sich Tränen in meinen Augen sammeln. Ich ahne Schlimmes.

»Ennas Mum«, beginnt meine Mutter schluchzend. »Sie hat den Unfall leider nicht überlebt, mein Schatz.«

Und plötzlich ist da nur noch Schmerz in mir. Mit jeder Sekunde breitet er sich weiter in mir aus. Doch mein Körper ist noch zu schwach, um ihn zu spüren, holt sich die Ruhe, die er braucht, indem er mich, begleitet von unendlicher Angst und Trauer, wieder in den Schlaf geleitet.

Irgendwann werde ich von lauten Stimmen geweckt. Ich öffne langsam meine Augen und sehe mich um, doch ich scheine allein im Krankenhauszimmer zu sein.

»Haltet euren Sohn gefälligst von meiner Tochter fern!«, brüllt Ennas Dad.

»Collin«, höre ich meine Mum flüstern. Die Zimmertür ist einen Spalt breit geöffnet, weshalb ich jedes Wort verstehen kann. »Du kannst doch nicht allen Ernstes Finn dafür die Schuld geben, dass ...«

»Meine Frau ist tot!«, ruft Ennas Dad. »Wegen ihm wird Enna ihre Mum nie wiedersehen!« Er schlägt mit der Faust gegen das Fenster an meinem Zimmer. Keiner merkt, dass ich wach bin.

Ich bin schuld. Ich habe sie abgelenkt. Ich habe sie angeschrien. Sie ist tot.

»Was fällt dir ein, meinem Sohn die Schuld dafür zu geben?«, ruft nun mein Dad aufgebracht. »Er ist ein Kind, verdammt noch mal!«

»Hättet ihr euch nicht immer vor ihm gestritten, wäre er nie auf diese dumme Idee gekommen! Meine Frau eine Affäre mit dir, dass ich nicht lache!«

»Du kannst uns nicht für diesen Unfall verantwortlich machen, Collin. Und schon gar nicht Finn«, verteidigt Mum mich. »Es ist furchtbar, was geschehen ist, aber ...«

Den Rest des Gesprächs höre ich nicht mehr. Ich greife nach dem Kissen unter meinem Kopf, drehe mich zur Seite und presse es mir auf die Ohren. Tränen rinnen mein Gesicht herunter.

Sie ist tot. Ich bin schuld.

Enna.

»Finn!«, reißt Jase mich aus meinen Gedanken.

Wir sitzen nebeneinander auf dem Boden meines Zimmers und ich frage mich, wann das passiert ist. Ich war so in meiner Erinnerung versunken, dass ich scheinbar gar nichts mehr mitbekommen habe.

Ich schaue ihn an, während mir noch immer die Tränen über die Wangen laufen. »Was ist?«, frage ich ihn mit leerer Stimme.

»Du warst gerade total weg, Mann. Ich habe versucht, dich zu beruhigen, aber du hast mir gar nicht zugehört.«

»Ich habe meinen schlimmsten Albtraum noch mal durchlebt«, antworte ich, meinen Blick aus dem Fenster gerichtet.

Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, bis ich meine Gedanken mit ihm teile. »Das wird sie mir nicht verzeihen, Jase«, beginne ich. »Ich bin ein verdammter Lügner.«

»Sie wird dir verzeihen, Finn.«

Ich lache auf. »Was macht dich da so sicher?«

»Enna liebt dich. Das sieht selbst ein Blinder. Und diese Liebe ist stärker als deine Scheißlüge. Ich glaube an euch. Das solltest du auch.«

Als ich erneut protestieren und ihm meine Zweifel mitteilen will, steht Jase auf und zieht mich kurzerhand mit sich nach oben. »Wir gehen laufen.«

»Jase. Ich habe gerade echt keinen Bock ...«

»Weißt du, wie verdammt scheißegal mir das gerade ist?«, fragt er mich mürrisch. »Ich werde nicht dabei zusehen, wie du hier in deinem Selbstmitleid versinkst und ständig auf dein Handy starrst.«

Jase und ich gehen regelmäßig zusammen laufen und meistens lenkt mich das Adrenalin, das ich dabei verspüre, ab.

Kurz darauf verlassen wir in Laufklamotten die Wohnung. Eine Weile joggen wir locker nebeneinanderher, bis wir das Tempo irgendwann steigern. Tatsächlich löst sich mit jedem Meter, den ich renne, ein Stück meiner Wut. Ich stecke all meine Kraft und Energie in diesen Lauf, spüre jeden Muskel meines Körpers, während wir immer schneller rennen.

Doch selbst das Gefühl meiner brennenden Lungen kann den Schmerz in meinem Herzen nicht vertreiben.

KAPITEL 25

Endlich Wahrheit

Enna

»Danke, dass du mir die Möglichkeit gibst, dir alles zu erklären, Enna.« Dad sitzt mir gegenüber am Tisch in meiner Küche, die Hände auf dem Tisch gefaltet, die Stirn gerunzelt.

Seinen roten Augen sehe ich an, dass auch er in den letzten Stunden viel geweint haben muss. Bei diesem Anblick zerreißt es mir beinahe das Herz, obwohl ich noch immer so enttäuscht von ihm bin.

Ich nicke, meine Teetasse fest mit den Händen umschlungen und die Beine auf dem Stuhl angezogen, sodass ich mich mit den Armen darauf abstützen kann.

»Bitte sei ehrlich zu mir, Dad«, bitte ich ihn. »Ich kann keine weiteren Lügen ertragen.«

Er nickt, atmet einmal tief durch und beginnt dann, zu erzählen. »Ich bekam damals einen Anruf aus dem Krankenhaus. Man sagte mir, dass deine Mum und du einen Unfall hattet und mit einem Jungen in deinem Alter eingeliefert worden seid. Ich wusste natürlich sofort, dass es Finn ist, immerhin seid ihr ja zusammen losgefahren, um die Pizzen zu holen. Ich habe sofort Vera angerufen, um auch sie zu benachrichtigen, nachdem die Ärzte mir am Telefon mitgeteilt hatten, dass Finn keinen Ausweis bei sich trug und sie ihn somit nicht identifizieren konnten.«

»Und dann bist du ins Krankenhaus gefahren?«

Dad nickt. »Ich wollte so schnell es geht zu euch, also habe ich mich in meinen Wagen gesetzt und bin sofort losgefahren. Als ich dann im Krankenhaus ankam, hat die Schwester am Empfang mir die Nummer des Zimmers gegeben, in dem ich dich finden kann. Du wurdest bereits aus der Notaufnahme in ein Bett verlegt. Als ich dich da so liegen sah, Enna ...« Kurz ringt er mit den Tränen, dann spricht er weiter. »Du hattest so viele Schrammen im Gesicht. Als ich zu dir kam, hast du geschlafen, also habe ich mich sofort auf die Suche nach einem Arzt gemacht.«

Ich nehme einen großen Schluck von meinem Tee, um die Kälte in mir mit der warmen Flüssigkeit zu vertreiben.

»Die Ärztin versicherte mir, dass es dir gut geht. Dass du nur ein paar wenige äußere Verletzungen hast und auch kurz wach warst, sodass sie sich versichern konnten, dass es dir so weit gut geht. Als ich nach deiner Mum fragte und sie kurz den Atem anhielt, wusste ich Bescheid.«

Nun rinnen die Tränen sein Gesicht herunter und ich kann gar nicht anders, als nach seiner Hand zu greifen. Wir haben nie darüber gesprochen, wie genau Dad von ihrem Tod erfuhr.

Mit meinem Daumen fahre ich sachte über seinen Handrücken, während sich auch in meinen Augen die Tränen sammeln. Doch ich versuche, mich zusammenzureißen, um mich weiter auf seine Worte konzentrieren zu können. »Was ist dann passiert?«, frage ich ihn.

»Ich war wie erstarrt, Enna. Im ersten Moment konnte ich nicht realisieren, dass deine Mum wirklich von uns gegangen war. Im Flur habe ich mich hingesetzt und minutenlang einfach nur an die Wand gestarrt. Irgendwann kamen Finns Eltern, um nach ihm zu sehen. Eine Weile verschwanden sie in seinem Zimmer, das nur wenige Türen von deinem entfernt war, dann kam Finns Dad zu mir und versuchte, zu mir durchzudringen. Wie betäubt nahm ich wahr, dass irgendwann auch Vera wieder aus dem Zimmer kam und sie ihrem Mann erzählte, wie es zum Unfall kam. Sie rückten zwar einige Meter von mir ab, dennoch konnte ich jedes Wort verstehen.

»Was genau haben sie besprochen, Dad?«, ermutige ich ihn ruhig, weiterzusprechen.

»Sie haben über Finn geredet«, spricht er weiter. »Vera hat erzählt, dass es einen Streit im Auto gegeben hat. Finn hat ihr davon berichtet und sie meinte, dass er einen ganz lächerlichen Verdacht habe. Da bin ich dann auch hellhörig geworden.«

»Als ich euch belauscht habe, hast du etwas davon erzählt, dass Mum eine Affäre mit Finns Dad gehabt haben soll.« Diese Vorstellung ist noch immer absurd für mich. »Aber sie hatte nicht ...«

»Nein!«, ruft Dad und umschließt meine Hand fester. »Enna, deine Mum hätte mich nie betrogen. Finn hat die beiden bei einer sehr innigen Umarmung beobachtet, doch die hatte andere Gründe.«

Erleichtert atme ich aus. »Welche denn?«

»Vera und Finns Dad hatten Eheprobleme, Enna. Sie haben beinahe jeden Tag gestritten. Finns Dad hat sich deiner Mum anvertraut.«

»Finn hat mir erst vor Kurzem davon erzählt, dass seine Eltern sich oft stritten«, erinnere ich mich.

Er nickt. »Es lief schon eine Weile nicht mehr gut zwischen ihnen und Finn muss das sehr getroffen haben. Er nahm deshalb an, dass deine Mum der Grund für die Streitereien seiner Eltern war.«

Ich kann noch immer nicht glauben, dass Finn so sehr unter diesem Verdacht gelitten, mir aber nichts von den Streitereien seiner Eltern erzählt hat. Er wirkte doch immer so fröhlich, wenn er bei mir war. Als könne ihm nichts und niemand etwas anhaben. Stattdessen muss er so viel Angst verspürt haben.

»Du hast die beiden also bei ihrem Gespräch belauscht«, spreche ich weiter. »Was ist dann passiert?«

»Nach der Starre kam die Wut«, beginnt Dad. Ein schmerzhafter Ausdruck huscht über sein Gesicht und Trauer legt sich darauf nieder. »Ich bin ausgeflippt, als ich von dem Streit erfuhr, den Finn durch seinen Verdacht ausgelöst hatte.«

»Ich erinnere mich wieder«, erzähle ich Dad.

»Du weißt alles wieder?«

Ich nicke. »Nachdem ich euch belauscht habe, war auf einmal alles wieder da. Jedes Geräusch, jedes Bild und auch der Streit im Auto. Es tut weh, aber es ist auch erleichternd, endlich Klarheit zu haben.«

»Ich bin total wütend geworden. Ich konnte mit all der Trauer in mir nicht umgehen, mit all der Verzweiflung nicht fertigwerden. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut, also habe ich mir einen Schuldigen gesucht. Jemanden, den ich dafür verantwortlich machen konnte, dass meine Frau tot ist und meine Tochter im Krankenhaus liegt.«

Das Gespräch, das ich gestern mit angehört hatte, läuft erneut in meinem Kopf ab. All die Vorwürfe, die Dad Finn gemacht hat. »Du hast Finn die Schuld gegeben.«

Er löst seine Hand von meiner und fährt sich damit stattdessen unruhig über das Gesicht. »Für mich war in diesem Moment alles klar. Finn hatte diesen dämlichen Verdacht. Er hat den Streit verursacht und deine Mum abgelenkt. Für mich stand fest, dass der Unfall seine Schuld ist, und das habe ich seinen Eltern auch gesagt. Deine Mutter war unfallfrei, nie hat sie sich am Steuer ablenken lassen ...«

»Aber Dad«, beginne ich aufgebracht. »Finn war verletzt und verunsichert! Er konnte doch nicht ahnen, was passieren würde ...«

»Mittlerweile weiß ich das doch auch!«, ruft Dad. »Es war falsch von mir, ihm die Schuld dafür zu geben. Er war verdammte sechzehn Jahre alt, ein Jugendlicher, und er dachte, dass deine Mum seine Familie zerstört. Natürlich wurde er wütend, als sie und sein Dad telefonierten. Das ist ganz normal für einen Teenager. Dass ich als erwachsener Mann ihm die Schuld an diesem Unfall gab ...« Kurz macht er eine Pause, dann vollendet er seinen Satz. »Das war absolut nicht in Ordnung. Das ist mir nun klar geworden.«

»Nein, das war es nicht«, gebe ich ihm recht, auch wenn ich weiß, dass es die Sache nicht besser macht. »Aber warum ist Finn nicht zu mir gekommen? Warum konnten wir nicht einfach miteinander reden? Ich hätte ihm doch niemals die Schuld gegeben, und das hätte ich ihm auch gesagt ...«

»Ich habe es ihm verboten«, bringt Dad hervor.

Alles in mir zieht sich in diesem Moment zusammen. »Was?«, frage ich entsetzt. »Du hast ihm was verboten?«

»Ich habe seinen Eltern klargemacht, dass er sich von dir fernhalten soll.«

»Dad ...«, beginne ich ruhig, doch wieder unterbricht er mich.

»Ich wollte dich doch nur beschützen, Enna! Ich musste dir an diesem Tag sagen, dass deine Mum nicht mehr am Leben ist. Du hast dich an nichts Genaues erinnert, du hattest sogar vergessen, dass du nicht allein mit deiner Mum im Auto warst. Du hast einfach ausgeblendet, dass Finn dabei war, und auch von eurem Streit schienst du nichts mehr zu wissen. Also ließ ich dich in dem Glauben ...«

Nun bin ich diejenige, die ihn unterbricht. »Du hättest es zulassen müssen, Dad! Ich hätte die Wahrheit erfahren müssen, um dann selbst zu entscheiden, wie ich darüber denke! Du hast mir meinen besten Freund genommen!« Nun laufen auch mir die Tränen über das Gesicht, während ich aufstehe und in meiner Küche auf und ab gehe. »Verdammt, Dad. Ich will mir gar nicht ausmalen, was Finn sich all die Jahre für Vorwürfe gemacht haben muss.« Ich bin noch immer sauer auf Finn, weil er mich ebenso belogen hat, doch nun wird mir auf einmal vieles klar.

»Das weiß ich doch, Enna«, sagt Dad verzweifelt. »Ich weiß es doch«, bringt er noch hervor, bevor seine Stimme bricht.

Ihn so am Ende zu sehen, nimmt mir den Wind aus den Segeln. Wie er zusammengekauert an diesem Tisch sitzt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dieser Anblick zerreißt mir das Herz.

»Daddy«, flüstere ich und gehe dann langsam auf ihn zu. »Ich hätte dich nicht anschreien dürfen, es tut mir leid.«

»Du hast jeden Grund, mich anzuschreien«, bringt er hervor. »Ich habe alles kaputtgemacht.«

Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schultern. »Sieh mich an, Dad.«

Langsam hebt er den Kopf. »Was du getan hast, war nicht richtig. Du hast mich belogen und Finn die Schuld an Mums Tod gegeben ...« Kurz halte ich inne, dann spreche ich ruhig weiter. »Aber du hast deinen Fehler eingesehen«, fahre ich dann fort. »Wir dürfen uns nicht streiten, Dad. Nicht jetzt, wo Mum nicht mehr da ist, um sich zwischen uns zu stellen und beruhigend auf uns einzureden.«

Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. »Sie würde uns gehörig den Marsch blasen, wenn sie jetzt hier wäre.«

»Das würde sie«, stimme ich ihm lachend zu. »Komm her, Dad.«

Ich ziehe ihn von seinem Stuhl hoch und schlinge meine Arme um ihn. Seine väterliche Wärme umhüllt mich sofort. In diesem Moment sind all meine Wut und meine Verzweiflung vergessen. Als Dad seine Arme um mich legt, zählt nur noch, dass er noch bei mir ist.

Er ist hier bei mir, und das soll er auch immer bleiben.

»Ich verzeihe dir«, flüstere ich ihm ins Ohr.

»Ich liebe dich, Enna«, murmelt er in mein Haar.

»Ich liebe dich auch, Daddy.«

Und in diesem Moment bin ich mir ganz sicher, dass Mum uns von oben beobachtet und stolz darauf ist, dass wir uns wieder vertragen haben. Ich stelle mir vor, wie sie uns leise zuflüstert, dass sie uns auch liebt, während ich mich in Dads Wärme hülle.

Nach mehreren Tassen Tee und langen Gesprächen verabschiedet Dad sich von mir.

In den letzten Stunden haben wir nicht nur über die Vergangenheit gesprochen. Ich habe die Gelegenheit außerdem genutzt, um ihn wie geplant nach seiner neuen Liebe zu fragen. Also hat Dad mir viel von Marlene erzählt. Darüber, wie die beiden sich in einem Restaurant kennenlernten. Als er mir berichtete, wie er und sie jeweils allein an einem Tisch saßen und sich die ganze Zeit heimlich beobachteten, musste ich einfach grinsen. Irgendwann hat er sich dann getraut und ist zu ihr hinübergegangen, und somit hatten die beiden ihr erstes Date. Ich freue mich sehr darüber, dass Marlene meinen Dad so glücklich macht. Nach einiger Zeit schlug ich ihm ganz spontan vor, sie bei seinem nächsten Besuch einfach mitzubringen, damit ich sie kennenlernen kann, worüber er sich gefreut hat wie ein Schneekönig.

Nun stehen wir in meinem Flur, während Dad in der großen Tasche seiner Jacke nach etwas kramt. In Jogginghose und Shirt lehne ich an meiner Kommode und sehe ihm dabei zu, wie er ein Buch aus seiner Jacke zieht und kurz darüberstreicht.

»Das hier hat deiner Mum gehört«, sagt er leise und reicht mir dann das rote Buch, dessen Seiten schon ganz vergilbt sind.

In meinen Händen drehe ich es hin und her, dann öffne ich es. Als Mums Handschrift sich vor mir ausbreitet, schlägt mein Herz ein Stück schneller. »Ist das Mums Tagebuch?«

Dad nickt. »Sie hätte gewollt, dass es bei dir bleibt. Lies es, Enna.

Deine Mum mag nicht mehr bei dir sein, doch du weißt, dass sie immer einen guten Rat parat hatte. Vielleicht findest du darin Worte, die dir den Weg weisen und dir Mut schenken. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, dir einen Rat von deiner Mum zu holen.«

Mit Tränen in den Augen klappe ich das Tagebuch wieder zu und ziehe Dad in eine letzte innige Umarmung. »Danke, Dad.«

Wir lösen uns voneinander, doch kurz bevor er die Wohnungstür erreicht, dreht er sich noch einmal zu mir um. »Vergib ihm, Enna«, sagt er eindringlich. »Er ist ein guter Junge, auch wenn ich das lange Zeit anders gesehen habe.«

Ich muss schlucken. »Mach’s gut, Dad«, sage ich nur.

Er winkt zum Abschied und zieht dann die Tür hinter sich zu.

Mit dem Tagebuch laufe ich ins Zimmer und setze mich auf mein Bett.

»Hey, Mum«, murmle ich leise, bevor ich die erste Seite aufschlage und zu lesen beginne.

Finn

»Schön, dass du gekommen bist.« Rachel sitzt neben mir auf der Parkbank, die einmal unser Lieblingsplatz war.

Als sie mir heute Morgen eine Nachricht schickte mit der Frage, ob wir reden könnten, durchströmten mich gemischte Gefühle. Einerseits freute ich mich, dass wir so die Gelegenheit hätten, uns auszusprechen, andererseits habe ich in meinem Kopf gerade kaum Platz für etwas anderes als Enna. Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut. Viel lieber hätte ich gerade sie neben mir sitzen, doch diesen Gedanken führe ich nicht zu Ende. Es ist schön, dass Rachel sich gemeldet hat und wir uns nun aussprechen können.

»Ich freue mich, dass du mir geschrieben hast«, sage ich deshalb.

»Nachdem unser letztes Gespräch ja nicht besonders gut verlief.«

Ich höre Rachel neben mir einmal tief durchatmen, meinen Blick auf die Bäume vor uns gerichtet. »Es tut mir leid, Finn.«

Zu meiner Überraschung sehe ich ehrliches Bedauern in ihren Augen. »Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht so gemeint habe. Und natürlich trägst du nicht die Schuld an der Trennung.«

»Niemand von uns beiden trägt Schuld daran«, stelle ich in diesem Moment selbst fest. »Es lief von Anfang an nicht gut bei uns.«

»Als Freunde haben wir mir besser gefallen«, sagt sie und ein kleines Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen.

»Mir auch«, erwidere ich, ebenfalls lächelnd.

»Es war falsch von mir, Mark zu küssen, während wir noch zusammen waren. Dafür möchte ich mich entschuldigen.«

»Woher der plötzliche Sinneswandel?«

Rachel stöhnt auf. »Harlow hat mir mal wieder den Kopf gewaschen.«

»Ich habe es mir fast gedacht«, sage ich daraufhin lachend. Harlow ist die Einzige, der es gelingt, zu Rachel durchzudringen.

»Sie hat mir auch geraten, noch mal mit dir zu sprechen. Außerdem hat sie mir gedroht.«

»Harlow hat dir gedroht?«, frage ich. »Unsere schüchterne Harlow?«

Rachel grinst. »Ja, ob du es glaubst oder nicht. Sie war wirklich wütend. Ich will unsere Freundschaft nicht verlieren, Finn.«

»Das will ich auch nicht«, erwidere ich, nun wieder ernst.

»Deshalb wollte ich auch mit dir sprechen«, sagt sie. »Zum einen wollte ich mich bei dir entschuldigen, zum anderen aber auch fragen, ob du dir vorstellen könntest, dass wir wieder Freunde werden? Mir ist schon klar, dass es nicht genau wie früher ...«

»Das wäre schön«, falle ich ihr ins Wort. »Wir funktionieren vielleicht nicht als Paar, aber als Freunde waren wir ein gutes Team, meinst du nicht auch?«

»Du warst ein wirklich guter Freund, Finn. Ich war nicht immer fair zu dir, weil auch ich nicht glücklich war in unserer Beziehung. Aber du trägst dafür nicht die Verantwortung.«

»Komm mal her.« Kurzerhand ziehe ich Rachel zu mir und umarme sie. Noch immer bedeutet sie mir eine Menge, unsere Trennung hat daran nichts geändert. Dass sie nun so offen und ehrlich zu mir ist, bestätigt mich in meinem Gefühl — als Freunde kommen wir besser zurecht. Und obwohl Rachel nie ein wirklicher Teil der WG-Clique war, ist sie mir dennoch wichtig und ich wünsche mir, die Freundschaft zu ihr wiederzufinden.

»Du und Enna also?«, fragt sie mich, als wir uns wieder voneinander lösen.

»Es ist kompliziert.«

»So wie Harlow euch beschrieb, dachte ich, ihr wärt glücklich?«, fragt sie mich verwundert. Es scheint, als ob sie wirklich für mich da sein will und sich für meine neue Liebe interessiert.

»Das waren wir auch, aber ich habe Scheiße gebaut«, erkläre ich ihr. »Ich habe sie angelogen, was sie sehr verletzt hat.«

»Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist, Finn. Aber ich konnte mir bisher ein gutes Bild von Enna machen. Sie scheint toll zu sein. Vor allem aber ist sie verrückt nach dir, das war mir schon klar, als wir noch zusammen waren. Ich glaube, ich war auch ziemlich mies zu ihr. Das tut mir leid. Es ist nur so, dass ich mitbekommen habe, wie nah ihr beide euch steht, und das hat mich eifersüchtig gemacht. Ich hätte das aber nicht an ihr auslassen dürfen.«

»Enna ist ein guter Mensch, Rachel. Sie weiß, dass du es nicht so gemeint hast. Da bin ich mir sicher«, beruhige ich sie. Ich bin froh, dass sie sich mir endlich öffnet und ehrlich zu mir und zu sich selbst ist.

Rachel nickt. »Ich hoffe es. Aber ich glaube vor allem daran, dass ihr zwei das wieder hinbekommt.«

»Wie läuft es denn mit dir und ...?«

»Mark«, beendet sie meinen Satz. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Wir haben die Sache mit uns noch nicht genau definiert, aber ich mag ihn. Es passt gut zwischen uns.«

»Das freut mich für dich, Rachel. Wirklich«, sage ich lächelnd.

»Danke, Finn. Ich hatte überlegt, ob ich ihn zum Konzert vor Weihnachten mitbringe, aber ich bin mir noch nicht sicher.«

»Ich würde mich freuen, wenn du ihn mitbringst.«

»Wirklich?« Überrascht schaut Rachel mich an. »Ich würde total verstehen, wenn das komisch für dich und die anderen wäre.«

»Quatsch!« Entsetzt schaue ich sie an, dann lasse ich mir die mögliche Szene durch den Kopf gehen. »Jase wird vielleicht kurz ein bisschen schief schauen und für uns alle wird es erst mal seltsam sein. Aber ich würde ihn gern kennenlernen. Außerdem muss ich ihn erst mal absegnen, bevor ihr dieser Sache zwischen euch irgendeinen Titel gebt«, füge ich lachend hinzu.

»Richtig«, sagt Rachel ironisch. »Wie konnte ich das nur vergessen?«

Und in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass wir das schaffen können. Dass unsere Freundschaft vielleicht doch wieder so werden kann, wie sie einmal war.

»Ich werde mir Mühe geben, mich mehr zu öffnen, Finn«, verspricht sie mir schließlich. »Auch Mira, Jase und Enna gegenüber. Und ich werde mir Mühe geben, das Handy öfter mal zur Seite zu legen.«

Lächelnd nicke ich. »Das wäre schön.«