»H örst du mir überhaupt zu?«
Ich schaue zu Sonny auf, der die Stirn in Sorgenfalten legt.
»Ich meine es ernst. Red hat es dieses Mal vielleicht wirklich vermasselt.«
»Ich weiß.« Ich zucke mit den Schultern. »Aber wir werden ihn da rausholen.«
»Warum würdest du ihm überhaupt fünfzig Riesen überlassen, wenn du weißt, wie er ist?«
»Stellst du meine Fähigkeit in Frage, diese Familie zu führen?«
Er stöhnt und wirft seine Hände in die Luft. »Warum ziehst du vorschnell die schlimmsten Schlüsse? Natürlich stelle ich deine Fähigkeiten nicht in Frage. Ich weise nur darauf hin, dass Red ein Versager ist und dass Red mit einer Tasche voller Geld ein noch größerer Versager ist.«
Er hat einen Punkt. Eigentlich hat er zwei.
Ich grummele und blicke auf die Küste unter mir. »Ich gebe zu, dass ich ihm vielleicht ein bisschen zu viel Vertrauen geschenkt habe.«
Sonny winkt mit der Hand. »Ich weiß, dass ich dramatisch bin, okay? Ich glaube, ich bin nur nervös, weil du dich seit der Hochzeit so seltsam benimmst.«
Das kann ich nicht abstreiten. Ich fühle mich anders. Ich schaue auf den Ring an meinem Finger, der mir fast den Blutfluss abschneidet. Als ich beschloss, Lucretia zu entführen, war das nichts weiter als ein geschäftlicher Schachzug, ein Weg, den Todesschuss auf ihre Familie vorzubereiten. Aber in dem Moment, als ich sie mit Blut auf dem Schleier und benommenen Augen dastehen sah, habe ich gespürt, wie sich etwas in mir veränderte. Zuerst dachte ich, es sei einfach der Triumph des Augenblicks, endlich meine Rache gegen die Fontanas und die Manchellos zu beginnen, aber jetzt wird mir klar, dass es mehr war. Es war sie .
»Ich habe deine Akte über sie gesehen«, sagt er etwas leiser.
»Durchsuchst du jetzt meinen Schreibtisch?«, frage ich.
»Du hast sie draußen liegen lassen …« Er räuspert sich. »Einige Male.«
Ich war wohl ein wenig dumm, zu glauben, Sonny würde mein Interesse an Lucretia nicht bemerken. Er ist meine rechte Hand, und das Vertrauen zwischen uns ist unzerbrechlich. Meine Eltern haben ihn nie offiziell adoptiert, aber wie Red und Benny ist er ein Ehrenmitglied der Familie, seit wir Kinder waren. Ich lächele, als ich mich an meine Mutter erinnere – sie hat nie einen Streuner getroffen, den sie nicht aufnehmen wollte.
»Ich glaube, du warst nur ein bisschen abgelenkt.« Er hält seine Hände hoch, die Handflächen zu mir. »Keine Kritik, nur eine Beobachtung.«
Ich schüttele den Kopf. »Kritisiere mich, so viel du willst. Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, wer dann? Benny?« Ich schnaube ein Lachen. »Red?«
»Sie beten dich an. Es ist unmöglich, dass sie auch nur eine einzige Sache, die du tust, in Frage stellen würden.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber es steht in meiner Stellenbeschreibung.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Willst du damit sagen, dass du mich nicht anbetest?«
Er verzieht das Gesicht zu einem halben Lächeln. »Jetzt übertreib mal nicht. Benny und Red küssen dir so sehr den Hintern, dass du wahrscheinlich Knutschflecken hast. Da muss ich nicht auch noch mitmachen.«
»Es ist immer Platz für einen mehr.« Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und strecke die Beine aus. Normalerweise beruhigt mich das Brummen des Jets sehr, aber diesmal nicht. Ich kann mich nicht beruhigen, ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Daran, wie sie sich unter mir anfühlte, wie sie immer wieder Nein sagte, obwohl wir beide wussten, dass sie jeden harten Zentimeter von mir wollte.
»Da hast du ihn wieder.«
»Wen?« Ich zucke mit den Schultern.
»Du hast diesen Gesichtsausdruck, bei dem ich weiß, dass du in Gedanken eine Million Meilen weit weg bist.« Er zuckt mit einer Schulter. »Vielleicht nicht eine Million, nur ein paar Hundert.«
»Ich bin hier.« Ich zwinge mich, den Gedanken an Lucretia zu verdrängen, obwohl ich weiß, dass das nicht lange funktionieren wird. »Was ist der Plan für Red?«
»Ich habe schon ein paar Fäden gezogen, damit wir mit der zuständigen Beamtin sprechen können, sobald wir gelandet sind. Sie ist dafür bekannt, vernünftig zu sein.«
»Ah, ich verstehe. Vernünftig im Sinne davon, dass sie Kinder hat, die sie aufs College schicken muss, und das Gehalt einer Beamtin reicht dafür nicht aus?«
Er nickt.
Ich verschränke meine Finger. »Wie viel wird mich das kosten?«
»Das hängt davon ab, wie sie das spielen will. Aber ich denke, die 50.000 sind schon lange weg, und wir müssen noch mehr drauflegen.«
»Und immer noch kein Koks?«
»Und immer noch kein Koks«, bestätigt er.
»Verdammt.«
»Soweit ich weiß, hängt es immer noch vor der Küste. Die Bundespolizei hat es nicht in der Hand.«
»Das ist wenigstens eine gute Nachricht.« Ich kneife mir in den Nasenrücken.
»Du hast in der letzten Woche nicht viel Schlaf bekommen.« Seine Augen verengen sich auf meinem Gesicht. »Man könnte meinen, dass es daran liegt, dass du in den Flitterwochen bist, aber das ist nicht der Eindruck, den ich habe.«
»Fragst du mich, ob ich meine Frau ficke?«
»Ich frage es nicht. Als du diesen Plan ausgeheckt hast, wussten wir alle, dass du mit der Heirat mit Lucretia nur den Spielplan zu deinem Vorteil gestalten wolltest. Aber es ist mehr als das. Vielleicht ist es Red und Benny nicht klar, aber mir schon. Wie ich schon sagte, habe ich ihre Akte gesehen. Und ich kenne dich. Besser als jeder andere. Sogar Lito.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Lito würde damit nicht einverstanden sein.«
»Lito ist mit allem, was ich mache, nicht einverstanden, weil es um Regeln geht.« Er lächelt reumütig. »Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn er das Sagen hätte?«
Ich bekreuzige mich. »Der Himmel stehe uns allen bei.«
Er lacht. »Genau. Wie auch immer, ich will damit nur sagen, dass, wenn du die ganze Sache mit der Ehe wirklich angehen willst …«
»Ich weiß es nicht.« Ich kann nicht sagen, ob ich die Wahrheit sage.
Er beugt sich vor. »Ich weiß, wer sie ist, Mateo. Ich weiß, was ihre Eltern getan haben. Aber ich weiß auch, wie du sie ansiehst, wie sehr du dich zu ihr hingezogen fühlst und wie du sie praktisch gestalkt hast, bevor du sie überhaupt persönlich getroffen hast. Wenn du das näher erforschen willst, ist das vielleicht keine schlechte Sache.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Du bist das Oberhaupt der Familie Milani.« Sein schiefes Lächeln ist wieder da. »Du kannst tun, was immer du willst.«
Dem kann ich nicht widersprechen. Aber mein Standpunkt steht immer noch. Ich bin an Lucretia gebunden, aber ich bin auch durch meine Ehre verpflichtet, Rache an ihren Eltern zu nehmen. Sie ist ein Kollateralschaden, ein Mittel zum Zweck. Auch wenn ich die Kluft zwischen uns überbrücken wollen würde, könnte ich das nicht, nicht nachdem, was ihre Familie meiner angetan hat. Es ist ein Gefängnis, das durch unsere gemeinsame Geschichte entstanden ist, obwohl sie die Gitterstäbe nicht so stark spürt wie ich. Sie kennt das Ausmaß dessen, was ihre Familie getan hat, nicht. Vielleicht sollte ich es ihr sagen. Vielleicht sollte ich ihr genau zeigen, warum ich sie hasse. Aber ist Hass das richtige Wort? Habe ich Hass gefühlt, als ich auf ihr lag, als ich an ihren perfekten Titten saugte und meinen Schwanz an ihrer feuchten Muschi rieb? Nein, ich habe Verlangen verspürt, so viel davon, dass ich keine Kontrolle mehr hatte. Und unter diesem Urverlangen gab es noch ein anderes Gefühl, eines, das nur in den tiefsten Tiefen meines Herzens flüstert. Ein Wort, das nie verwendet werden sollte, um zu beschreiben, was ich für jemanden mit dem Nachnamen Fontana empfinde.
Ich muss sie hassen. Das verlangt meine Familienehre. Und die Tatsache, dass ich das nicht tue … die Tatsache, dass ich so viel mehr für sie empfinde. Scheiße! So hatte es eigentlich nicht laufen sollen.
Ich starre auf meine Hände, auf die geschwollenen Knöchel und den verdammten Ehering. Ich hätte sie benutzen sollen, sie meinem Willen unterwerfen und ihr alles nehmen sollen, um sie als ausgehöhlte Hülle zurückzulassen. Aber das habe ich nicht. Und das eine Mal, als ich nah dran war, ging es nicht darum, sie zu verletzen. Es hätte so sein sollen, aber das war es nicht. Als ich auf ihr lag, war es ein Geben und Nehmen, ein Tanz der Verweigerung und der Sehnsucht, der damit endete, dass wir beide ineinander verschlungen waren und in der Lust ertranken. Heute Morgen ging es nicht darum, sie für die Sünden ihres Vaters zu bestrafen. Es ging nur um uns beide, um die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig anziehen wie Magnete. Verflucht von Kräften, die sich unserer Kontrolle entziehen, Kräften, die so verdammt ursprünglich sind, dass ich nicht sagen kann, wie tief sie gehen, dass ich nicht einmal eine Idee habe, wie man sie ausmerzen kann. Es ist, als ob dieses Bedürfnis nach ihr in meine DNA geschrieben ist, mit der Klinge eines Höhlenmenschen in meinen Schädel geritzt.
Ich stoße einen frustrierten Seufzer aus und reibe mir die Augen. In meinem Kopf kreisen die Gedanken um eine Frau, die mir bei unserem nächsten Treffen die Augen auskratzen könnte. »Scheiße. Was für ein verdammtes Chaos.«
»Reden wir immer noch über Red?«, fragt Sonny.
Ich antworte nicht, denn die Wahrheit klingt mir schon in den Ohren, als das Flugzeug seinen Sinkflug beginnt.