Kapitel 17

Lucretia

»V erhaftet?« Litos Gesicht färbt sich knallrot. »Du meinst verhaftet, verhaftet?«

Ich reibe mir die schmerzende Stirn. Die Margaritas waren definitiv nicht alkoholfrei.

»Wie kann ich einfach abwarten, wenn das FBI ihn hat?«

»Ja … Ja, Sonny, ich weiß, aber … Ja. Okay.« Er seufzt. »Das werde ich. Sag mir einfach Bescheid, wenn du …« Er zieht das Telefon von seinem Ohr weg. »Das Arschloch hat aufgelegt.«

»Wofür haben sie ihn verhaftet?«

»Mord.«

Ich glaube nicht, dass meine Augen noch größer werden können. »Er hat einen Bundesbeamten getötet?«

»Nein.« Lito hält inne. »Zumindest denke ich das nicht. Sonny hat es so aussehen lassen, als ob sie Mateo nur unter Druck setzen wollen.« Er schnaubt. »Sie wissen eindeutig nicht, was sie tun. Wenn sie es wüssten, wüssten sie, dass man Mateo zu nichts zwingen kann. Wenn du ihn schubst, schubst er nur noch härter zurück.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Ich streiche die dunkelblaue Decke unter meinen Händen glatt. »Aber ich schätze, das bedeutet, dass du mich noch eine Weile babysitten wirst.«

»Babysitten? Nein. Unzählige Netflix-Serien ansehen? Ja.« Er rollt sich aus dem Bett und streckt sich.

»Du scheinst dir keine Sorgen zu machen.«

»Das tue ich auch nicht. Du?«

»Ich weiß es nicht.« Das ist eine ehrliche Antwort.

»Hm.« Er geht ins Badezimmer und schließt die Tür.

Ich lehne mich im Bett zurück und denke über diese neuen Informationen nach. Wenn Mateo inhaftiert ist, habe ich vielleicht sogar eine Chance, zu entkommen. Und was, wenn er die Anklage nicht abwenden kann? Könnte das bedeuten, dass ich frei sein werde? Ich schüttele diesen Gedanken ab. Niemand in unserer Welt wird jemals für etwas Ernstes verurteilt, und schon gar nicht für Mord. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Männer, die Mateo auf der Hochzeit getötet hat, nie gefunden werden, jedenfalls nicht von den Behörden. Die Familien haben meist private Friedhöfe und begraben ihre Toten ohne ein Wort – wenn es überhaupt eine Leiche zu begraben gibt. Es ist grausam, aber die Mafia hat ihre eigenen Regeln, ihre eigenen Bräuche und ihre eigene Methode, Streitigkeiten zu lösen.

Wenn das alles zutrifft, dann wird Mateo zurückkehren. Es ist nur eine Frage der Zeit. Dieses winzige Fenster könnte meine einzige Chance sein, aus dieser Situation herauszukommen.

Lito tritt aus dem Badezimmer. »Komm schon. Lass uns frühstücken und dann ein paar Serien aussuchen. Aber nichts mit Superhelden. Ich habe mehr Lust auf Teenie-Drama, vielleicht sogar ein bisschen weinen. Aber nur ein bisschen. Nicht so wie damals, als ich ›My Girl – Meine erste Liebe‹ gesehen habe, oder wie bei dem alten Film ›Zeit der Zärtlichkeit‹. Heilige Scheiße, was war damals mit den Leuten los, dass sie so traurige Filme gemacht haben?« Seine Stimme verhallt auf dem Flur. »Komm schon. Pfannkuchenzeit, Bitch!«

* * *

»Ich kann nicht noch eine Serie ertragen.« Ich lasse mich auf die Couch im Kinoraum fallen. »Das waren drei Tage voller Serien.«

»Wir haben nicht viele Möglichkeiten. Du kannst nicht durch die Clubs ziehen. Außerdem regnet es.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, grollt der Donner durch das Haus.

»Was ist mit Sister Wives?« Er blättert durch die Apps.

»Ich hasse diesen Ehemann. Ich kann es nicht ertragen, ihn reden zu hören.«

»Ich hasse ihn auch.« Er runzelt die Stirn. »Er ist so schwach.«

»Das ist er wirklich. Ich weiß nicht, wie er eine Frau bekommen hat, geschweige denn vier.« Ich lege meinen Arm hinter meinen Kopf als Kopfkissen.

»Wie wäre es mit ein paar gruseligen Sachen? Halloween steht bald vor der Tür.«

Ich rümpfe meine Nase. »Ich stehe nicht auf Blut und Blutvergießen.«

»Traumatisiert?«, fragt er.

»Vielleicht ein bisschen.«

»War es bei der Hochzeit so schlimm?« Er schnaubt. »Ich war nicht einmal eingeladen. Ich hätte Trauzeuge sein sollen. Ich bin sein Bruder.«

»Du solltest der Jungfrau Maria danken, dass du nicht dabei warst. Es war grausam. Ich kann es nicht einmal beschreiben. Sarita tat mir so leid.«

»Da bist du die einzige, der das so ging.« Er blättert noch ein paar Optionen durch.

»Warte.« Ich drehe meinen Kopf und starre ihn an. »Warum solltest du kein Mitleid mit ihr haben? Ihre Söhne wurden direkt vor ihren Augen abgeschlachtet.«

Er kaut auf seiner Unterlippe. Ich habe festgestellt, dass er das immer macht, wenn er zu sehr über etwas nachdenkt.

»Spuck es aus.« Ich gebe ihm einen Klaps auf sein Bein.

»Hör zu, Schatz, es gibt bestimmte Dinge, die du besser mit Mateo besprichst. Er ist derjenige, den du nach Sarita und ihrer Familie fragen solltest.«

»Ich habe ihn gefragt!« Ich werfe meine Hände in die Luft. »Ich habe ihn gefragt, warum ich, warum meine Hochzeit, warum Horatio und der Rest. Ich weiß es immer noch nicht. Es ergibt immer noch keinen Sinn, und niemand will es mir sagen. Ich habe einfach angenommen, dass du es nicht weißt, da du dieses ganze Leben außerhalb der Familien hast …« Meine Worte versauern mir auf der Zunge. »Das ist das Leben, das ich wollte, eines, in dem ich meine eigenen Entscheidungen treffen und frei sein kann.«

»Denkst du, mein Leben ist einfach?«, kontert er.

»Nein. Aber ich beneide dich darum, dass du, sobald Mateo zurückkommt, wahrscheinlich nach Hause zurückkehrst, zu deiner Kunst, zu deinen Freunden, zu deinem ganzen Leben, das von den Familien getrennt und entfernt ist.«

Er lacht, aber es ist nicht sein übliches, fröhliches Lachen. »Kein Wunder, dass Mateo dich will. Du bist so naiv, dass es süß ist.«

Ich schnaube. »Wie meinst du das?«

»Wir sind nie frei von den Familien. Wenn du dachtest, du könntest aufs College gehen und diesem Leben Lebewohl sagen, dann bist du eine Närrin.«

»Aber das hast du doch getan – du bist nach L. A. gegangen und hast nichts mit dem hier zu tun …«

»Was glaubst du, was ich tun würde, wenn Mateo, Gott bewahre, nicht nach Hause zurückkäme?«, fragt er leise.

»Ich … Ich …«

»Ich würde seinen Platz an der Spitze der Familie einnehmen und sie ehrenvoll führen, bis jemand – und ich bin mir bewusst, dass das eher früher als später passieren würde – meinen Kopf fordern würde.«

Das trifft mich hart. Der Gedanke, dass Lito, meinem einzigen Rettungsanker in dieser neuen Welt, etwas zustoßen könnte, ist wie ein Tritt in den Magen. Meine Gedanken schweifen zu Ferdinand und wie ich alles getan hätte, um ihn zu beschützen. Ich weiß nicht, ob es sich um das Stockholm-Syndrom handelt, aber ich fange an, mich Lito gegenüber ähnlich zu fühlen. Ich kann nicht zulassen, dass er verletzt wird. Er ist freundlich und stark – auch wenn er etwas zu viel Alkohol und Schönheitsprodukte konsumiert – und jemand, für den es sich zu kämpfen lohnt.

Er wirft mir einen fast müden Blick zu. »Wir sind nie raus. Unsere Nachnamen, das Blut in unseren Adern – das gilt ein Leben lang, Lucretia. Das musst du dir zu Herzen nehmen. Deine Eltern hatten die Leine bei dir ein wenig lockerer gelassen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie wieder anzogen.«

»Ferdinand hat sie aufgehalten. Er ist der einzige Grund, warum ich es geschafft hatte, frei zu sein – auch wenn es nur vorübergehend war.«

»Vielleicht hast du mehr Chancen auf Freiheit, als du weißt. Mateo mag wie ein unausstehliches Arschloch wirken, aber man kann mit ihm reden … in manchen Dingen.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber was bei der Hochzeit passiert ist, das war nicht verhandelbar.«

»Warum nicht?«

»Das geht nur dich und Mateo etwas an.« Mit einem Gähnen wirft er mir die Fernbedienung zu. »In Ordnung. Du hast deinen Standpunkt zum Thema ›keine weiteren Sendungen‹ deutlich gemacht. Ich glaube, ich mache jetzt Schluss für heute. Morgen lassen wir uns unsere Nägel machen. Wie hört sich das an? Wir müssen uns zwar an Benny vorbeischleichen, aber der ist ziemlich leicht zu täuschen. Nicht so einfach wie Red, aber fast.«

Mir ist klar, dass er mir nichts sagen wird, und ich fange an, zu glauben, dass er recht hat, wenn er sagt, dass uns die Familien im Blut liegen. Hinter seiner Freundlichkeit verbirgt sich ein eisernes Band, das vielleicht noch stärker ist, als er weiß. »Nägel, ja. Klingt gut.«

Er beugt sich vor und küsst mein Haar. »Wir sehen uns im Bett. Gute Nacht, Schwesterherz.«

Warum tränen meine Augen?

»Nacht.« Ich schaffe es kaum, das Wort herauszubringen, aber zum Glück ist Lito schon zur Tür hinaus.

Ich kuschele mich noch eine Weile unter die Decke und merke dann, dass ich gleich einschlafe. Da kann ich auch gleich ins Bett gehen. Nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet und die Couch aufgeräumt habe, strecke ich mich und gehe hinaus in den Flur.

Die Küche ist dunkel, als ich sie durchquere, um zur Treppe zu gelangen.

Ich halte inne, als ich ein Geräusch in der Speisekammer höre, und erstarre, als Gino mit einem Oreo zwischen den Fingern herauskommt. »Oh, du bist es.«

Ein Blitz erhellt den Raum für den Bruchteil einer Sekunde.

»Mitternachtssnack?«, fragt er und sein Blick wandert an meinem Körper hinunter.

Ich trage einen Seidenschlafanzug, aber so wie er mich ansieht, könnte ich genauso gut nackt sein. Ich bewege mich auf die andere Tür zu, während sich in meinem Magen ein Unbehagen breitmacht.

Er stellt sich vor mich und kaut seinen Keks laut mit offenem Mund. »Wohin gehst du?«

»Ich gehe ins Bett.«

»Mit der dürren Schwuchtel?«

Ich starre ihn wütend an. »Sag ihm das ins Gesicht und er wird deine Arroganz aus dir herausprügeln.«

Sein Kiefer zuckt. »Du bist wirklich eine großmäulige Schlampe.«

»Lass mich in Ruhe.« Ich versuche, ihm auszuweichen.

Er ergreift meine Oberarme und drückt sie zusammen. »Du hältst dich für etwas Besonderes, aber wir alle wissen, dass der Boss deine Muschi ausnutzen und dich dann wegwerfen wird. Du bist nicht einmal gut genug, um sich mit dir fortzupflanzen.«

Angst und Wut wirbeln in mir und verflechten sich, während die Panik überhandnimmt. Ich halte meine Stimme ruhig. »Lass mich los.«

»Oder was?« Er zerrt mich zu sich. »Was wirst du tun?«

»Lass mich los!« Ich greife nach oben und zerkratze sein Gesicht.

Er schubst mich nach hinten, und ich pralle gegen die Kücheninsel. Der Schmerz explodiert in meinem unteren Rücken, als ich mich umdrehe und wegrenne. Aber er ist schon auf mir, eine seiner fleischigen Hände bedeckt meinen Mund, und er zieht an meinen Haaren, bis ich schreie.

»Halt die Klappe!« Er drückt mich mit dem Gesicht nach unten auf die Insel, und ich versuche, in seine Hand zu beißen, als ich spüre, wie er an meiner Pyjamahose zerrt.

Das wird nicht passieren. Ich werde nicht zulassen, dass das passiert. Ich wehre mich gegen ihn und nehme meine Hände zu der Hand, die auf meinem Mund liegt. Ich grabe meine Nägel hinein, ziehe einen seiner Finger weg, nehme ihn dann zwischen die Zähne und beiße fest zu. Blut spritzt in meinen Mund, während er aufheult und seine Hand wegreißt.

Ich spucke und zucke von ihm weg, dann renne ich zur Tür, die nach draußen führt. Ich drehe am Knauf, aber er erwischt eine weitere Handvoll meiner Haare, bevor ich die Tür öffnen kann.

»Du verdammte Schlampe.« Er knallt meinen Kopf gegen die Tür, und ich werde vor Schmerzen fast ohnmächtig.

Ich falle zur Seite und kann mich gerade so am Tresen festhalten, als er hinter mir auftaucht. Blut rinnt an meinem Hals herunter.

»Ich tue dem Chef einen Gefallen, wenn ich dich in deine Schranken weise.« Er greift wieder nach meiner Hose.

Ich drehe mich mit einem Messer vom Messerblock in der Hand um und schneide quer über seine Vorderseite.

Er hält inne, und sein Blick fällt auf seine Brust, wo ein weiterer Blitz einen purpurnen Fleck auf seinem Hemd zeigt.

Ich nutze seinen Moment der Ablenkung, um zur Hintertür zu laufen, sie aufzureißen und mich in den Regen zu stürzen.

»Schlampe!«, schreit er hinter mir, und ich rase um den Pool herum, wobei mir die Regentropfen ins Gesicht klatschen, während über mir Blitze zucken. Ich kann nicht hinter mich schauen, sonst würde ich vor Angst erstarren. Also stürme ich weiter durch den Rosengarten, während die Dornen an meiner Kleidung und meiner Haut darunter zerren. Aber ich höre nicht auf und treibe mich selbst an, während mein Herz pocht, und der Donner durch die Luft rollt.

Ich verlasse den Garten, laufe über das nasse Gras, und meine nackten Füße machen ein platschendes Geräusch auf dem feuchten Boden.

»Komm zurück!« Er muss aufholen, da seine Stimme viel zu nah ist.

Vor mir liegt eine Baumgruppe, und ich sprinte in sie hinein, wobei die tief hängenden Äste gegen mich klatschen, während ich mich durchschlage. Ich schwöre, dass ich den Geist einer Hand spüre, die nach mir greift, und ich weiche zwischen zwei Bäumen nach links aus und laufe weiter.

Meine Lungen brennen, und Wasser schwappt in meine Augen und macht die dunkle Nacht verschwommen, bis auf einen Blitz, der den Himmel erhellt.

Ich sehe die Grundstücksmauer vor mir. Der Mut verlässt mich. Ich kann nicht schnell genug an ihr hochklettern, aber ich gebe nicht auf. Das kann ich nicht. Als ich sie erreiche, kratze ich an den moosbewachsenen Steinen und meine Finger rutschen ab. Ich versuche es noch einmal, und meine Nägel graben sich ein, während ich mich mühsam hochziehe. Die Anstrengung lässt den Schmerz in meinem Hinterkopf wieder aufblühen und ich sehe dunkle Schatten neben mir an der Wand entlangklettern. Ich blinzele heftig, und sie verschwinden. Ich bewege mich nach oben, aber das Ende der Mauer ist noch weit entfernt.

Dann rutschen meine Finger ab, und ein Schrei entweicht mir, während ich falle.

Ich lande hart, aber nicht auf dem Boden.

Mateo hält mich in seinen Armen und beugt sich über mich, aber sein Gesicht ist im Schatten und im Regen verborgen.

»Fliehst du schon, Prinzessin?«

»G-G-Gino.« Ich versuche, an ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, ob er noch hinter mir her ist.

»Was?« Er zieht mich näher zu sich. »Du blutest ja.«

»Gino.« Ich klammere mich an ihn, schlinge meine Arme um seinen Hals, obwohl ich mich schwach fühle, zu schwach. »Bitte lass nicht zu, dass er …«

»Hat er dich angefasst?« Die leise, seidige Belustigung ist aus seiner Stimme verschwunden. Es gibt nur harte Kanten und scharfe Noten. »Was hat er getan, Lucretia?«

»Er hat versucht …« Ich vergrabe mein Gesicht in seinem Nacken. Sein vertrauter Duft ist irgendwie beruhigend. »Bitte, lass nicht zu, dass er mir wehtut.« Ich bekomme die Worte kaum heraus, so sehr zittere ich.

Er dreht sich um und geht mit mir Richtung Haus.

Ich versuche, mich nach Gino umzusehen, aber die dunklen Schatten sind wieder da und verdunkeln alles. Ich spüre, wie mein Bewusstsein zu verblassen beginnt und mein Verstand sich abschaltet.

Ein weiterer Blitz zerreißt den Himmel, und das Letzte, was ich sehe, sind die brennenden Augen des Teufels, wunderschön in ihrer schrecklichen Wut.