I ch setze mich auf die Couch, während Benny in der Nähe bleibt, und versuche, mich zu orientieren.
Mateo hat mir endlich seine Beweggründe verraten, und die haben mich umgehauen. Ich wusste, dass er mich nicht aus guten Absichten geheiratet hat – das sah man schon allein an seiner Vorgehensweise –, aber ich hatte keine Ahnung, dass seine Rache so weit reichte. Ich kann nicht behaupten, dass ich unschuldig bin, nicht wenn meine Eltern so sind, wie sie sind, aber ich hatte nichts mit dem Tod seiner Eltern zu tun.
Er wollte mich zerstören. Ich atme tief aus und schüttele den Kopf. Aber wie sehr kann ich es ihm verübeln? So wie er und Lito reden, waren ihre Eltern auf eine Art und Weise, die ich nicht einmal verstehen kann, ihre ganze Welt. Sie hatten Liebe, und das ist in den Familien selten. Die meisten sind wie meine: ein mächtiger Vater und eine Mutter, die ihn entweder antreibt oder als Fußabtreter fungiert.
Trotzdem ist das, was er versucht hat, mir anzutun, verwerflich. Warum will ich ihm also verzeihen? Ich war von Anfang an Knete in seinen Händen, von dem Moment an, als er die Kathedrale betrat und mit einer roten Rose im Revers den Tod brachte. Als ich hätte fliehen sollen, bin ich geblieben. Als ich ihn bekämpfen sollen hätte, habe ich nachgegeben. Und obwohl ich ihn nicht wollen sollte, begehre ich ihn mehr als alles andere.
Ich fühle mich innerlich zerrissen. Und dann fallen mir seine Worte wieder ein: »Ich liebe dich.« Er hatte sie nicht gesagt, um meine Vergebung zu bekommen. Er hätte sie nicht sagen müssen, aber er hat es getan. Und obwohl ich immer wieder versuche, einen Hauch von Falschheit in ihm zu finden, gibt es keinen.
Mateo Milani liebt mich. Unerbittlich. Vollständig. Auf eine Weise, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Und je mehr ich ihn in meinem Kopf, in meinem Herzen höre, desto mehr weiß ich, dass ich ihn auch liebe. Nicht von Anfang an, nein. Aber er hat mir bei jedem Schritt gezeigt, dass er mich schätzt, dass er mich sieht und dass er ein Leben mit mir haben will. Es gibt noch so viel mehr, was wir besprechen müssen, aber seine Worte sind keine Lügen und die in meinem Herzen sind es auch nicht. Ich liebe ihn.
Endlich kommt er aus der Besprechung mit Vincenzo heraus, und seine Augen suchen sofort nach mir. Ich lasse mich von ihm auf die Füße ziehen und mich küssen.
»Vermisst du mich schon?«, frage ich.
»Ja.« Er küsst mich wieder.
»Es ist so weit.« Benny zeigt auf die Treppe, wo sich ein ständiger Strom von Menschen in den zweiten Stock bewegt.
»Komm.« Mateo nimmt meine Hand.
»Ich würde lieber hierbleiben und auf dich warten. Wenn ich meine Eltern jetzt sehe …« Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Mateo zieht mich in eine Umarmung, sein beruhigender Duft umgibt mich. »Ich würde dich beschützen. Das weißt du doch, oder nicht?«
»Natürlich. Aber das sind eher emotionale Wunden. Ich glaube nicht, dass Carmen mich abstechen würde.«
Er seufzt.
»Gehen wir.« Vincenzo knöpft seine Anzugjacke zu.
»Bleibst du hier?« Mateo hält mich auf Armeslänge und schaut mir in die Augen. »Genau hier?«
»Ja.«
»Ich werde auf sie aufpassen.« Benny lehnt immer noch mit einer Zigarette hinter dem Ohr an der Wand.
Mateo denkt noch ein paar Augenblicke darüber nach und nickt dann. »Na gut, aber versuch nicht, wegzurennen, Prinzessin. Ich würde dich jagen, ich würde dich fangen, und was ich dann mit dir machen würde – du würdest es genießen.«
Ein angenehmer Schauer läuft mir über den Rücken, als er mich noch einmal küsst und dann Benny zunickt. »Du weißt, was zu tun ist.«
»Ich mach das schon, Chef. Geh schnell zu deinem wichtigen Treffen. Red ist da oben wahrscheinlich kurz davor, sich in die Hose zu pissen.«
Mateo küsst mich auf die Stirn und zieht sich dann zurück. Seine hellen Augen halten die meinen fest, bis er sich umdrehen und die Treppe hochgehen muss. Er und Vincenzo unterhalten sich leise, während sie nach oben und dann in den Flur verschwinden.
Ich nehme wieder Platz und frage mich, wie lange das Treffen dauern wird. Meine Gedanken sind bei Mateo, und bei der Tatsache, dass der heutige Abend so wichtig ist. Trotz des Drucks hat er sich auf mich konzentriert. Irgendwie gibt er mir auf eine Art und Weise Selbstvertrauen, die ich noch nie erlebt habe. Meine Mutter hat mich gelehrt, versnobt zu sein, auf andere herabzuschauen und nie meinen wahren Platz zu vergessen. Mateo steckt mich nicht so in eine Schublade. Er sieht so viel mehr in mir, und ich stehe für ihn an erster Stelle. Dadurch fühle ich mich … mächtig. Ich lächele bei dem Gedanken, dass er so viel mehr für mich geworden ist, als ich mir je vorgestellt habe.
»Warum bist du wie eine Nutte angezogen? Das ist eine Totenwache, um Himmels willen.« Meine Mutter sitzt neben mir, und ihr vernichtender Blick gleitet über mein Kleid.
Aus meinen Gedanken gerissen, kann ich ihr nur zublinzeln.
Benny wippt nervös von einem Fuß auf den anderen, aber er mischt sich nicht ein. Schließlich bin ich durch nichts in Gefahr, außer durch die scharfe Zunge meiner Mutter.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mutter.« Ich stehe auf.
»Warte.« Sie streckt ihre Hand aus und nimmt meine Hand, die erste freundliche Berührung, die ich seit Jahren von ihr bekomme. »Bitte?«
Ich starre auf die Stelle, an der sie mich berührt.
»Es tut mir leid.« Sie zieht sich zurück und faltet die Hände in ihrem Schoß.
Die meisten Leute im Raum haben sich zurückgezogen, weil sie sich wahrscheinlich auf das Treffen vorbereiten.
Ich setze mich langsam wieder hin. »Solltest du nicht oben sein und auf Papa warten?«
»In einer Minute. Ich habe dich hier gesehen und wollte mit dir reden.« Sie blickt mir in die Augen. »Hat er dir wehgetan?«
»Würde dich das stören?« Die Erwiderung kommt ungewollt.
Sie hat die Frechheit, verletzt auszusehen. »Natürlich würde es das. Du bist meine Tochter.«
»Nein, er hat mir nicht wehgetan.«
»Ich bin mir sicher, dass er dir gedroht hat, damit du sagst, dass in seinem grässlichen Haus alles in Ordnung ist, aber du kannst ehrlich zu mir sein, Liebes.«
»Bist du deshalb gekommen? Um Klatsch und Tratsch zu bekommen, den du mit deinen Freundinnen teilen kannst?«
»Nein.« Sie tätschelt meine Hand. »Nein. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht und dass du weißt, mit was für einem Mann du verheiratet bist.«
»Ich bin mit einem Mann verheiratet, der dir und Papa eine große Summe Geld bezahlt hat. Das war alles, was euch interessiert hat, als ihr mich an ihn verkauft habt.«
»Das ist nicht fair, und das weißt du. Als Ferdinand uns weggenommen wurde …« Sie tupft sich ihre trockenen Augen ab. »Wir mussten schnell handeln. Deshalb haben wir die Ehe zwischen dir und Horatio arrangiert. Er hätte dich gut behandelt.«
»Ihr habt mich an eure Freunde verkauft. Welche anderen Geschäfte macht ihr mit den Manchellos?«, frage ich.
»Was meinst du?« Ihre Augen verengen sich.
»Du weißt genau, was ich meine. Mateo hat mir erzählt, was mit seinen Eltern passiert ist. Er hat mir gesagt, wer sie getötet hat.«
Sie erbleicht. »Was immer er dir erzählt hat, ist eine Lüge, Lucretia. Das musst du wissen. Er würde alles sagen, um uns zu schaden, jetzt wo er unseren Namen hat.«
Wut durchspült mich wie eine Flut von Lava. »Ihr habt ihm unseren Namen verkauft. Ich war dabei, Mutter. Ich habe gesehen, wie ihr das Angebot für mich angenommen habt, als wäre ich nichts weiter als ein Stück Vieh.«
»Wir sind hier nicht die Bösen. Er ist es .« Ihre Stimme wird lauter. »Er wusste, dass wir fast mittellos waren, und hat uns in einem Moment der Schwäche angegriffen. Was hätte er getan, wenn wir Nein gesagt hätten? Hast du darüber nachgedacht? Glaubst du, er hätte dich einfach gehen lassen, nachdem was er dem armen Horatio angetan hat?« Sie blickt sich um und lehnt sich dann so nah heran, dass ihr Chanel No. 5 in meiner Nase brennt. »Er hat deinen Bruder doch auch nicht einfach so gehen lassen, oder?«
»Was?« Ich kann das Wort kaum aussprechen.
Ihre dünnen Lippen sind fest aufeinandergepresst und sie nickt. »Er war das.«
Ich habe das Gefühl, ich falle. Der Moment, in dem man nicht atmen kann, weil einem die Luft aus den Lungen gestohlen wurde – das ist der Moment, in dem ich gefangen bin.
Meine Mutter steht auf und streicht ihr schwarzes Kleid glatt. »Ich sehe dich oben.« Sie geht weg, nachdem sie mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat, nachdem sie Sehnen und Knochen meiner Beine durchgesägt hat und mich offen und blutend zurückgelassen hat.