Kapitel 28

Lucretia

»W as?« Er sieht verwirrt aus.

»Meine Mutter hat mir gesagt, dass du es warst. Du hast ihn getötet! Du hattest deine Rache.« Ich kann kaum atmen durch die Tränen und das Bedauern, das in mir brodelt.

»Nein.« Er reißt am Sicherheitsgurt. »Ich habe deinen Bruder nicht umgebracht.«

»Das glaube ich dir nicht.« Ich sehe ihn mit neuen Augen an, mit denen ich die unerbittliche Dunkelheit sehe. »Du hast gesagt, dass du meine ganze Familie verfolgst, dass du sogar weißt, unter welchem Baum ich gerne gelesen habe! Du hast uns alle im Auge behalten.«

»Ja.« Er rast an so vielen Autos vorbei, dass sie nur noch verschwommen zu sehen sind. »Das wollte ich wirklich. Aber ich habe deinen Bruder nicht getötet. Ich wollte es …« Sein Kiefer spannt sich an. »Das habe ich. Aber ich war es nicht.«

Wie kann ich ihm glauben? Wie kann ich dem Mann glauben, der mich so sehr verführt hat, dass ich dachte, ich würde ihn lieben? Er ist ein Lügner, ein wirklich guter. Aber es ergibt alles Sinn. Er hat es schon seit Jahren auf meine Familie abgesehen, und als er anfing, uns auszunehmen, war Ferdinand der Erste, den es erwischt hat.

Ich schließe die Augen, und Ferdinands Gesicht schwebt hinter meinen Lidern durch den Äther. Er lächelte mich immer halb an, als ob er einen Scherz mit mir machen würde. Früher hat es mich genervt, aber jetzt würde ich alles dafür geben, es noch einmal zu sehen.

»Du hast mir das Herz gebrochen.« Ich wische mir über die Wangen, und meine Sicht wird klarer, als ich ihn anstarre. Sein Gesicht ist zerkratzt, er hat kleine Blutspuren auf seinen Wangen. »Wie konntest du nur? Er hat dich nie verletzt. Er hat dir nichts angetan. Du …«

»Lucretia.« Er weicht auf eine Ausfahrt aus und biegt scharf rechts ab. Die Reifen quietschen, als er zurück zu seinem Anwesen fährt. »Du musst mir glauben. Ich habe deinen Bruder nicht getötet. Deine Mutter versucht nur, mit dir zu spielen.«

»So wie du es tust?«, spucke ich zurück.

»Ja!« Er begegnet meinem Blick, und seine Augen sind wild, während Blut an seiner Schläfe herunterläuft. »Das ist genau das, was sie tut. Sie hat das Treffen irgendwie manipuliert. Wir sind betrogen worden. Vincenzo hat gegen mich gestimmt.«

Ich bin noch verlorener als vorher. »Vincenzo? Ich verstehe nicht.«

»Er hat sich mit deinen Eltern und den Manchellos zusammengetan. Sie haben die ganze Sache inszeniert und mich reingelegt.«

»Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass Sarita versuchen wird, meinen Kopf zu bekommen. Sie kann ihn sich ohne Konsequenzen nehmen.«

»Warum hat Vincenz…«

»Ich weiß es nicht!«, brüllt er und schlägt mit der Hand gegen das Lenkrad. Er holt tief Luft und stößt den Atem wieder aus. »Ich weiß es nicht.« Er klingt gebrochen, und vielleicht ist er das auch. Er hat Vincenzo wie einen Ersatzvater behandelt, zu ihm aufgeschaut, und jetzt hat er sein Messer zwischen Mateos Rippen gerammt.

Ich kann das nachvollziehen. Ich fühle den gleichen brennenden Schmerz. Der Mann, den ich liebe, mein Ehemann, hat mir die einzige Person genommen, der ich jemals wichtig war. Wie kann das echt sein? Wie konnte sich mein Leben nur so entwickeln? Nichts als Trostlosigkeit und Bedauern, Scham und Angst. Ich bedecke mein Gesicht mit meinen Händen und weine.

»Es wird alles gut werden.« Er wickelt meinen Sicherheitsgurt von seinem Handgelenk ab und lässt ihn einrasten. »Ich weiß, du glaubst mir nicht. Dazu hast du keinen Grund. Aber ich habe Ferdinand nicht getötet, Lucretia. Ich schwöre es dir bei den Seelen meiner Eltern. Ich werde alles tun, um es dir zu beweisen.«

Ich will ihm nicht glauben. Ich will ihm wieder ins Gesicht schlagen, ihm den Schmerz zufügen, der mich innerlich zerreißt. Er sollte so leiden, wie ich leide.

»Lucretia, bitte.« Gebrochen, so gebrochen. Er ist ein verwundetes Tier.

Das bin ich auch. Wegen der Lügen, dem Herzschmerz, den Millionen grausamer Worte meiner Mutter und der Gewalt, die meinem Bruder angetan wurde. Vielleicht bin ich wie er – unheilbar gebrochen. Ich kann meine scharfen Kanten spüren, die mich immer noch schneiden und ausbluten lassen. Ich bin verloren.

»Bitte, bitte, Lucretia.« Seine Stimme ist flehend, verzweifelt. So etwas habe ich noch nie von ihm gehört. Es ist so roh und echt, dass es mir den Atem verschlägt.

Ich schwöre es dir bei den Seelen meiner Eltern. Er würde diesen Schwur niemals bei einer Lüge benutzen. Es sei denn, jedes einzelne Wort, das er mir je gesagt hat, war eine Lüge, eine, die er erfunden hat, um mich näher zu ihm zu locken, damit er den letzten Schlag ausführen kann. Ich presse meine Hände auf meine Ohren und versuche, das Dröhnen in ihnen und die Kakophonie in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Wer sagt die Wahrheit? Niemand? Ist das Fundament, das ich mit Mateo aufgebaut zu haben glaubte, nichts als eine Illusion?

Was muss ich tun? Ich stehe immer noch unter Schock, bin immer noch verwirrt von dem, was meine Mutter gesagt hat. Immer noch zerrissen.

»Wie oft hat sie dich verletzt, Lucretia? Wie oft?«, fragt er mich verzweifelt. »Als ich dich an diesem Tag holte, warst du gebrochen. Sie hatte dich gebrochen, damit sie dich benutzen und an Horatio verkaufen konnte. Ich will sie umbringen für das, was sie dir angetan hat!« Er schlägt auf das Lenkrad und verstummt, sein ganzer Körper brummt vor Anspannung.

Er hat recht. Ich war gebrochen. Ich dachte, ich würde mich nie wieder erholen, nie wieder träumen können, nie wieder hoffen. Aber vielleicht kann ich wieder ganz sein. Vielleicht passen meine fehlenden Teile zu Mateos fehlenden Teilen. Vielleicht können wir gemeinsam ein Ganzes sein. Ich muss ihm einfach vertrauen, so wie er mich darum gebeten hat. Das ist eine Entscheidung, die nur ich treffen kann. Halte ich weiter an meiner Vergangenheit fest und hoffe auf eine Mutter, die mich liebt, und einen Bruder, der nicht mehr da ist, oder gehe ich vorwärts? Entscheide ich mich dafür, weiterzumachen? Es ist hart und tut weh, aber das ist bei Wachstum immer so.

»Ich … ich glaube dir.« Ich strecke die Hand aus und nehme seine Hand.

Er drückt meine Finger. »Danke.« Er führt meine Hand zu seinem Mund, küsst sie und murmelt immer wieder: »Danke.«

Als wir vor dem Haus halten, dreht er sich zu mir um und küsst mich stürmisch, wobei seine Hände auf meinen Wangen liegen, während er meinen Mund beansprucht. Ich komme ihm entgegen, gebe ihm meinen Kummer und meinen Schmerz, meine Tränen fließen immer noch, als er mich küsst, als wäre es das letzte Mal.

»Ich liebe dich so sehr.« Er drückt seine Stirn an meine. »Zweifle nie daran, auch wenn du an mir zweifelst.«

Mein ohnehin schon zerrüttetes Herz schmerzt in Millionen von Facetten für ihn. »Ich liebe dich auch.«

Seine Augen weiten sich, und dann küsst er mich wieder, zieht mich über die Mittelkonsole und drückt meinen Körper an seinen, während er mich in seinen Armen hält. Wir küssen uns, bis ich nicht mehr atmen kann, mich nicht mehr bewegen kann, nichts mehr tun kann, außer mit ihm zu verschmelzen.

»Sag das noch einmal.« Er küsst mich auf die Lippen.

»Ich liebe dich.«

»Noch einmal.« Er knabbert an meinem Hals.

Es entlockt mir ein Lachen, sogar durch die Tränen hindurch. »Ich liebe dich.«

Jemand klopft an das Fenster.

Es sind Red und Benny, beide mit Pistolen in den Händen.

»Was passiert jetzt?« Ich wische ihm etwas Blut von der Wange.

Er öffnet die Tür und hebt mich aus dem Auto. »Jetzt«, er schaut sich um, während sich seine Soldaten um uns herum versammeln, »ziehen wir in den Krieg.«