Ganz famose Nachrichten
„Wo soll ich denn mit den Schalen hin?“, fragte Paula und schaute sich suchend in der Küche um. In einer Hand hielt sie eine Gabel, auf deren Zinken eine dampfende Kartoffel steckte, und in der anderen ein Küchenmesser.
Frau Hagedorn schubste mit ihrem breiten Popo die Kühlschranktür zu und nickte auf den Zeitungsstapel unter der Anrichte. „Nimm eine von denen.“
„Gute Idee!“ Paula zerrte die oberste Zeitung vom Stapel und breitete sie vor sich aus. „Wo treibt sich eigentlich mein wertes Brüderchen herum?“ Paula kniff die Augen zusammen und setzte zum ersten Schnitt an.
„Soweit ich weiß, liest er in seinem Zimmer“, antwortete die Haushälterin geistesabwesend, denn das Trennen von Eigelb und Eiweiß erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Und wieso pellt der keine Kartoffeln?“
Die erste geschälte Kartoffel plumpste in eine Schüssel. Frau Hagedorn gab Öl zum Eigelb und verquirlte beides mit schnellen Schwüngen.
„Was soll Max denn in der Küche?“, schnalzte Frau Hagedorn missbilligend. „Er ist doch ein Junge!“
„Hallo? Geht es noch?“ Beherzt bohrte Paula die Gabel in die nächste Kartoffel. „Das Mittelalter ist ja wohl vorbei.“
„Und das schon eine ganze Weile“, stimmte Max ihr zu, als er in die Küche bog und eine Tasse auf der Spülmaschine abstellte.
„Die gehört da rein, nicht oben drauf!“, meckerte Paula. „Und da du schon mal hier bist, bitte …“ Mit einem breiten Grinsen hielt sie ihrem Bruder Gabel und Messer hin.
Max zuckte mit den Schultern. „Okay, ich helfe dir.“
„So ist es brav“, sagte Paula, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Anrichte und sah ihrem Bruder bei der Arbeit zu.
Ein Stück Schale nach dem anderen klatschte auf das Zeitungspapier.
Wie ein französischer Spitzenkoch leckte Frau Hagedorn die gelbliche Flüssigkeit von einem Löffelchen, zog die Stirn kraus und griff nach dem Salztöpfchen.
„Paula!“, rief sie. „Läufst du mal schnell in den Park und holst deinen Vater? Er wollte bei der alten Hütte nach dem Rechten sehen.“
„Hm“, brummte Paula, ohne ihren Blick von der Zeitung abzuwenden. Mit einer Hand fegte sie die Kartoffelschalen zur Seite und stieß ihren Bruder an. „Hey, schau mal, das ist doch was für uns, oder?“
Max betrachtete die Anzeige, auf der Paulas Finger tanzte.
„Paula!“, mahnte Frau Hagedorn, während sie Pfeffer zur Majonäse gab. „Ich habe dich um etwas gebeten!“
„Ja, gleich“, winkte Paula ab.
„Sofort!“, beharrte die Haushälterin und wischte die Hände an der blütenweißen Schürze ab, die sich um ihren Bauch spannte.
Mit dem Messer fuhr Max die Zeilen entlang und murmelte:
„Streichelzoo öffnet seine Pforten!
Unsere Mäuse, Ratten, Hühner, Hasen und Meerschweinchen –
Paula, Meerschweinchen!“
Paula nickte. „Lies weiter!“
„... freuen sich schon jetzt darauf, einen Sonntag lang von euch gepflegt zu werden. Unter fachkundiger Anleitung könnt ihr sie füttern und umsorgen. Die Anzahl der Plätze ist begrenzt.“
„Da machen wir doch mit!“, freute sich Paula.
„Keine Frage!“, rief Max.
Frau Hagedorn stemmte die Hände in die fülligen Hüften.
„Da habt ihr aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht!“
„Hä? Welche Rechnung? Welcher Wirt?“, wunderte sich Paula.
Frau Hagedorn streckte den Kindern eine Hand entgegen und hob den ersten Finger: „Erstens habt ihr beide ausreichend für die Schule zu tun. Soweit ich weiß, steht bei Paula nächsten Freitag sogar eine Mathematikarbeit an.“
Paula stöhnte.
„Und zweitens …“ – der zweite Finger gesellte sich zum ersten – „… halte ich dieses ganze Getue um nichtsnutzige Haustiere für maßlos übertrieben.“ Die Haushälterin schüttelte entschieden den Kopf. „Für meine Begriffe gehören Tiere entweder in die freie Wildbahn oder in den Kochtopf! Alles andere ist falsch verstandene Tierliebe.“
Paula konnte vor lauter Entsetzen nur noch japsen: „Das ist doch nicht Ihr Ernst!“
„Meine Erlaubnis bekommt ihr für diesen Unsinn jedenfalls nicht! Und jetzt geh bitte deinen Vater holen. Er mag den Kartoffelsalat doch so gerne lauwarm.“
Max und Paula tauschten einen verschwörerischen Blick. Wenn Frau Hagedorn ihnen den Streichelzoo-Sonntag nicht erlauben wollte – ihr Vater erlaubte es bestimmt.
In der nächsten Sekunde fielen Messer und Gabel auf die Anrichte. Mit einem Ruck zerrte Paula die Zeitung weg, sodass ein großer Teil der Kartoffelschalen auf den Boden fiel.
„Pass doch auf, Paula!“, schimpfte Frau Hagedorn.
„’tschuldigung!“, rief Paula über die Schulter und sauste gefolgt von Max aus der Küche.
In Sekundenschnelle hatten sie die Galerie mit den zahlreichen Ölgemälden erreicht. Während Max die Treppe nahm, schwang Paula sich auf das Geländer und rutschte in die Halle hinunter.
„Komm!“, drängelte sie und warf sich gegen die schwere Eingangstür, die sich quietschend öffnete.
„Bin ja schon da“, keuchte Max und folgte seiner Schwester nach draußen.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie um das Schloss herum in den Park liefen.
Paula warf einen Blick zurück. „Ob er auch Lust auf einen Sonntag im Streichelzoo hat?“
Max machte eine unbestimmte Handbewegung. „Keine Ahnung, bei ihm weiß man nie. Aber fragen sollten wir ihn, sonst ist er gleich wieder beleidigt.“
Die Kinder verfielen in einen leichten Trab. Sie ließen den Seerosenteich und die Orangerie hinter sich, ein altes Gewächshaus, in dem im Winter die Zitrusbäumchen Schutz vor dem Frost fanden. Schließlich gelangten sie zu einem kleinen Birkenwäldchen. Gerade in diesem Moment trat ihr Vater aus dem Schatten der Bäume ins Sonnenlicht.
„Brennt es irgendwo?“, rief er seinen Kindern lachend entgegen.
„Dürfen wir nächsten Sonntag in den Streichelzoo? Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte“, rief Paula und machte große, flehende Augen.
Dr. Kuckelkorn verschränkte die Arme vor der Brust. „Streichelzoo? Was denn für ein Streichelzoo?“
Max nahm Paula die Zeitung aus der Hand und hielt sie seinem Vater unter die Nase. Dr. Kuckelkorns Augen wanderten über die Zeilen der Anzeige.
„Warum denn nicht?“, sagte er schließlich. „Das ist doch eine wunderschöne Sache.“
Max und Paula brachen in ohrenbetäubendes Jubelgeschrei aus.
„Dann meldest du uns sofort an?“, vergewisserte sich Paula.
„Ja, natürlich“, sagte Dr. Kuckelkorn. „Ich weiß doch, wie tierlieb ihr seid und wie gerne Max ein eigenes Meerschweinchen hätte.“
Dr. Kuckelkorn wuschelte Max durchs Haar. „Ich würde dir auch eins kaufen. Aber du weißt ja, Frau Hagedorn und ihre Tierhaarallergie …“
„Ich weiß“, seufzte Max schicksalergeben und sein Vater hob bedauernd die Schultern.
„Frau Hagedorn und Haustiere … Wie ich sie kenne, ist sie von eurem Plan mit dem Streichelzoo nicht begeistert.“
„Tiere gehören in die freie Wildbahn“, sagte Max mit verstellter Stimme.
„Oder in den Kochtopf!“, stieg Paula ein.
„Schon gut, schon gut! Ich rede mit ihr!“, versprach Dr. Kuckelkorn lachend. „Ach, bevor ich es vergesse: Ich habe gerade mal die alte Hütte hier in Augenschein genommen. Sie ist noch ganz gut beisammen. Ich habe zurzeit keine Verwendung für sie. Wenn ihr wollt, dürft ihr darin spielen. Die Holzleisten und den Maschendrahtzaun könnt ihr von mir aus verbauen. Ganz wie ihr wollt.“
„Toll, Papi! Und jetzt komm in die Hufe! Du musst da sofort anrufen, sonst kriegen wir keinen Platz mehr“, sagte Paula und schob ihren Vater in Richtung Schloss. „Zur Belohnung gibt es auch lauwarmen Kartoffelsalat mit Knackwürsten und Senf.“
„Hm … Ich bin schon auf dem Weg!“ Plötzlich hatte es Dr. Kuckelkorn sehr eilig. Er nahm die Zeitung von Max entgegen und marschierte voran in Richtung Schloss.
Max und Paula liefen ihrem Vater hinterher.
Als sie den Teil des Schlosses erreichten, in dem ein Museum untergebracht war, trat plötzlich eine Gestalt mit einem kleinen weißen Hund auf dem Arm durch die geschlossene Glastür.
Dr. Kuckelkorn schüttelte sich leicht, so als ob ihn ein kalter Luftzug gestreift hätte, setzte aber seinen Weg unbeirrt fort. Ganz offensichtlich hatte er den Mann in besticktem Jackett und Kniebundhosen überhaupt nicht bemerkt. Das konnte er auch gar nicht, denn der komische Kauz und sein Hündchen waren ganz und gar unsichtbar – außer für Paula und Max. Und die zwei fanden es mächtig cool, mit einem waschechten Gespenst befreundet zu sein. Einem adligen Gespenst aus dem siebzehnten Jahrhundert, wohlgemerkt.
Paula hatte fast ein wenig Mitleid mit ihrem Vater. Nun war er der Direktor dieses schönen Schlossmuseums und hatte keine Ahnung von seinem heimlichen Untermieter.
Das Gespenst winkte Max und Paula ausgesprochen majestätisch und schwebte auf sie zu.
„Dass er immer noch diese alten Klamotten trägt“, raunte Paula Max kopfschüttelnd ins Ohr. Sie ließ ihren Blick über das Hemd, das Jackett, die Weste, die pludrige Kniebundhose und die schwarzen Schnallenschuhe gleiten. „Irgendwie sieht er immer aus, als ob er gerade vom Karneval käme.“
Max nickte. „Tut er aber nicht. In seiner Jugend war das einfach in.“
„Ich weiß, nur leider ist seine Jugend so etwa dreihundert Jahre her“, kicherte Paula.
„Einen ganz wundervollen guten Tag wünsche ich“, sagte der Herr, durch den das Sonnenlicht einfach so hindurchschien, und deutete eine Verbeugung an. Seine langen weißen Perückenlocken wackelten.
„Hi, Freiherr von Schlotterfels!“, rief Paula und lächelte das Hündchen an. „Na, Lilly, alles fit?“
Der Hund, ebenso durchsichtig wie sein Herrchen, bellte vergnügt.
Sherlock Freiherr von Schlotterfels setzte Lilly auf dem Boden ab und zupfte anschließend die Spitzenmanschetten seines Hemdes in regelmäßige Falten. „Ich wollte gerade mit Lilly spazieren gehen.“
„Und wir wollten gerade zu Ihnen“, sagte Max und sah seinem Vater nach, der gerade durch eine der Terrassentüren im Schloss verschwand.
„Vortrefflich!“, rief das Gespenst. „Zu welchem Behufe?“
Paula sprudelte los und erzählte von ihrem geplanten Besuch im Streichelzoo. „Und, wollen Sie mitkommen?“, fragte sie, als sie am Ende ihres Berichts angekommen war.
„Ob ich mitkommen will?“, fragte Freiherr von Schlotterfels ungläubig nach und legte sich theatralisch eine Hand auf die Brust. „Du redest mit Sherlock Freiherr von Schlotterfels, dem großen Meerschweinchenkenner seines Jahrhunderts. Ich war einer der Ersten, der hier in dieser Gegend ein Meerschweinchen sein Eigen nennen durfte. Sokrates hieß es. Ich war ihm sehr zugetan. Natürlich komme ich mit! Was für eine Frage!“
„Ist das wahr?“ Max bekam kugelrunde Augen. „Sie hatten ein Meerschweinchen?“
„Neben all den anderen zahlreichen Dingen, mit denen ich mich in meinem erfüllten Leben beschäftigt habe, galt mein Interesse auch immer den exotischen Entdeckungen unserer Seefahrer“, erwiderte Sherlock großspurig und zog zur Bekräftigung seine Weste stramm. „Ihr wisst doch sicherlich, dass Meerschweinchen in Südamerika beheimatet sind?“
Paula und Max zuckten zusammen. Südamerika! Da war sie wieder, die Erinnerung an ihre verschollene Mutter. Dr. Susanne Kuckelkorn hatte als Archäologin eine Expedition in Südamerika geleitet, von der sie nie zurückgekommen war. Aber Max, Paula und ihr Vater gaben die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages zurückkam und alles wieder so sein würde wie früher.
„Max, Paula, redet ihr mit der Luft?“
Frau Hagedorn war am Fenster aufgetaucht und schaute zu den Kindern hinunter. Ohne eine Antwort abzuwarten, rief sie: „Mittagessen!“
„Wir müssen los“, sagte Paula, wobei sie versuchte ihre Lippen so wenig wie möglich zu bewegen. „Also, Sie sind dabei?“
„Selbstredend!“, erwiderte das Gespenst. „Und jetzt wünsche ich erst mal einen guten Appetit.“