Einer für alle und alle für einen
Am Samstagmorgen waren die Gewitterwolken verschwunden und die Sonne strahlte wieder auf den Schlosspark herab, in dem Familie Kuckelkorn gerade frühstückte.
„Paula, andere Leute möchten auch Erdbeeren essen“, sagte Frau Hagedorn.
Paula machte einen Schmollmund und ließ heimlich noch eine besonders rote Erdbeere in ihr Müsli plumpsen.
Während Dr. Kuckelkorn den dampfenden Kaffee in seine Tasse goss, sog er genüsslich die Morgenluft ein und schwärmte: „Es gibt nichts Schöneres als einen Sommermorgen nach einer Gewitternacht.“
„Trotzdem kann ich herzlich gern auf Gewitter verzichten“, schnaubte Frau Hagedorn und griff nach dem Schokoaufstrich. „Das war ja eine fürchterliche Nacht! Wie das gekracht hat!“
Ein ziemlich großer Schokocremeklecks landete auf ihrem Brötchen.
„Irgendwo muss der Blitz eingeschlagen haben. Plötzlich hatte ich eine Bildstörung. Und das so kurz vor Schluss!“
Paula grinste. Frau Hagedorn war bestimmt total verzweifelt gewesen, als sie das schnulzige Ende des Films verpasst hatte.
„Tja, da sind Sie nicht die Einzige, die gestört worden ist“, sagte Dr. Kuckelkorn. „Richard Welkenrath ist per Telefon zu einem Diebstahl abkommandiert worden. In den Streichelzoo. Da mussten wir von Doppelkopf auf Skat ausweichen.“
Paula und Max warfen sich einen verschwörerischen Blick zu. „Was ist denn gestohlen worden?“, fragte Paula scheinheilig.
Dr. Kuckelkorn breitete in Unwissenheit die Arme aus. „Keine Ahnung.“
„Kinder, ich glaube, ihr kriegt Besuch“, sagte Frau Hagedorn plötzlich.
Die Kuckelkorns folgten dem Blick der Haushälterin und entdeckten einen Jungen und ein Mädchen, die etwas zögerlich auf die Frühstücksgesellschaft zugingen.
„Die haben sich wohl verlaufen“, sagte Paula, als sie Viola und Torben erkannte.
„Guten Tag“, grüßte Torben ungewohnt freundlich in die Runde. „Bitte entschuldigen Sie. Wir haben geklingelt, aber niemand hat geöffnet.“
Verlegen drehte Viola ihre langen Zöpfe zwischen den Fingern.
„Ich bin Torben Strohtkötter“, ergriff Torben wieder das Wort und schüttelte Frau Hagedorn und Herrn Kuckelkorn die Hand. „Und das ist meine Schwester Viola.“
Dr. Kuckelkorn tippte mit dem Zeigefinger auf die Tageszeitung neben seinem Teller. „Arbeitet euer Vater bei der Zeitung?“
„Ja, unser Papa ist Reporter“, piepste Viola.
„Ehrlich? Wie klein die Welt doch ist“, lachte Dr. Kuckelkorn. „Er hat so einen wohlwollenden Artikel über unsere Museumseröffnung geschrieben. Grüßt ihn bitte ganz herzlich von mir.“
Torben nickte. „Wird erledigt. Er findet ihr Museum auch echt super. Er wollte uns schon ein paarmal hierher schleifen. Hat aber nie geklappt.“
Paula wurde die Sache langsam zu bunt. Was machten die zwei hier? In der Schule kam Viola doch höchstens zu ihr, wenn sie die Hausaufgaben abschreiben wollte.
Plötzlich leuchteten Dr. Kuckelkorns Augen auf. „Möchtet ihr euch das Museum denn jetzt ansehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er begeistert von seiner Idee die Serviette auf den Tisch und sprang von seinem Stuhl auf. „Ich spendiere euch eine Führung durchs Schloss!“
„Äh … wir müssten aber noch was mit Max und Paula besprechen“, sagte Torben geheimnisvoll. Als er Paulas abweisende Miene bemerkte, wandte er sich an Max. „Es ist sehr wichtig!“
Max schluckte den Ärger über Torbens blöden Babysitter-Spruch vom vergangenen Wochenende herunter. „Dürfen wir aufstehen, Papa?“, fragte er.
„Geht ruhig“, antwortete Dr. Kuckelkorn ein bisschen enttäuscht und ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken.
Blöder Torben, dachte Paula. Jetzt war ihr Papa traurig und das bloß, weil dieser Vollidiot die angebotene Museumsführung ausgeschlagen hatte.
Schnell drückte Paula ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Wir zeigen ihnen das Schloss, Papa.“
„Gute Idee“, sagte Dr. Kuckelkorn versöhnt. „Der jungen Dame müsst ihr auf jeden Fall das Musikzimmer vorführen. Das gefällt ihr ganz bestimmt.“
„Na, dann kommt!“, rief Paula.
Von der Eingangshalle führte Paula Viola, Torben und Max in das Chinazimmer. Als sie erzählte, aus welchen fernen Ländern die kostbaren Vasen und die edle Tapete vor Jahrhunderten über das Meer gekommen waren, winkte sie ihrem Vater durch die großen Flügeltüren zu.
Im nächsten Raum, dem Musikzimmer, legte Viola den Kopf weit in den Nacken, um das riesige Deckengemälde mit den musizierenden Engeln besser bestaunen zu können.
„Hier sieht es aus wie im Märchen“, sagte sie verträumt.
Bevor Paula etwas erwidern konnte, sagte Max plötzlich: „Also gut. Warum seid ihr hier?“
„Das war ein schöner Sonntag. Im Streichelzoo, meine ich“, druckste Torben herum.
Mit Argusaugen beobachtete Paula, wie Torben vor einer steinernen Engelsstatue stehen blieb, die eine Geige in der Hand hielt.
Nicht den Geigenbogen anfassen!, betete Paula insgeheim. Denn Max und Paula wussten, was weder Torben noch Viola noch irgendein anderer Mensch auf der Welt ahnte: In dem Geigenbogen versteckte sich ein Mechanismus, der bei richtiger Anwendung die verborgene Tapetentür zu Sherlocks Geheimzimmer öffnete.
„Habt ihr schon gehört, dass gestern wieder Tiere aus dem Streichelzoo verschwunden sind?“, fragte Torben und drehte sich im Zeitlupentempo zu Max und Paula um.
Max schaute Torben verblüfft an. „Woher weißt du das?“ Torben ging zu seiner Schwester hinüber und stellte sich hinter sie. Dann holte er tief Luft: „Weil … na weil … wir waren das. Wir haben die Tiere entführt.“
Viola nickte verschämt.
Für einen kurzen Moment war es so leise im Musikzimmer, dass Max meinte, Sherlock hinter der geschlossenen Geheimtür schnarchen zu hören.
Dann schimpfte Paula plötzlich los wie ein Rohrspatz: „Torben Strohtkötter, du lügst doch wie gedruckt! Und das tust du nur, um dich wichtigzumachen!“
„Nein, er sagt die Wahrheit“, sagte Viola leise.
„In der Zeitung stand nichts darüber …“, überlegte Max laut. „Aber vielleicht habt ihr es im Radio gehört!“
Torben schüttelte entschieden den Kopf. „Ihr seid echt auf dem Holzweg. Hört euch doch einfach an, was wir zu sagen haben. Und wenn ihr uns dann immer noch nicht glaubt … Wir haben auch Beweise!“
„Onkel Torbens Märchenstunde“, spottete Paula, setzte sich auf den Hocker vor dem Spinett und spielte eine laute Fanfare. Unbemerkt tauchte nur wenige Sekunden später Sherlocks blasser Kopf aus der Wand auf. Verschlafen und übellaunig schaute er sich nach dem Störenfried um.
„Unser Vater ist doch Journalist“, startete Torben einen neuen Versuch.
„Alles klar“, winkte Paula ab. „Von dem wisst ihr es also …“
„Nein … ja …“, stotterte Torben. „Ach, Mensch, du verdrehst ja alles. Lass mich doch mal ausreden!“ Er machte eine kurze Pause, um seine Gedanken zu sammeln. Dann setzte er wieder an: „Papa erfährt viele Dinge, die andere Leute entweder nie erfahren oder erst dann, wenn sie schon kalter Kaffee sind.“
Plötzlich begann Viola zu schluchzen. „Der Streichelzoo wird geschlossen! Und die Meerschweinchen … die Meerschweinchen …“ Viola weinte so heftig, dass sie kein Wort mehr herausbrachte.
Betroffen sah Paula das zitternde Mädchen an. Langsam ging sie auf Viola zu und schloss sie in die Arme. Über ihre Schulter hinweg schaute sie Torben ernst an. „Was ist mit den Meerschweinchen?“
Torben hob hilflos die Schultern: „Sie sollen an größere Zoos verkauft werden. Die brauchen viel Futter für ihre Riesenschlangen. Meerschweinchen stehen auf dem Speiseplan ganz oben.“
Sherlock schlug sich die Hand vor den Mund.
„Das ist nicht wahr!“, rief Paula.
„Boas fressen Meerschweinchen. Das stimmt …“, sagte Max leise.
„Das würden Maike und Corinna niemals zulassen!“, rief Paula.
„Da hast du Recht“, antwortete Torben. „Nur leider wissen Maike und Corinna noch nichts davon. Außerdem gehören der Streichelzoo und die Tiere der Stadt, und die hat kein Geld mehr, um den Streichelzoo zu unterstützen.“
„Mir wird schlecht“, hauchte Paula.
„Vio und ich haben es Sonntagmorgen erfahren, kurz bevor wir in den Streichelzoo gefahren sind“, fuhr Torben fort. „Unsere Eltern waren in der Küche und ich stand zufällig im Flur. Da erzählte unser Vater unserer Mutter gerade, was er über sieben Ecken und unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren hatte.“
„Und da habt ihr am Sonntag die Gelegenheit gleich genutzt und Sylvester und Momo befreit“, sagte Paula.
„Was hätten wir denn tun sollen?“, schluchzte Viola.
Noch nicht einmal Max fiel auf diese Frage eine schlaue Antwort ein.
„Ja, wir haben die zwei erst mal in einer leeren Futterkiste versteckt, bevor wir sie dann aus dem Zoo geschmuggelt haben“, gab Torben zu. „Die anderen Tiere haben wir nachts geholt, als unsere Eltern schon schliefen.“
„Das hätte ich auch gemacht!“, rief Paula.
Max zog die Stirn kraus. „Das glaub ich dir aufs Wort. – Aber ihr wisst schon, dass das Diebstahl ist, oder?“
„In diesem Fall würde ich das nicht so nennen“, widersprach Paula.
Max seufzte und sandte einen Hilfe suchenden Blick zur Zimmerdecke. Erst jetzt bemerkte er Sherlock, der ihm eifrig Zeichen machte. Max verstand.
„Was ist mit dem schwarzen Meerschweinchen?“, fragte er im Namen seines unsichtbaren Freundes.
„Das ist mir gestern Nacht genau in dem Moment vom Arm gesprungen, als Maike aus der Hütte kam“, gestand Viola.
Sherlock wurde vor Schreck so durchsichtig, dass selbst Max und Paula Mühe hatten, ihn vor der blassrosa Wand noch zu erkennen.
„Wir haben die Meerschweinchen, Kaninchen und Mäuse bei unserer Oma im Gewächshaus versteckt. Aber bevor sie wieder aus der Kur zurück ist, müssen die Tiere da verschwunden sein. Und die anderen Tiere wollen wir auch noch retten“, sagte Torben und schaute Max und Paula so eindringlich an, dass es schwer war, seinem Blick standzuhalten. „Seid ihr dabei?“
Viola zupfte Paula am Arm: „Bitte, alleine schaffen wir es nicht!“
„Wieso kommt ihr damit eigentlich zu uns?“, wunderte sich Paula.
Torben und Viola tauschten einen kurzen Blick.
„Du bist zwar die frechste Ziege in der ganzen Klasse, aber dafür auch die Mutigste“, sagte Torben grinsend. „Und für heute Nacht brauchen wir genau jemanden wie dich.“
„Außerdem habt ihr die Tiere doch genauso lieb wie wir“, sagte Viola leise. Unter halb gesenkten Lidern schaute sie Max an. „Und Max ist außerdem so schlau“, sagte sie bewundernd und Max wurde so rot wie eine Tomate.
„Was ist jetzt?“, fragte Torben. „Seid ihr dabei?“
„Einer für alle und alle für einen!“, rief Paula feierlich.
Max, Viola, Torben und Paula schlugen ein. Und nur Max und Paula wussten, warum ihre Hände plötzlich so kalt wurden.