Der Schweineraub
Max streifte den Ärmel seiner schwarzen Jacke zurück und linste auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. „Es ist halb zwölf.“
„Hm“, brummte Paula und ließ den Blick über die dunkle Fassade des gegenüberliegenden Hauses gleiten. „Bis jetzt rührt sich nichts.“
Max, Paula, Sherlock und Lilly hatten hinter einer Bushaltestelle Stellung bezogen und warteten auf ihre Komplizen.
„Die kommen schon noch“, sagte Paula, als Max schon wieder seinen Ärmel zurückschob. „Sei doch nicht so hektisch, das bist du doch sonst nicht.“
Max rückte seine Brille zurecht. Die schwarze Farbe, die Paula und er sich ins Gesicht geschmiert hatten, machte seine Nase glitschig. „Normalerweise würde ich jetzt auch schlafen und nicht verkleidet wie ein Verbrecher auf Raubzug gehen.“
„Wir haben das Recht auf unserer Seite“, ließ sich Sherlock vernehmen und stieß zur Bekräftigung den Zeigefinger in die Luft. Lilly bellte.
„Haben wir eben nicht“, seufzte Max. „Ich darf gar nicht dran denken, was passiert, wenn Frau Hagedorn schlecht schläft und auf die Idee kommt, nach uns zu sehen. Oder wenn wir erwischt werden! Oh Mann. Dagegen ist Eisbein mit Püree und Sauerkraut auf Lebenszeit echt harmlos.“
Eisbein mit Püree und Sauerkraut stand im persönlichen Bestrafungskatalog von Frau Hagedorn auf üble Vergehen. Immer wenn Max und Paula etwas ausgefressen hatten, servierte sie dieses Gericht. Zumindest kam es den Geschwistern so vor.
Paula schwieg. Wenn sie ganz tief in sich hineinhörte, regte sich auch bei ihr das schlechte Gewissen. Aber was blieb ihnen denn anderes übrig? Sollten sie Sokrates den Zweiten und die anderen Nager etwa ihrem Schicksal überlassen?
„Warum vertun wir hier eigentlich unsere Zeit?“, riss Freiherr von Schlotterfels sie aus ihren Gedanken. „Machen wir uns doch ohne diese beiden Kanaillen auf den Weg.“
„Es bringt gar nichts, hier jetzt Hals über Kopf loszustürzen“, sagte Max. „Es gibt einen Plan und der wird ausgeführt.“
Auch wenn Max in der Dunkelheit das Gesicht des Gespenstes nicht sehen konnte, ahnte er doch, dass Sherlock gleich protestieren würde. Denn Freiherr von Schlotterfels konnte es nicht ausstehen, wenn man ihm widersprach. Deshalb fügte Max schnell hinzu: „Selbstverständlich sind Sie der Allerwichtigste bei dieser Aktion, Freiherr von Schlotterfels. Ohne Sie können wir die Tiere unmöglich retten.“
„Kannst du schleimen“, flüsterte Paula und ehrliche Anerkennung schwang in ihrer Stimme mit.
Gedankenvoll drehte das Gespenst eine seiner Perückenlocken zwischen den Fingern, ließ sie zurückspringen und verkündete: „Wohl wahr!“
„Da kommen sie!“ Paula hatte zwei schwarze Schatten ausgemacht.
Geduckt schoben Viola und Torben ihre Räder im Laufschritt vom Haus weg. Dabei vermieden sie es, in den Lichtkegel der Straßenlaterne zu geraten. Zögernd schauten sie sich um. Da ließ Paula wie verabredet ihre Taschenlampe aufblitzen.
„Hat ein bisschen länger gedauert“, entschuldigte sich Torben. „Wir waren uns nicht sicher, ob Mama und Papa noch wach sind.“
„Genau“, fiepte Viola. „Die Nachttischlampe brannte nämlich die ganze Zeit. Aber als die beiden dann anfingen zu schnarchen, war uns klar, dass sie über ihren Büchern eingeschlafen waren.“
„Hauptsache, ihr seid jetzt da“, sagte Max. „Habt ihr die Schuhkartons dabei?“
„Na klar“, sagte Torben und grinste. „Wir machen das schließlich nicht zum ersten Mal.“
Der Weg zum Streichelzoo kam Max und Paula diesmal unendlich lang vor. Als sie ankamen, parkte vor dem Zoo ein Wagen.
„Der gehört bestimmt Maike oder Corinna“, überlegte Max laut.
Die vier versteckten ihre Räder im Unterholz und legten sich mit den Schuhkartons im Gestrüpp auf die Lauer. In der Hütte brannte Licht. Eine Silhouette ging am Fenster vorbei.
„Das war Maike“, wisperte Viola, die Schulter an Schulter neben ihrem Bruder lag.
„Freiherr von Schlotterfels, Ihr Einsatz“, sagte Max leise. „Sehen Sie nach, ob die Luft rein ist oder ob noch jemand durch die Gegend schleicht.“
Sherlock zog seine Weste stramm.
„Von Ihnen hängt jetzt alles ab“, rief Max dem Gespenst ins Gedächtnis.
„Ruhig Blut“, erwiderte Sherlock gelassen. „Ein von Schlotterfels kennt seine Pflichten.“ Schon im nächsten Moment waren er und Lilly in der nächtlichen Finsternis verschwunden.
Nach ein paar Minuten tauchte ein anderer Kopf wie ein Scherenschnitt in dem beleuchteten Fenster der Hütte auf.
„Corinna“, flüsterte Paula.
„Diesmal haben sie das Licht angelassen. Bestimmt zur Abschreckung“, erfasste Max die Lage und wurde allmählich unruhig. Wo blieb Sherlock nur so lange?
Plötzlich bekamen die Kinder einen Schreck. Im Fenster war ein dritter, unbekannter Schatten aufgetaucht.
„Wer ist das?“, flüsterte Viola ängstlich.
Langsam öffnete sich die Tür der Hütte und ein Mann erschien. Die Hand auf der Klinke sagte er: „Heute Nacht passiert bestimmt nichts mehr.“
Paula und Max erstarrten.
„Kommissar Welkenrath.“ Paulas Stimme war nur ein schwaches Hauchen. Mit dem besten Freund ihres Vaters hatten sie heute Nacht nun wirklich nicht gerechnet. Und er kam direkt in ihre Richtung!
„So ein Mist!“, entfuhr es Torben.
„Klappe! Duckt euch!“, befahl Paula.
Alle vier hielten den Atem an. Warum hatten sie sich auch ausgerechnet hier auf die Lauer gelegt? Direkt neben dem Waldweg? Das musste ja schiefgehen!
Geh weiter! Geh weiter!, betete Paula in Gedanken. Bis jetzt war für sie die ganze Sache ein Spiel gewesen. Doch plötzlich hatte auch sie Angst davor, erwischt zu werden.
Viola neben ihr zitterte wie Espenlaub. Vorsichtig nahm Paula Violas Hand und drückte sie. Gerade als Paula dachte, sie müsste ersticken, wenn sie nicht gleich Luft holen dürfte, war Kommissar Welkenrath an ihnen vorbeimarschiert. Er hatte sie nicht gesehen.
Sie hörten, wie eine Autotür zuschlug. Der Motor startete und der Kommissar brauste davon.
„Das war so was von knapp“, flüsterte Torben.
Von Viola und Torben unbemerkt tauchten in diesem Moment die Gespenster auf. Mit einem verschwörerischen Nicken gab Sherlock seinen Freunden zu verstehen, dass die Befreiungsaktion starten konnte.
„Jetzt oder nie“, sagte Paula und rappelte sich auf. Sie klemmte sich einen Schuhkarton unter den Arm und fasste Violas Hand. „Kommt ihr?“
Im nächsten Moment kletterten Paula, Viola, Max und Torben über den Jägerzaun. Sherlock und Lilly schwebten dicht hinter ihnen.
Auch wenn sie den Weg zum Meerschweinchengehege im Hellen ohne Weiteres gefunden hätten, war es im Dunkeln verdammt schwer, sich zurechtzufinden. Doch dann lag das Gehege endlich vor ihnen. Aus Angst, das Gatter könnte beim Öffnen knarren oder quietschen, kletterten die Kinder darüber.
„Mist!“, fluchte Paula. „Ich seh nichts! Wo sind denn die Meerschweinchen?“
Auf allen vieren krochen die Kinder durch das Gehege und hoben vorsichtig die Häuschen hoch. Hier steckten die Meerschweinchen! Doch kaum hatten die Kinder sie entdeckt, flüchteten die Tiere ins hohe Gras.
„Oh nein!“, fluchte Paula. „Sie verstecken sich vor uns! Was machen wir denn jetzt?“
„Nicht verzagen, Sherlock fragen“, hauchte ihr da das Gespenst mit eisigem Atem zu. „Ich treibe sie in eure Richtung.“ Sherlock schwebte davon. Und schon im nächsten Augenblick kamen die Meerschweinchen aus ihrem Versteck. Getrieben von Sherlocks Gespensterkälte liefen sie den Kindern direkt in die Arme.
„Hier“, sagte Max und gab zwei Tierchen an Torben weiter, der sie behutsam in seinen Schuhkarton setzte. Bald waren alle Meerschweinchen eingefangen. Während Viola und Torben im benachbarten Käfig nach Mäusen angelten, sammelten Max und Paula nebenan ein paar Kaninchen ein. Als alle Kartons voll waren, traten die vier den Rückzug an.
„Geschafft“, freute sich Torben leise. „Das läuft ja wie am Schnürchen.“
„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, wisperte Sherlock, und als hätte er es geahnt, schrie Viola plötzlich auf und fiel der Länge nach hin. Eine Kuhglocke ertönte. Augenblicklich wurde die Tür zur Hütte aufgerissen.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte Torben und half seiner Schwester auf die Beine.
„Ich bin gestolpert. Da war ein Seil gespannt oder so was“, schluchzte Viola und drückte den Karton fester an sich, den sie geistesgegenwärtig nicht losgelassen hatte.
„Eine Falle!“, rief Max. „Los! Weg hier!“
„Seid ihr schon wieder da?“, brüllte Maike über das Gelände. Eine Taschenlampe mit der Leuchtkraft eines Suchscheinwerfers blitzte auf. „Diesmal entkommt ihr uns nicht. Ihr feigen Tierdiebe!“
„Raus hier!“, rief Paula.
Sie hatten gerade den Zaun erreicht, als Lilly plötzlich zu knurren begann. Der Lichtstrahl der Taschenlampe kam schnell näher. Und dann ertönte ein Laut, der den Kindern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hundegebell! Und so wie sich das anhörte, war der Hund, der da ihre Witterung aufnahm, ungefähr zehnmal so groß wie Lilly.
„Schnapp sie dir, Wotan!“, schrie Maike.
„Über den Zaun, schnell!“, rief Paula.
Die Kinder kletterten über den Zaun und rannten zu der Stelle, an der sie ihre Räder versteckt hatten. Keuchend rissen sie die Lenker hoch. Die Kartons wanderten in die Fahrradkörbe und die Kinder traten in die Pedale.
Wotan knurrte und bellte.
„Grundgütiger!“
Sherlocks Ausruf veranlasste die vier, sich umzudrehen. Gerade in dieser Sekunde setzte ein gewaltiger schwarzer Schatten über den Zaun.
„Gebt Gas!“, rief Max.
„Ich schaff das nicht!“, weinte Viola. Vor lauter Panik rutschten ihre Füße von den Pedalen ab.
Auch Max stiegen die Tränen in die Augen.
„Verdammt, die können doch keinen Hund auf uns hetzen!“, fluchte Paula.
Egal, wie schnell sie in die Pedale traten, das fürchterliche Hundegebell kam immer näher. Doch urplötzlich änderte der Hund die Richtung. Das Gebell entfernte sich.
„Meine Lilly“, flüsterte Sherlock gerührt. „Sie lenkt ihn ab. Wie heldenhaft!“ Doch die Vorstellung, dass seine kleine Lilly allein durch den finsteren Wald jagte, brachte Sherlock auf einen anderen Gedanken: „Ich muss ihr zu Hilfe eilen! Wer weiß, wie lange sie mit dieser Bestie allein zurechtkommt! Wir treffen uns im Schloss!“
Sprach’s und entschwand in die Nacht.
„Sie haben den Hund zurückgerufen!“, keuchte Torben. Und Max und Paula ließen ihn in dem Glauben.
Den Kindern schlotterten noch die Knie, als sie am Schlossmuseum ankamen.
„Wo bringt ihr die Tiere jetzt hin?“, fragte Viola mit zitternder Stimme.
„In ein Geheimversteck. Dort können sie erst mal bleiben“, antwortete Paula.
Zum Glück waren Viola und Torben zu müde, um genauer nachzufragen. Erschöpft übergaben sie ihre Kartons an Max und Paula.
Die vier verabschiedeten sich und jeder von ihnen war heilfroh, dass die Befreiungsaktion vorbei war. Jetzt hofften die Kinder nur noch darauf, unentdeckt unter ihre Bettdecken schlüpfen zu können. So eine Nacht wollte keiner von ihnen jemals wieder erleben.