Grünzeug
Nach den Aufregungen der vergangenen Nacht schlief Paula wie ein Murmeltier. Und sie hätte bestimmt noch viel länger geschlafen, wäre da nicht dieses energische Geschirrgeklapper in der Küche gewesen. Sie blinzelte ins Sonnenlicht.
Das ist ja gerade noch mal gut gegangen, dachte Paula. Kommissar Welkenrath, Maike und – Paula schauderte bei dem Gedanken – dieser gigantische Schattenhund! Brrrrr!
Sie schwang sich aus dem Bett. Wenigstens waren die Tiere in Sicherheit. Nur das zählte.
Max’ Zimmertür quietschte, dann hörte Paula seine nackten Füße auf den Boden klatschen. Genau! Jetzt gab es erst mal ein Frau-Hagedorn-super-Spezial-Sonntagsfrühstück. So eine Befreiungsaktion machte aber auch ganz schön hungrig.
Danach würden sie und Max ihren neuen Mitbewohnern einen geheimen Besuch abstatten.
„Morgen, Frau Hagedorn! Hi, Max“, gähnte Paula und streckte sich, als sie in die Küche trottete. „Frühstücken wir draußen oder drinnen?“
Ohne Paula auch nur eines Blickes zu würdigen, schleuderte die Haushälterin ein Päckchen Aufschnitt in das Wurstfach des Kühlschranks.
Alarmiert schaute Paula ihren Bruder an und ihre Lippen formten tonlos die Frage: „Dicke Luft?“
Max deutete mit einem Kopfnicken auf die Küchenuhr. Es war schon elf!
Paula verzog das Gesicht. Auweia! Sie hatten das Frühstück verschlafen.
Frau Hagedorn knallte die Kühlschranktür zu. „Ich weiß überhaupt nicht, für wen ich mir all die Mühe mache!“, schimpfte sie. „Da steht man in aller Herrgottsfrühe auf und macht und tut, damit man der Bagage ein leckeres, gesundes Frühstück vorsetzen kann. Und was ist der Dank?“ Ihre kleinen Augen funkelten wütend. „Der Herr des Hauses nimmt sein Frühstück heute später zu sich, weil er sich über Nacht hat einfallen lassen, dass ihm ein Waldlauf guttun würde. Und davor kann man natürlich nichts essen.“
Max und Paula zogen die Köpfe ein, als Frau Hagedorn über sie hinweggriff, um eine Schale vom Regal zu angeln.
„Kann ich helfen?“, bot Paula kleinlaut an, denn die Haushälterin keuchte und wackelte bedenklich auf den Zehenspitzen hin und her. Schließlich war sie nicht gerade groß und das Regalbrett ziemlich hoch.
„Nein danke!“, fauchte Frau Hagedorn. „Und ihr?“
Ha – ha – ha – hatschi! Die Haushälterin nieste und schimpfte dann sofort weiter. „Ihr schlaft bis in die Puppen. Wie kann es sein, dass eine Frau meines Alters seit vier Stunden auf den Beinen ist und so junges Gemüse wie ihr nicht aus den Federn kommt?“
Paula lief das Wasser im Mund zusammen, als Frau Hagedorn gebratenen Speck, gebackene Bohnen und Paulas Lieblingskäse mit Frischhaltefolie überzog und im Kühlschrank verstaute.
„Jetzt sind wir ja da“, sagte Paula vorsichtig.
„Zu spät!“, schnappte Frau Hagedorn und schüttete das kalte Rührei in den Mülleimer. „Ich führe schließlich keinen Hotelbetrieb! Es gibt in diesem Hause feste Essenszeiten!“ Frau Hagedorn baute sich vor Max und Paula auf und stemmte die Hände in die fülligen Hüften.
„Die nächste Mahlzeit ist das Mittagessen und das gibt es um dreizehn Uhr. Wie … Ha-ha-ha-hatschi! … jeden Sonntag!“
Max und Paula beobachteten, wie die Haushälterin ein strahlend weißes Stofftaschentuch aus ihrer ebenso weißen Schürze zog und sich die Nase putzte.
Hatschi! Hatschi! Ha-ha-hatschi!
„Mein Gott, kribbelt meine Nase!“, prustete sie.
Max hatte nicht den geringsten Zweifel: Da machte sich Frau Hagedorns Tierhaarallergie bemerkbar. Offensichtlich hatten Paula und er noch Meerschweinchenhaare von gestern Nacht an sich kleben. Sie würden sehr vorsichtig sein müssen, damit ihnen die Haushälterin nicht auf die Schliche kam. Auch die Futterbeschaffung musste ausgesprochen geschickt in die Wege geleitet werden, wenn sie nicht Frau Hagedorns Misstrauen wecken wollten.
„Ich weiß wirklich nicht, was mit euch los ist“, näselte Frau Hagedorn. „Ihr wart doch früher nicht solche Schlafmützen!“
Ein Lächeln huschte über Max’ Gesicht. Ja, so würde es vielleicht gehen …
„Sie haben Recht“, sagte er. „Früher waren Paula und ich richtige Frühaufsteher und ich glaube, ich weiß auch, woran das liegt.“
Paula und Frau Hagedorn sahen ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugierde an.
„Früher gab es viel mehr Gemüse: Möhren, Paprika, Gurken. Vielleicht sind wir deswegen so schlapp.“ Max machte eine bedeutsame Pause, bevor er flüsterte: „Paula und ich haben Vitaminmangel!“
Frau Hagedorn schnappte fassungslos nach Luft und griff sich mit der Hand ans Herz. Bevor sie etwas erwidern konnte, war Max am Kühlschrank und linste hinein. „Kohlrabi, Möhren, Gurke“, zählte er auf und lud Paula das Gemüse auf den Arm. „Ab sofort werden Paula und ich uns gesünder ernähren. Sie müssen bitte in Zukunft mehr Obst und viel mehr Gemüse einkaufen. Dann stehen wir bestimmt auch wieder mit den Hühnern auf.“
„Aber … ich koche durchaus vitaminreich“, stammelte Frau Hagedorn völlig verdattert und sah Max und Paula hinterher, die mit Gemüse beladen aus der Küche entschwanden. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte jemand ihre Kochkünste beanstandet.
„Das hat gesessen“, kicherte Paula auf ihrem Weg zu Sherlocks Geheimzimmer. „Wir werden uns vor lauter Vitaminen nicht mehr retten können.“
Max zuckte mit den Schultern. „Das hoffe ich. Wir brauchen jede Menge Futter!“
Im Musikzimmer angekommen drückte Paula ihrem Bruder das Gemüse in die Hand und kletterte flink den Steinsockel zu dem Geige spielenden Engel hinauf. Sie legte die Hand auf den Geigenbogen und drehte ihn. Im selben Moment sprang leise knarrend eine Tür in der Tapete auf. Paula hüpfte vom Sockel und verschwand mit Max im Geheimzimmer. Kurz darauf schloss sich die Tür hinter ihnen.
„Grundgütiger!“, rief das Gespenst. „Endlich seid ihr da!“
Im Licht der vielen Kandelaber hockte Sherlock mit angezogenen Beinen auf seinem Sofa. Die Perücke war zerzaust, das Halstuch verdreht, sein Schnurrbart hing traurig herunter und der linke große Zeh ragte aus einem respektablen Strumpfloch hervor. Von dem Schuh selbst fehlte jede Spur.