Es war 2019 in der Nähe von Lwiw, wo wir unseren ganz persönlichen »Problembären« trafen. Eine weit abgelegene sogenannte Jagdstation, quasi ein Basislager für die Jäger der Region, war unser Ziel. Zusammen mit den Tierschützern von Vier Pfoten, der weltweit tätigen Tierschutzorganisation aus Wien, verfolgten wir eine große Mission in der Ukraine, die zu diesem Zeitpunkt zwar einen Bürgerkrieg im Osten zu verkraften hatte, aber noch nicht von Putin überfallen worden war.
Die hiesigen Jäger hielten hinter ihrer notdürftig zusammengezimmerten Bretterbude mitten im Wald einen Braunbären, den sie »Tyson« getauft hatten. Siebzehn Jahre zuvor hatten sie Tysons Mutter erschossen und ihn als Baby in diesen Käfig gesteckt. Käfig war fast schon übertrieben, eigentlich handelte es sich um einen Unterstand aus Brettern, dessen offene Seiten mit rostigen Armierstahlmatten, wie man sie für den Bau von Betonplatten benutzt, geschlossen waren. Hier drin war Tyson seit seiner Kindheit eingesperrt – auf nicht einmal dreißig Quadratmetern. Später erfuhren wir, dass der Käfig seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr ausgemistet wurde, weil sich keiner der Jäger in das Gehege traute. Diese fürchterliche Art der Haltung wurde in der Ukraine und vielen anderen osteuropäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten Hunderte Male entdeckt. Doch wozu dienten die Bären?
Die Antwort ist so einfach wie grausam: An ihnen werden Jagdhunde ausgebildet – eine schreckliche Tortur, die diese Bären über Jahrzehnte hinweg zu erleiden haben. Die Tiere leben in den engen Käfigen, werden teilweise nur mit trockenem Brot und Wasser gefüttert und dann ein- oder zweimal in der Woche an einen Baum gekettet, um die Jagdhunde, die sich gerade in Ausbildung befinden, auf sie zu hetzen. Die Hunde, die es schaffen, einen Bären zur Räson zu bringen, ihn zu beißen, ihn zu schnappen, werden danach für die Jagd eingesetzt – die anderen in der Regel erschossen.
Aus diesem Martyrium wollten die Tierschützer von Vier Pfoten Tyson nun befreien. Das Gesetz war in diesem Fall aufseiten der Tierschützer. Denn eine derartige Haltung von Bären war auch in der Ukraine bereits verboten. Nichtsdestotrotz wollten die Jäger auf der Station »ihren« Tyson nicht hergeben und behaupteten sogar, zu diesem illegalen Training sei es nie gekommen. Frank lachte laut. Er, genau wie alle anderen, glaubte nicht an diese faule Ausrede. Warum sollten Jäger einen Bären denn sonst in seinem eigenen Dreck gefangen halten und ihm ausgerechnet einen Kämpfernamen wie »Tyson« geben?
So standen wir also mit etwa zehn Tierschützern, einigen Mitarbeitern der Bären-Auffangstation in Domazhyr sowie nach einiger Zeit auch einem örtlichen TV-Sender vor der Tür der Jagdstation, in die man uns nun nicht hineinließ. Die Jäger wollten Tyson partout behalten. Vielleicht ging es auch einfach nur darum, uns davon abzuhalten, das Gelände zu betreten. Die Diskussionen wurden immer lauter, immer heftiger schrien sich Tierschützer und Jäger an. Die Situation drohte zu eskalieren. Frank kam zu mir und machte mit einer Handbewegung klar, dass er sich nicht wohlfühlte in dieser aggressiven, aufgehitzten Situation. So ging es uns allen. Längst hatten wir die Kamera auf den Boden gestellt, um nicht noch zusätzlichen Ärger herbeizuführen.
Doch ich machte mir Sorgen um unseren Film. Wir waren hierhergekommen, um über genau diese Machenschaften, diese Tierquälerei zu berichten. Frank, Matthias und mir war es wichtig, den Menschen in Deutschland zu zeigen, warum wir dafür sorgen müssen, dass solche Zustände aufhören. Und dann tat ich etwas, was ich bis heute bereue. In einem unbeobachteten Moment schnappte ich mir die zweite Kamera, die im Auto lag, ein kleines Gerät, kaum dreißig Zentimeter groß. Ich wartete, bis die Wortgefechte einen erneuten Höhepunkt erreichten, um dann in all diesem Tumult heimlich an den laut streitenden Männern vorbei auf das Gelände der Jagdstation zu gelangen.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Das war keine gute Idee, und ich bekam völlig zu Recht am Abend eine ordentliche Standpauke von Frank, warum ich mit dieser Aktion denn mein Leben riskiert hätte. Doch in diesem Moment ging es mir nur um den Bären. Ich wollte unbedingt die Bilder liefern, derentwegen wir in die Ukraine gekommen waren. Vermutlich war es einer der brenzligsten Momente, die wir je auf unseren Reisen erlebt haben. Denn schon nach kurzer Zeit fand ich Tyson, und nachdem ich mich vom ersten Schreck über seine Haltungsbedingungen erholt hatte, begann ich mit meinen Aufnahmen. Nach etwa vier oder fünf Minuten bemerkte ich plötzlich zwei Gewehrläufe in meinem Genick. Einer der Jäger hatte mich erwischt. Ich verstand natürlich nicht ein Wort von dem, was er mir nun entgegenschrie, und ließ mich von ihm an der Jacke gezogen aus der Station führen. Gott sei Dank waren seine Kollegen immer noch so damit beschäftigt, sich mit den Tierschützern auseinanderzusetzen, dass sie meine wirklich nicht gut durchdachte Aktion kaum mitbekamen. Mein unfreiwilliger Begleiter mit der Waffe ließ mich ziehen und stellte sich erneut zu seinen Kollegen.
Ich machte mir natürlich trotzdem Sorgen, dass mein Vorgehen noch Folgen haben würde. Doch keine zwei Minuten später, zu unserer großen Überraschung: ein Handschlag und eine Einigung! Bis heute wissen wir nicht, wie genau es dazu gekommen ist. Doch plötzlich hieß es: »Tyson darf gerettet werden, wir dürfen ihn mitnehmen.«
Frank war perplex, aber total glücklich. Er nahm mich in den Arm und sagte: »Christian, wir haben es geschafft.« Bis dahin hatte er das Tier noch gar nicht gesehen. Als er kurz darauf um die Ecke bog und ungefähr dort stehen blieb, wo ich zuvor heimlich gefilmt hatte, verschlug es ihm den Atem. Ich habe Frank selten in einer solchen Verfassung gesehen, und auch Matthias war außer sich. Beide standen blass und völlig entsetzt vor dem Tier hinter den rostigen Gitterstangen. Matthias sagte, das sei die größte Tierquälerei, die er in seinem Leben jemals gesehen hätte.
Es beruhigte uns alle, in den nächsten Minuten beobachten zu können, mit welcher Routine die Tierschützer vorgingen. Kein Wunder: Etwa dreißig weitere Bären hatten sie bereits aus ähnlichen Situationen gerettet. Vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung war Tierarzt Frank Göritz eingeflogen worden, der sich nun mit Tierschützer Carsten Hertwig auf den Weg machte, das Tier zu betäuben. Carsten ist so etwas wie der Bären-Beauftragte von Vier Pfoten. Wir hatten ihn bereits in Deutschland kennengelernt und hier in der Ukraine wiedergetroffen, um bei zwei Bärenrettungen dabei zu sein – bei Tyson und einer Bärin namens Manya. Mit einer Pressluftpistole, die mit einem Betäubungspfeil geladen war, schossen die beiden mit geübten Handgriffen auf Tyson, der kurz danach einschlief. Nichtsdestotrotz blieb es eine sehr gefährliche Situation, denn sobald das Tier schlief, musste zunächst der Tierarzt rein, um zu überprüfen, ob das Tier auch wirklich so stark betäubt war, dass es sich nicht mehr wehren konnte. Tyson war immerhin ein Raubtier mit etwa zweihundert Kilo Gewicht!
Frank war – wie so oft in solchen Situationen – »zurückhaltend«. Als Carsten das Signal gab, dass sowohl das Kamerateam als auch Frank und Matthias den Käfig betreten konnten, ließ er natürlich seinem Freund den Vortritt …
Frank Elstner: Die Bärenrettungen von Vier Pfoten mit dir in der Ukraine gehörten zu den emotionalsten Geschichten auf unseren Reisen. Wie geht es Tyson inzwischen?
Carsten Hertwig: Ihm geht es sehr gut. Tyson hat sich gut erholt und ist glücklich und zufrieden. Er ist vergesellschaftet, hat also eine Partnerin gefunden.
Frank Elstner: Der schreckliche Krieg Russlands gegen die Ukraine hat vieles verändert – was ist mit eurer Station in Domazhyr und euren Mitarbeitern?
Carsten Hertwig: Zum Glück liegt das Rettungszentrum im Westen der Ukraine und war daher bis heute (Dezember 2022) immer noch relativ sicher. Dennoch hat Vier Pfoten für sein Team und die Bären sofort erhöhte Sicherheits- und Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Wichtig ist, dass die Versorgung der Bären und der Mitarbeiter abgesichert ist. Das war zu jeder Zeit gewährleistet.
Frank Elstner: Wie kann man helfen?
Carsten Hertwig: Wir informieren regelmäßig über unsere Website und soziale Medien über unsere Arbeit bei Vier Pfoten in der und für die Ukraine. Hier findet man auch entsprechende Links zur Unterstützung.
Frank Elstner: Wie ist die aktuelle Tierschutzsituation für Bären in Europa?
Carsten Hertwig: Die Situation von schlecht gehaltenen Bären hat sich in Europa auf jeden Fall entspannt. Es gibt noch einige Fälle, vor allem im osteuropäischen Raum und auf dem Balkan, aber wir hoffen, dass wir in den nächsten Jahren diese Tiere auch noch retten können.
Frank Elstner: Als wir damals Tyson befreiten, wurden wir ja kurzzeitig mit Waffen bedroht – wie gefährlich sind solche Einsätze wirklich?
Carsten Hertwig: Eine Situation wie bei Tyson ist zwar nicht die Regel, aber es kam und kommt doch immer wieder vor, dass private Besitzer den Gesetzen und Beschlüssen der Autoritäten nicht folgen wollen und teilweise auch gewalttätig werden oder mit Waffen drohen. Hier müssen wir uns dann zurückziehen und auf die Behörden verlassen, denn natürlich dürfen Mitarbeiter von Vier Pfoten bei Rettungsaktionen nicht unnötig in größere Gefahr gebracht werden.
Frank Elstner: Hast du manchmal Angst um dich und deine Mitarbeiter?
Carsten Hertwig: Bei Kriegsausbruch in der Ukraine habe ich tatsächlich zum ersten Mal ernsthaft um das Leben meiner Mitarbeiter gefürchtet, zumal ich auch einen Kollegen in Kiew stationiert habe. Zum Glück hat sich die Lage derzeit wieder entspannt, und bisher wurde kein Mitarbeiter direkt vom Krieg gesundheitlich geschädigt.
Frank Elstner: … und wie schafft man es, jahrelang weiterzumachen?
Carsten Hertwig: Wir tragen als Tierschutzorganisation nicht nur eine Verantwortung gegenüber Tieren in Not, sondern natürlich auch gegenüber unseren Mitarbeitern vor Ort, die sich unermüdlich für unsere Arbeit einsetzen. Daher stellt sich die Frage für mich nicht, so einfach aufzuhören. Ich möchte weder unsere Mitarbeiter noch die Tiere einfach so im Stich lassen.
Frank Elstner: Welche Ziele hast du für die nächsten Jahre?
Carsten Hertwig: Mein Aufgabenbereich hat sich erweitert, ich bin mittlerweile auch für die Auffangzentren für Löwen und Tiger verantwortlich. Hier gibt es weltweit, aber gerade auch in Europa, noch unglaublich viel zu tun. Es ist unvorstellbar, wie viele Tiger und Löwen privat gehalten werden, zum Beispiel einfach als Haustiere. Das ist eine wirklich sehr große Herausforderung.
Frank Elstner: Danke, Carsten, ich finde deinen Einsatz wirklich großartig. Mach weiter so!
Keine zwei Stunden später lag Tyson, langsam die Augen öffnend, in einer Transportkiste auf einem Lkw. Mehrere Untersuchungen hatte er über sich ergehen lassen müssen, während er schlief. Das Ergebnis: Seine Zähne waren in fürchterlich schlechtem Zustand, wahrscheinlich weil er immer wieder versucht hatte, an den rostigen Gitterstäben zu nagen, um sich aus der misslichen Lage der Gefangenschaft zu befreien. Außerdem waren einige innere Organe nicht vernünftig ausgebildet, was vermutlich an der Mangelernährung lag. Aber, und das überraschte uns, Frank Göritz erklärte, dass es gar nicht so schlecht um den Bären stehe und er gute Chancen habe, innerhalb kürzester Zeit zu regenerieren und im Idealfall ein ganz normales Bärenleben in der Auffangstation führen zu können. Das machte uns Mut.
Kurze Zeit später erreichten wir besagte Auffangstation in Domazhyr, die mithilfe von Vier Pfoten hier erst kurz vorher neu errichtet worden war. Es handelte sich um vier Eingewöhnungsgehege, jedes etwa halb so groß wie ein Fußballfeld, und einen riesigen eingezäunten Wald, in dem die Tiere nach ihrer Eingewöhnung in eine »Nahezu-Freiheit« entlassen werden sollten.
Das Problem ist überall auf der Welt das gleiche. Es gibt kaum Projekte, in denen Braunbären wieder »richtig ausgewildert« werden. Zu groß sind in allen Ländern, in denen Bären vorkommen, die Vorbehalte in der Bevölkerung, um das durchzusetzen. So bleibt nur diese eine Möglichkeit: eine Art »Gnadenhof für Bären«. Das bedeutet jedoch, dass die Tiere kastriert und an ein Leben im eingezäunten Wald gewöhnt werden und hier den Rest ihres Lebens verbringen. Eine richtige Freiheit werden diese Tiere also nicht mehr erleben, dennoch ist all dies viel, viel besser als das, was die armen Bären in ihrem Leben zuvor mitmachen mussten.
Natürlich kam Tyson das in diesem Moment noch überhaupt nicht so vor. Er wachte auf in einer Kiste, die deutlich wackelte, weil acht erwachsene Menschen ihn gerade in eines der Gehege trugen. Misstrauisch beäugte er nun einen Ort, der ihm vollkommen fremd vorkommen musste. Ein Ort, an dem die Sonne schien, die er jahrelang nicht mehr gesehen hatte in seinem Bretterverschlag. Ein Ort, an dem auf dem Boden Gras wuchs. All das kannte Tyson nicht, und das merkte man. Er verließ seine Kiste nur widerwillig, und in den nächsten Tagen nutzte er höchstens dreißig, vielleicht vierzig Quadratmeter rund um den Ort, wo man ihn herausgelassen hatte. Er war es nicht gewohnt, längere Strecken zu gehen, weil das in seinem vorigen Leben nicht möglich gewesen war. Schrecklich, wenn man sich das vorstellt!
Trotz dieser kleinen Eingewöhnungsprobleme lagen wir uns in den Armen vor Freude. Einen großen Bären von gut zweihundert Kilo zu beobachten, wie er ganz vorsichtig zum ersten Mal in seinem Leben auf Grashalme trat und erschrak, weil sie an seinen Füßen kitzelten, verschlug Frank die Sprache. Er war richtig gerührt. Die Wut, die er kurz zuvor noch in der Jagdstation empfunden hatte, hatte sich komplett gedreht. Frank fühlte überschwängliche Freude, klopfte Carsten herzlich auf die Schulter und bedankte sich mehrfach dafür, an diesem besonderen Tag dabei gewesen sein zu können.
Reinschmidts Tierfakten
Ohne Winterruhe keine Braunbären
Braunbären wird oft nachgesagt, dass sie einen Winterschlaf halten, dies ist aber nicht ganz richtig, denn sie begeben sich nur in eine Winterruhe. Dabei wird die Körpertemperatur, die üblicherweise zwischen 36,5° und 38,5° Celsius liegt, im Gegensatz zum Winterschlaf nur geringfügig um vier bis fünf Grad herabgesenkt. Die meisten Bären starten mit der Winterruhe im Herbst auch erst, wenn sie sich genügend Fettreserven angefressen haben. Die Ruhezeit hängt natürlich auch vom Verbreitungsgebiet ab, denn in kälteren Regionen dauert sie länger als in wärmeren, wo sie sogar ganz ausfallen kann.
Die Weibchen verlieren in der Winterruhe oft bis zu 40 Prozent ihres Körpergewichts, während der Gewichtsverlust bei den Männchen meist nur die Hälfte davon beträgt. Dies hängt damit zusammen, dass die Weibchen durch die Trag- und Säugezeit der Jungtiere einen höheren Energieaufwand haben. Wird der Gewichtsverlust zu groß, wachen die Bären auch mitten im Winter auf und gehen auf Futtersuche. Trotz der Winterruhe kann man sich in Bärengebieten also auch im Winter nie ganz sicher sein, nicht doch einem Bären zu begegnen. Dies belegen auch die Spuren im Schnee, die ich selbst einmal in der winterlichen Slowakei entdecken konnte.
Auch in den Jahren nach unserer Reise informierten wir uns immer wieder, wie es Tyson ging. Es dauerte relativ lange, bis er sich an ein Leben unter freiem Himmel gewöhnt hatte. Erst nach zwei Jahren konnte er in den eingezäunten Wald umziehen, baute dort aber relativ schnell seine eigene Höhle, um darin zu überwintern. Er hatte also natürliche Verhaltensweisen, wie die des Höhlenbauens, nicht komplett verloren und lebte seither zusammen mit den anderen Bären der Station ein relativ friedliches Leben.
Doch dann kam der Krieg! Auch im westukrainischen Lwiw war der Frieden vorbei. Kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine musste die Auffangstation in Domazhyr plötzlich sieben weitere Bären aufnehmen, die in Kiew unter Beschuss geraten waren. Auch diese Tiere stammten von Rettungen aus illegaler Haltung. Einige der Tiere wurden inzwischen nach Deutschland weitertransportiert, um hier in Auffangstationen ein neues Leben zu beginnen. Während wir dieses Buch schreiben, ist die Situation in der Ukraine noch immer nicht befriedet. Nichtsdestotrotz konnte die Arbeit in der Auffangstation in Domazhyr nahe Lwiw bisher fortgesetzt werden. Doch Tierschutz ist in Kriegszeiten ein wirklich schwieriges Thema, und die Mitarbeiter der Station haben mannigfaltige Probleme, um das Leben der Bären weiterhin so gut wie möglich zu gestalten. Ein doppelt bemerkenswerter Einsatz für die Tiere!
Dass es auch in Europa Tier- und Artenschutzprobleme gibt, verlieren wir sehr häufig aus dem Blick. Wir neigen dazu, bei diesen Themen an Nashörner, Elefanten, Koalas oder andere Tiere weit weg auf anderen Kontinenten zu denken. Doch in Europa sind die Probleme des Artenschutzes mindestens genauso groß wie beispielsweise in den Tropen, nur haben wir verlernt, sie zu sehen, weil sie Alltag sind. In den letzten Jahren sind wir daher einmal quer durch Europa gereist. Wir drehten nicht nur mit den Braunbären in der Ukraine, sondern auch mit Gänsegeiern, die in Bulgarien zurück in die Freiheit gesetzt wurden, besuchten mehrere große Artenschutzprojekte für Wölfe, Luchse, Robben und viele andere Tiere in Deutschland und nutzten unsere nächste Reise, um die Artenschutzsituation in Spanien und Portugal zu beleuchten. Eines wurde uns auf all diesen Reisen klar, und Frank hat es einmal ganz toll gesagt: »Es ist erstaunlich, was für tolle, bemerkenswerte Tiere wir auch in Europa haben, und die haben den Schutz genauso verdient wie überall sonst auf der Welt.«
Noch etwas merkten wir: Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber wilden Tieren sind überall gleich. Wenn Menschen in Afrika oder Asien Elefanten von ihren Feldern vertreiben, sie sogar beschießen, dann verurteilen wir das in Europa sehr scharf. Gleichzeitig gibt es eine große Front gegen die Rückkehr der Wölfe. Ganz zu schweigen davon, was passierte, als 2006 der »Problembär Bruno« als erster Braunbär seit über 170 Jahren zurück nach Deutschland kam und letztlich erschossen wurde. Woran liegt das? Ich glaube, es liegt daran, dass die Menschen sich im Laufe der letzten Generationen nach und nach zu weit von der Natur entfernt haben. Wir sind es einfach nicht mehr gewohnt, dass es Raubtiere in unseren Wäldern gibt. Und ganz ehrlich, wir sind mit dieser Situation ja auch ganz gut gefahren in den letzten Jahrzehnten, es war bequem. Allerdings haben wir, ohne es vielleicht selbst zu merken, das Gleichgewicht der Natur völlig durcheinandergebracht. In Europa gibt es quasi keine Urwälder mehr, in denen die Natur genauso ist wie vor Beginn der Zivilisationsgeschichte des Menschen. Und so müssen in allen europäischen Ländern Artenschützer dafür kämpfen, dass die Tiere einen Platz finden in dieser übermäßig menschengeprägten Welt.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Projekte, die sich um die Wiederansiedlung und den Schutz wild lebender Tiere in Europa kümmern, Gott sei Dank gestiegen. Ein ganz besonderes ist die Wiederansiedlung der Waldrappen. Das ist so eine Tierart, die man eigentlich nie auf dem Schirm hat. Als wir die Station der Biologen, die sich mit der Wiederansiedlung dieser Ibisse in der Nähe des Bodensees beschäftigten, ankamen, war Franks erster Satz: »Meine Güte, sind die Vögel hässlich.«
Matthias war natürlich entsetzt. Er erklärte Frank sofort und ausführlich, warum es sich um ganz besondere, tolle Vögel handelte. Damit hatte er natürlich recht. Die Optik dieser Tiere ist zwar schon etwas »gewöhnungsbedürftig«: Ein krummer, langer Schnabel, ein leicht kahler Kopf, auf dessen Rückseite einige Federn wild durcheinanderstehen, kennzeichnen diesen Vogel, der vor allem auf Wiesen herumläuft und nach Futter stochert. Vor 350 Jahren fiel der letzte Waldrapp nördlich der Alpen der Jagd zum Opfer. Seither galt die Art in Deutschland offiziell als ausgestorben – bis die Biologen um Johannes Fritz das Waldrapp-Projekt gründeten. Denn es gab noch Waldrappe in mehreren europäischen Zoos, und sie vermehrten sich dort sogar. Für die Biologen war es ein steiniger Weg, Behörden davon zu überzeugen, dass man mit diesen nachgezüchteten Vögeln ein Wiederansiedlungsprojekt starten sollte. Dazu muss man wissen, dass Waldrappe Zugvögel sind. Sie kommen zur Kükenaufzucht in Regionen nördlich der Alpen, wo sie in Höhlen an Steinwänden brüten. Den Winter verbringen sie dagegen in Südeuropa, in unserem Fall in der Toskana. Vor ein paar Hundert Jahren flogen noch Tausende Waldrappe die Strecke jährlich einmal hin und einmal zurück.
Doch wie sollte man eine Tierart mit einem solchen Wanderverhalten erfolgreich wiederansiedeln? Wie sollte man den Tieren beibringen, dass sie im Herbst ihren Platz dort, wo sie aufgezogen worden waren, verlassen mussten, um in den Süden zu fliegen? In Nordeuropa hätten sie keine Chance, sich über den Winter mit ausreichend Futter zu versorgen. Welche Antwort Johannes Fritz dafür gefunden hatte, wurde uns sofort klar, als wir das Camp am Bodensee besuchten. In kleinen Volieren saßen einunddreißig Waldrappe, die gerade von zwei Studentinnen gefüttert wurden. Direkt daneben stand ein Ultraleichtflugzeug, das Johannes immer nur »das Gerät« nannte.
Wir erreichten dieses spartanisch ausgerüstete Basislager – alle hier arbeitenden Menschen übernachteten in Wohnmobilen und Wohnwagen – am Tag des letzten Trainingsflugs. Die Biologen hatten tatsächlich etwas Unglaubliches zustande gebracht. Sie hatten die kleinen Küken auf die beiden Studentinnen Corinna und Anne geprägt. Das bedeutet, die Vögel hielten Corinna und Anne für ihre leiblichen Mütter. Eine solche Prägung ist bei Vögeln weitverbreitet und extrem fest. Sobald die beiden Ziehmütter »Waldis, Waldis, komm, komm!« riefen, kamen alle Küken zu ihnen gerannt. Dieses Verhalten nutzten die Biologen nun, um den Vögeln den Flug über die Alpen beizubringen. Es hört sich etwas schräg an und hat auch mehrere Jahre gedauert, bis ein perfektes System entwickelt werden konnte, aber es war einleuchtend: Die beiden Studentinnen saßen nun in jeweils einem Ultraleichtflugzeug hinter ihrem Piloten und schrien immer wieder den Lockruf für ihre Küken: »Waldis, Waldis, komm, komm!« –, und die Vögel folgten ihnen bis über die Alpen.
Frank war begeistert von dieser Vorstellung, hatte allerdings wie so oft Zweifel, ob das auch wirklich funktionieren würde. Die Biologen hatten dies in den Jahren zuvor allerdings schon bewiesen und konnten Frank daher mit breiten Schultern erklären, dass dies absolut sicher funktionieren würde. Zwar kamen nicht alle Waldrappe in der Toskana an, meistens gingen ein oder zwei Tiere verloren, aber die meisten. Und tatsächlich gab es bereits Vögel, die daraufhin im nächsten Jahr wieder zurück an den Bodensee kamen.
Schon Wochen vor diesem Drehtag mit dem Ultraleichtflugzeug hatte ich in unsere interne WhatsApp-Gruppe geschrieben, dass einer von beiden, Matthias oder Frank, an diesem Tag mit »dem Gerät« und den Vögeln fliegen müsste. Schon da hatte es große Diskussionen zwischen den beiden gegeben. Matthias hatte dies einige Jahre zuvor bereits für eine andere Produktion gemacht und wusste daher, wie unangenehm ein Flug mit einem Ultraleichtflugzeug sein konnte. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnte: Frank war ebenfalls ein gebranntes Kind. Er hatte mal auf Mallorca in einem Ultraleichtflugzeug gesessen und war durch die Thermik ordentlich durchgeschüttelt worden. Ich hatte hier also zwei Menschen, die beide keinerlei Interesse daran hatten, hinter dem Piloten Platz zu nehmen, um die Waldrappen, die nach 350 Jahren erstmals wieder über den Bodensee fliegen würden, zu begleiten.
Da in der WhatsApp-Gruppe am Ende keinerlei weitere Kommunikation stattgefunden hatte, war ich davon ausgegangen, dass die beiden dieses Thema längst untereinander besprochen hätten. Doch weit gefehlt! Und so standen wir vor einem startbereiten Leichtflugzeug auf einem Sportflugplatz am Rande des Bodensees, und Frank und Matthias diskutierten eifrig darüber, wer denn nun einsteigen müsste. Es war eine sehr lange Diskussion, die meine beiden Freunde hier durchführten, bevor sie zu einem Ergebnis kamen. Ich glaube, am Ende war es »Schnick, Schnack, Schnuck«, das die Entscheidung brachte, und Frank hatte den Kürzeren gezogen. Dass er nicht ganz freiwillig in den Flieger stieg, sah man ihm an. Doch wie so oft in mulmigen Situationen zeigte er vor allem eins: schwarzen Humor. Er lamentierte darüber, dass er nun dazu beitragen würde, dass die Waldrappe nicht aussterben, in der großen Hoffnung, dass die Waldrappe nicht dazu beitrügen, dass er ausstirbt.
Matthias war, als die Entscheidung gefallen war, wie ausgewechselt. Geradezu euphorisch erklärte er Frank jegliche Gefahr, die bei diesem Flug entstehen könnte. Ich hielt mich aus dieser ganzen Diskussion heraus, freute mich dann aber umso mehr, als Frank endlich abhob und zusammen mit den Waldrappen fliegen konnte. Die dabei entstandenen Bilder für unseren Film waren einzigartig, denn sie zeigten nicht nur einen der größten TV-Entertainer Deutschlands in einem winzigen Fluggerät, das mitten in einem Schwarm seltener Vögel flog, sie zeigten auch wieder einmal, welch unglaubliche Anstrengungen nötig waren, um seltene Tiere, die wir hierzulande ausgerottet hatten, wieder zurückzubringen. Zurück am Boden sagte Frank: »Christian, nie wieder! Das war definitiv mein letzter Flug in so einem Gerät.«
Etwa vier Wochen später landeten Johannes, Corinna, Anne und dreißig der einunddreißig Waldrappen sicher in der Toskana, wo die Vögel schließlich ausgewildert wurden. Einige von ihnen sind inzwischen zurückgekommen und sorgen in den Felswänden für Nachwuchs. Ein Riesenerfolg für den Artenschutz.
Reinschmidts Tierfakten
Moderne Technik hilft bei der Wiederansiedlung
Mithilfe von Ultraleichtflugzeugen, die so langsam fliegen, dass die Waldrappe es schaffen mitzukommen, werden diese Ibisse über die Alpen in ihre Überwinterungsgebiete begleitet. Haben die Jungtiere einmal durch menschliche Hilfe die überlebenswichtige Zugroute erlernt, finden sie alleine wieder zurück in ihr Brutgebiet. Damit aber keines der wertvollen Tiere verloren geht, erhält jeder Vogel einen kleinen Rucksack auf den Rücken, der einen GPS-Sender enthält. Verfliegt sich einer der Jungvögel einmal, kann man ihn so wieder einfangen. Dank der technischen Unterstützung kam es inzwischen auch zu einer »natürlichen Landung« auf dem Frankfurter Flughafengelände. Über zweihundert dieser Sender sind derzeit bei den ausgewilderten Waldrappen in Österreich, der Schweiz und in Deutschland im Einsatz. Die Anzeichen, dass die seit Jahren laufende Wiederansiedlung langfristig gelingen wird, sind sehr positiv, denn inzwischen brüten zahlreiche Vögel, ziehen Jungtiere auf und führen diese selbstständig in die Überwinterungsgebiete.
Eines der großen Artenschutzthemen in Deutschland sind die Wölfe. Dazu muss man wissen, dass die Wölfe nicht wiederangesiedelt wurden – sie kamen freiwillig zurück. Nachdem sie vor etwa 150 Jahren in Deutschland ausgerottet waren, wanderte 1998 das erste Wolfspaar aus Polen wieder in Brandenburg ein. Um die Jahrtausendwende gab es dann den ersten Wolfsnachwuchs auf deutschem Boden, und inzwischen haben wir wieder über 1500 Wölfe (Tendenz steigend), die nicht mehr nur in Brandenburg, sondern inzwischen in großen Teilen Deutschlands leben. Experten gehen davon aus, dass in wenigen Jahren in jedem Bundesland wieder Wölfe heimisch sein werden.
Die Geschwindigkeit, mit der die Raubtiere zurückkommen, verwundert allerdings viele. Etliche Biologen hatten gedacht, dass es viel länger dauern würde, bis die Wölfe ihre ursprünglichen Lebensräume und inzwischen sogar völlig neue Lebensräume für sich entdeckten. Gleich zweimal war ich mit Frank in Wolfsgebieten unterwegs. Die Experten Markus Barthen vom Nabu und Biologe Sebastian Koerner nahmen uns jeweils mit. Für Frank war das jedes Mal eine kleine bis mittlere Herausforderung. Wie viele andere Menschen in Deutschland auch war er mit einer gewissen Angst vor Wölfen aufgewachsen – Rotkäppchen lässt grüßen! So behagte es ihm überhaupt nicht, völlig ungeschützt durch das Revier eines Wolfsrudels zu laufen. Vor allem, weil wir in beiden Fällen innerhalb kürzester Zeit erste Fußspuren von Wölfen entdeckten. Wölfe nutzen nämlich total gerne die Wanderwege von Menschen. Der Grund ist relativ einfach: Es geht schneller! Ähnlich wie wir schätzen sie es nicht besonders, mitten durchs Gestrüpp zu laufen und daran ständig hängen zu bleiben.
»Die Faszination von Biologen für Tierkot werde ich nie verstehen.« Das ist einer der Sätze, die Frank immer wieder fallen lässt wie Wildtiere ihre Losung und der natürlich auch in den Wolfsgebieten zum Einsatz kam. Dabei erkannten unsere Experten anhand der Ausscheidungen der Wölfe nützliche Hinweise, zum Beispiel ob die Tiere in der Nacht zuvor am jeweiligen Ort gewesen waren und was sie gefressen hatten. Installierte Wildkameras, die durch Bewegungen ausgelöst werden und filmen, was in der Nacht passiert, zeigten uns dann am Morgen, dass es wirklich Wolfsaktivitäten gegeben hatte. An einem Abend versuchte Markus erfolglos, mit dem Nachahmen von Wolfsgeheul die Tiere sogar möglichst nah anzulocken – was Frank vor allem eins entlockte: ein ungutes Gefühl.
Mit Sebastian verbrachten wir zudem einen extrem frühen Morgen in Tarnausrüstung, um auf die Wölfe zu warten, die, so sagte uns der Experte, mit Sicherheit in diesem Gebiet sein mussten. Sebastian war auch Naturfilmer und hatte extra für unser Ansitzen einen weiteren Sniper-Anzug besorgt. Das sind Tarnanzüge, die Scharfschützen in Kriegen benutzen, um möglichst nicht entdeckt zu werden. Als der Kofferraum aufging und Frank sah, was er da jetzt anziehen sollte, drehte er sich zur Kamera und sagte: »Meine Damen und Herren, Sie erleben das Ende einer Karriere.« Dann drehte er sich zu mir um und sagte: »Christian, du willst doch nicht ernsthaft, dass ich das jetzt hier anziehe?« Wir brauchten einige Minuten, um ihm zu erklären, warum dies eine Notwendigkeit sei und dass es auch Vorteile biete, wenn der Wolf einen nicht sehe. Dieses Argument zog, sodass er dann am Ende tatsächlich den Tarnanzug anlegte.
Frank verglich die nun folgenden zwei Stunden später mit Karneval, weil er sich so verkleidet fühlte, und war überrascht, als Sebastian ihm erklärte, dass selbst Vögel nicht merken, dass ein Mensch unter dieser Tarnung sitzt, und er so manchmal eine Meise oder einen anderen Singvogel auf dem Kopf sitzen hat, während er auf Wölfe wartet. Bis heute weiß ich nicht, ob es Frank ganz recht war, dass sich am Ende kein Wolf blicken ließ, oder er sich tatsächlich gefreut hätte über ein Zusammentreffen mit diesem sagenumwobenen Tier, das immer noch für so viel Diskussionsstoff sorgt.
Diese Erlebnisse und all die Informationen über Wölfe überzeugten Frank aber davon, dass der Wolf nun mal zu uns gehört, und da kann ich ihm nur beipflichten. Wir Menschen müssen lernen, mit Tieren wie Wölfen, Luchsen oder Bären wieder ein vernünftiges Zusammenleben zu finden. Eine Gefahr geht von Wölfen zumindest für den Menschen nicht direkt aus. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Und für das Zusammenspiel im Netzwerk der Natur sind Wölfe ein nicht zu ersetzender, wichtiger Baustein. Sie sorgen dafür, dass kranke Tiere, vor allem Rehe, gefangen und gefressen werden und sich so zum Beispiel Seuchen nicht verbreiten können. Und sie sorgen dafür, dass Rehe nicht überhandnehmen und damit den Wald schädigen. Kurz: Wo es Wölfe gibt, ist der Wald gesünder!
Auch das Thema Meere und Ozeane beschäftigte uns immer wieder auf unseren Reisen. Vor Kurzem besuchten wir die Azoren. Dort hatte ich etwas ganz Besonderes vor: Ich wollte Frank auf dieser Reise einen kleinen Lebenstraum erfüllen. Er sollte das größte Tier der Erde sehen, und zwar das größte, das jemals gelebt hat: den Blauwal.
Vermutlich hat jedes Kind diesen Artnamen schon einmal gehört. Nichtsdestotrotz ist es ein total unterschätztes Tier. Dinosaurier zum Beispiel haben ja eine viel größere Fangemeinde als Blauwale, und das, obwohl sie allesamt kleiner waren (und inzwischen ausgestorben sind). Große Blauwal-Exemplare messen bis zu 33 Metern und können, wenn sie ordentlich gefressen haben, zweihundert Tonnen wiegen. Man könnte meinen, dass solche Tiere also nicht leicht zu übersehen sind. Und doch ist es unglaublich schwierig, diese Giganten in freier Natur zu finden. Das liegt daran, dass sie extrem lange tauchen können, nämlich bis zu zwanzig Minuten, und zudem auch noch relativ schnell sind. Die maximale Geschwindigkeit, die bei Blauwalen gemessen wurde, liegt bei 48 Stundenkilometern! Das bedeutet, dass man sie auf einem Schiff stehend nur sehr schwer ausmachen kann, da sie diese Geschwindigkeit natürlich unter Wasser fortsetzen, wenn man die Tiere nicht sieht.
Unser Guide auf den Azoren war erneut Frank Wirth, den wir aus Kenia kannten und der hier eine Tauchschule besitzt. Und »der andere Frank« rief eines Tages sehr aufgeregt auf meinem Handy an: »Ihr müsst jetzt sofort kommen! Wir haben Blauwale entdeckt.« Unser Frank verstand die Hektik nicht, schließlich sollten wir eine ganze Woche auf den Azoren verbringen. Erst im Nachhinein musste auch er zugeben, dass genau diese Hektik sinnvoll war. Es war nämlich der einzige Tag in der ganzen Zeit, an dem die See ruhig genug war, um wirklich weit rauszufahren, und an dem Blauwale gesichtet wurden. Die Hektik war also ein riesiger Glücksfall!
Ein Taxi brachte uns auf dem schnellsten Weg zum Hafen, wo Frank Wirth uns bereits mit einem Boot in Empfang nahm, das eigentlich nur als Fährverbindung nach Pico gedacht war, die Insel, auf der wir in den nächsten Tagen wohnten. Doch all das interessierte zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr. Das Gepäck wurde eiligst an Bord geworfen und die Technik startklar gemacht, noch bevor wir den Hafen verließen. Und dann ging es mit voller Motorkraft in Richtung Blauwale.
Auf dem Weg auf die offene See begleitete uns eine kleine Schule Delfine, die Frank großen Spaß machten. Und dann plötzlich kam der Ruf vom Kapitän: »Blauwal voraus!« Der Blauwal, den wir entdeckten, war noch nicht einmal besonders groß. Ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Meter maß das Tier – war damit aber fast dreimal so lang wie unser Boot. Frank war mehr als beeindruckt. Er hatte sich das Tier deutlich »fetter« vorgestellt – das war sein erster Eindruck, der für viele Lacher sorgte.
Tatsächlich war es für ihn etwas überraschend, dass ein so großes Tier fast schon grazil durchs Wasser schwamm – man könnte sagen, es schwebte hindurch. Immer wieder tauchte der Kopf mit der Atemöffnung auf und blies eine große Menge Wasser heraus.
Nach nur zwanzig Minuten war das Spektakel vorbei. Etwa fünf- oder sechsmal hatten wir in dieser Zeit den Blauwal auftauchen sehen und auch einige schöne Bilder für unseren Film drehen können. Wir waren alle begeistert, wenn auch extrem durchgefroren, denn auch das ist bei den Azoren anders, als man es sich vorstellt: Es war ganz schön kalt dort im Mai. Nichtsdestotrotz war es für uns alle wirklich ein erhebender Moment, so ein seltenes Tier zu Gesicht zu bekommen.
Um 1920 lag der Weltbestand der Blauwale noch bei ungefähr 220000 Tieren. Vierzig Jahre später war die Population aufgrund der Bejagung mit Harpunen auf nur noch tausend bis dreitausend Tiere zurückgegangen. Die Menschen hatten es also geschafft, dass der Bestand des größten Tieres der Erde um 99 Prozent zurückgegangen war, und das in nur vier Jahrzehnten.
Wie das überhaupt möglich gewesen sein konnte, erlebten wir auch auf dieser Reise. Wir besuchten eine alte Walfabrik und waren alle entsetzt. Vor hundert Jahren war der Walfang noch die Haupteinnahmequelle der Azoren. Heute ist es der Tourismus, der am Ende auch oft an den Walen hängt, nämlich dem Whale-Watching. Damals wurden aus den getöteten Walen Vitamine extrahiert, Lebertran hergestellt und ganz viele Industriefette aus der dicken Schwarte der Säugetiere herausgekocht. Die teilweise acht Meter hohen Tanks, in denen die Tierteile verarbeitet wurden, und der industrielle Maßstab erschreckten uns sehr. Es war ein beklemmendes Gefühl, in so einer Fabrik zu stehen, obwohl wir ja genau wussten, dass diese seit etlichen Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb war. Auf den Azoren starb der letzte von Menschen getötete Wal im Jahr 1983. Seither gilt ein strenger Schutz, der auch dazu führte, dass die Populationen sich langsam wieder erholen konnten.
Dennoch werden die Folgen dieses massiven Eingriffs in die Natur noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zu sehen sein. Denn Wale vermehren sich langsam. Die weltweite Jagd auf die Wale ist nur einer von unzähligen Eingriffen, die wir Menschen in den Meeren vorgenommen haben, wie die Überfischung, der Meeresmüll oder das Einleiten von Abwässern, deren Folgen für uns oft gar nicht in Gänze absehbar sind. Denn am Ende sind auch wir Menschen vom Leben in den Ozeanen abhängig.