12
Am nächsten Tag fuhr ich meinen Vater besuchen. Es war nicht wirklich notwendig, im Voraus anzurufen, er war immer da, tat das, was er immer tat, und freute sich, mich zu sehen, aber ich rief dennoch an, bevor ich aufbrach. Er war da. Und er freute sich auf mich.
Ich fand ihn auf der Koppel hinter seinem Haus, wo er einen Jährling an der Longe führte: ein nervöses, junges Fohlen, das am anderen Ende eines langen Seiles im Kreis um ihn herumlief. Das Gesicht meines Vaters war der Inbegriff völliger Konzentration, so sah er nur in Augenblicken wie diesem aus und wenn er Sämlinge verzog in dem Schuppen, den er als sein Gewächshaus bezeichnete. Ja, er hatte eine Schwäche für junge Dinger: Fohlen, Sämlinge, Kinder. Ich hatte Glück gehabt. Und nur meine Großmutter hatte das gewusst, als meine Mutter gestorben war. Die meisten anderen Leute hatten entgeistert den Kopf geschüttelt: Peter Mortimer mit einem elfjährigen Kind! Einem kleinen Mädchen! Aber Großmutter kannte sein fürsorgliches Herz und schenkte all den Leuten kein Gehör, die ihr erzählen wollten, dass sie einschreiten und die Sache übernehmen sollte. Die Mutter meiner Mutter lebte nicht allzu weit entfernt und war regelmäßig vorbeigekommen – und falls sie jemals entsetzt gewesen sein sollte über das Chaos, die Unordnung, die zahllosen Sättel und Zaumzeuge, die über die Stühle geschlungen waren, die gebackenen Bohnen aus der Dose zum Abendessen, dann hat sie jedenfalls nie ein Wort darüber verloren. Vielleicht hat sie aufgeräumt, aber sie hat mich vor meinem Vater im Sattel irgendeines riesigen Jagdpferdes gesehen oder mit ihm in der Scheune, wo wir Heunetze stopften oder Wassereimer füllten, was leicht mal zu einer Wasserschlacht auf dem Hof ausufern konnte, bis wir beide pitschnass nach drinnen rannten. Ich war meistens ziemlich schmuddelig und seltsam angezogen, aber ich war immer mit ihm zusammen: neben ihm in dem klapprigen alten Pferdetransporter auf dem Weg zu den Auktionen – immer ohne Sicherheitsgurt und vermutlich auch immer ohne TÜV. Dad war nicht unehrlich, aber wenn er knapp bei Kasse war, was fast immer der Fall war, ging er schon mal ein Risiko ein. Und Großmutter ließ uns einfach machen. Blieb zum Abendessen – wieder mal Bohnen – und fuhr weg in dem Wissen, dass ich vermutlich wach sein würde, bis Dad selbst zu Bett ging. Aber sie wusste ebenfalls, dass ich immer pünktlich in der Schule war, selbst wenn wir die ganze Nacht wach gewesen waren, weil eine Stute fohlte. Sie wusste, dass ich alleine mit einem Pferdetransporter auf dem Hof herumfuhr, der kaum noch Bremsen hatte, und sie konnte sich davon überzeugen, dass ich bei all dem scheinbar bestens gedieh. Dass ich eben eine andere Art von Nahrung bekam.
Man konnte das hier eigentlich nicht als richtigen Bauernhof bezeichnen, dachte ich mit einem kleinen Lächeln, während ich am Rande der flachen, windigen Koppel stand und dem Fohlen zusah, das sich mit geblähten Nüstern darüber empörte, dass das hier nicht richtig war und dass es nicht an diesem Seil sein sollte, und doch nach und nach der Geduld und Freundlichkeit des Mannes am anderen Ende des Seiles erlag. Die Koppel war eine von sechsen, die allesamt ziemlich stoppelig und kahlgefressen waren, insgesamt gut zwölf Hektar. Ein Kleinbauernhof eigentlich, mit einem buckligen Häuschen, halb verfallenen Außengebäuden und einer Scheune, die Dad eigenhändig in Boxen unterteilt hatte. Alle Boxen waren notdürftig zusammengeschustert und angenagt. Oft wurden sie nur noch durch Bindfaden und ein paar Bretter zusammengehalten, aber sie waren picobello sauber und die Bewohner wirkten glücklich und zufrieden, glänzend, gesund und entspannt. Wie vor Jahren die junge Bewohnerin dieses Hofes gediehen sie prächtig unter wohlwollender Nachlässigkeit.
»Was meinst du?«, rief Dad leise. Er hatte das Seil gelockert und ging auf das Fohlen zu, wobei er sich gleichmäßig das Seil um den Ellbogen wickelte, bis er neben dem Tier stand.
»Wunderschön«, sagte ich leise und ging hinüber. Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und achtete darauf, dass das Fohlen sie gesehen hatte, bevor ich ihm den seidenweichen, rotbraunen Hals streichelte. »Hast du sie das erste Mal an der Longe?«
»Zum zweiten Mal. Morgen lege ich ihr vielleicht eine Decke auf.«
Ich lächelte. Üblicherweise hieß es in Pferdekreisen immer, dass man das nicht vor dem Alter von drei Jahren tun sollte, aber Dad hatte seine eigene Methode, Pferde einzureiten, und dazu gehörte, sie von klein auf wie Erwachsene zu behandeln. Nach derselben Methode war er auch bei mir vorgegangen. Er hatte sich nie um irgendwelche Teenie-Zickereien gekümmert, hatte sich nie zu den gluckenden Müttern gesellt, die ausgiebig das Liebes- oder vielmehr Sexleben ihrer Heranwachsenden diskutierten – er hatte keinerlei Probleme mit meiner Sexualität. In wessen Auto ich stieg, spielte jedoch eine große Rolle für ihn.
»Wie lange hast du schon den Führerschein?«, fragte er einen überraschten Siebzehnjährigen, vermutlich Ben, der gekommen war, um mich abzuholen.
»Äh, seit ungefähr drei Wochen, Mr Mortimer.«
»Sei so gut, rutsch rüber und lass Poppy fahren, ja?«
»Okay«, sagte der Junge verblüfft. Und er rutschte rüber, Dad vertraute mir, weil ich unangemeldete Autos gefahren hatte, seit ich zwölf war.
Das wäre, wie einige Mütter leise anmerkten, ja alles schön und gut, er hätte aber auch einfach Glück mit mir. Ich war nicht rebellisch. Ich hatte nicht mit dreizehn den ersten Sex, betrank mich nicht regelmäßig und ich hasste Rauchen. »Wenn Sie, lieber Herr Mortimer, beispielsweise unsere Chloe gehabt hätten, sähe die Sache anders aus«, sagten sie und verdrehten die Augen. Dad lächelte dann nur, legte den Kopf schief und pflichtete ihnen bei. Insgeheim fragte er sich allerdings, ob »unsere Chloe«, wenn sie nicht permanent all diese Regeln und Vorschriften eingebläut bekommen hätte bezüglich Alkohol, Sex, Rauchen, Drogen und darüber, was man tut oder nicht tut, es vielleicht gar nicht so eilig damit gehabt hätte. Vielleicht wäre all das dann schlicht und ergreifend nicht so aufregend gewesen.
Jennies Mutter, Barbara, hatte genau wie meine Großmutter still und leise geholfen, hatte mich und Jennie zu Boots mitgenommen, wo wir jeder einen Korb füllen durften: ein bisschen Make-up, Shampoo. »Und Spülung könntest du jetzt auch gebrauchen, Poppy.« Dann hatte sie noch eine Packung Damenbinden dazugelegt – »Für deine Nachttischschublade«, hatte sie erklärt. Dinge, von denen Dad natürlich keine Ahnung hatte.
Also, ja, wir hatten schon ein gewisses Netzwerk, das uns unterstützte. Aber so unmerklich und rücksichtsvoll, dass man kaum gemerkt hatte, dass es da war, wie ein Spinnennetz. Als irgendein Wichtigtuer im Dorf gemeint hatte, das Jugendamt sollte sich mal den Zustand unseres Badezimmers ansehen, in dem es zu diesem Zeitpunkt nicht nur einen Whisky-Spender an der Wand gab, damit Dad sein Glas auffüllen konnte, wenn er in der Badewanne lag, sondern auch noch ein paar Goldfische im Waschbecken, hatten Barbara und Gran metaphorisch gesprochen die Ärmel hochgeschoben und ihm ein paar Sachen erklärt. Der Wichtigtuer gab Ruhe und die Fische blieben noch ein paar Wochen, bis Dad, leicht angetrunken, versehentlich den Stöpsel zog. Ich weiß noch, dass ich untröstlich war, und es tat Dad auch ungeheuer leid, aber es tat ihm eigentlich immer alles leid, wenn er zu viel getrunken hatte. Ich betone hier das »zu viel«, weil Dad immer trank, nur manchmal trank er etwas mehr als üblich. Um die Wahrheit zu sagen, war er vermutlich schon nachmittags immer ein klein wenig angesäuselt, aber dabei so liebenswert und fröhlich, dass sich keiner wirklich daran störte. Er erreichte nie das peinliche Stadium, in dem man herumpöbelte oder -torkelte, denn wenn er dicht war, dann schlief er einfach ein, ganz gleich, wo er war. Er wachte dann platt auf dem Rücken liegend im Garten auf oder auf dem Sofa oder neben einer seiner Stuten im Stall. Dann blinzelte er kurz und sagte: »Gut. Jetzt aber weiter.«
Ob man mich heutzutage bei ihm gelassen hätte, bezweifelte ich, während wir das Fohlen zurück in seinen Stall brachten. Aber hätte Dad mich einfach so bei Gran geparkt, während er zum Fahrradfahren nach Mallorca fuhr? Oder, okay, zum Jagen nach Irland? Nein, das hätte er nicht. Wenn er nach Irland fuhr, dann fuhr ich mit, während ein Nachbarsjunge die Pferde versorgte. Das absolut einzige Mal, dass ich ihn nicht begleitet hatte, war, als jemand der Schule verraten hatte, dass ich meinen jährlichen Ferientag auf dem Pferdemarkt in Newmarket verbringen würde. Dad war nach einer Rüge meines Lehrers beschämt alleine gefahren. Er kam sehr spät, um mich abzuholen. Ich weiß noch, wie ich auf der Schultreppe stand und immer nervöser wurde. Bis mich schließlich die Panik ergriff. Die Dämmerung setzte ein. Handys gab es natürlich noch nicht. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich sah ihn vor mir, tot in einem Graben. Als Dad schließlich kam, war mein Gesicht verquollen und ich wurde von Schluchzen geschüttelt. Obwohl er nun bei mir war und mich im Arm hielt, konnte ich nicht aufhören. Denn obwohl Dad seine Sache so toll machte und trotz der fantastischen Unterstützung von Gran und Barbara, hatte ich doch meine Mutter verloren. Und ich hatte keine Geschwister. Zu hoffen, dass ich ganz unversehrt aus allem hervorgehen würde, wäre allzu einfach gewesen. Ich trug eine unüberwindliche Angst vor dem Alleinsein in mir.
Das einzige Mal, dass dieses Gefühl zurückkehrte, diese schreckliche Panik in mir aufstieg, war, als ich damals auf der Treppe im Londoner Stadtteil Clapham nach meinem Gespräch mit Ben den Telefonhörer auflegte. Als er mir erzählt hatte, dass er jemanden in New York kennengelernt hatte. Und ich hatte die Anzeichen erkannt. Hatte gefühlt, wie sie in mir aufstiegen, während ich mit zitternder Hand den Pinsel zurück in meinen Nagellack steckte. Und es hatte mir eine Höllenangst eingejagt. Danach hatte ich schnell gehandelt.
Großmutter war inzwischen lange tot und das Hilfsnetzwerk hatte sich mit ihr aufgelöst. Jetzt war mein Vater derjenige, der ganz schön alleine war. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Ganz sich selbst überlassen, lebte er seinen eigenen, liebenswert-chaotischen Trott. Ich versuchte, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, nachdem wir das Fohlen in seinem perfekt sauberen Stall zurückgelassen, den Hof überquert und durch die abblätternde Hintertür, gegen die ich mich zweimal mit der Schulter stemmen musste, in die Küche gegangen waren. Der schäbige blaue Linoleumboden war abgetreten und die Resopal-Arbeitsflächen – zumindest das, was man von ihnen sehen konnte zwischen leeren Dosen, Zigarettenschachteln und Milchflaschen aus Plastik – waren abgeplatzt und voller Löcher. Neben dem Spülbecken standen Teller, die sauber aussahen, aber das täuschte: Dad stellte sie immer auf den Boden, damit die Hunde sie ablecken konnten, hob sie später wieder auf und noch etwas später – ich schwöre, dass es wahr ist, obwohl er selbst es weit von sich weist – stellte er sie geistesabwesend in den Schrank, in der Annahme, sie wären sauber. Selbst wenn die Sachen gespült waren, waren Töpfe und Bleche doch immer schwarz verkrustet mit dem, was mein Dad – der übrigens kaum einen Tag in seinem Leben krank gewesen war – als eine annehmbare Menge von Dreck bezeichnet hätte.
Oben roch das Haus nach reifem Junggesellen; unten nach altem Rauch, Hunden und Sattelseife. Das Wohnzimmer – ich steckte kurz meine Nase hinein – war wie immer eine Hommage an die Racing Times und an Sporting Life, die sich in hohen Türmen in allen Ecken stapelten. Ich seufzte und schloss die Tür. Es war vermutlich nicht chaotischer als sonst, aber was mir, solange ich hier gewohnt hatte, ganz normal erschienen war, wirkte immer unnormaler, je mehr Zeit ich anderswo verbrachte. Ich ging aufs Klo, über das ich hier nichts schreiben werde, aber der Fairness halber muss gesagt werden, dass es auch viel benutzt wurde. Als mein Dad feststellte, dass jedes Mal, wenn er im oberen Bad die Spülung betätigte, im Wohnzimmer der Putz von der Decke fiel, hatte er das einzig Vernünftige getan und das Klo außer Betrieb genommen. Das war vor drei Jahren gewesen. Ich stellte den Wasserkessel auf den Herd und freute mich im Stillen, dass ich mein Putzzeug in den Kofferraum gepackt hatte. Dad griff nach seinem Whisky.
»Du siehst besser aus, mein Schatz«, bemerkte er und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Viel besser, da bin ich aber erleichtert.« Er schob Horse and Hound von einem Stuhl und setzte sich, um auf seinem Knie eine Zigarette zu drehen. Mitch, sein Jack Russell Terrier, sprang auf das andere Knie, während Blanche, die Beagle-Hündin, unter dem Tisch nach Leckerbissen suchte. Im Hintergrund säuselte Elvis leise.
»Es geht mir auch besser, rundum gut.«
Dad zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Also, na ja, nicht ganz«, gestand ich ein. » So einfach ist es ja auch wieder nicht. Ich bin immer noch verwitwet und habe noch immer vaterlose Kinder. Aber das entsetzliche Gefühl, im Nebel herumzutappen, ist verschwunden.« Ich setzte mich ihm gegenüber. »Ich hab nicht geglaubt, dass ich da jemals wieder rauskommen würde, ich hatte Panik. Dann später hab ich einfach aufgegeben. So wie Leute im Schnee das tun.« Ich runzelte die Stirn. »Es ist komisch, Dad, aber als er gestorben ist, kam ich mir ziemlich verlassen vor, das kann ich dir sagen, auch wenn wir nicht gerade die glücklichste Ehe geführt haben. Ich habe sogar irgendwann das wütende Wie-konnte-er-es-wagen-mich-zu-verlassen-Stadium erreicht, was meiner Ärztin zufolge ganz normal ist. Aber als ich dann von seiner Tussi gehört habe« – Dad kannte mittlerweile all die schmutzigen Details –, »war das, als hätte er mich ein zweites Mal verlassen. Und schon war ich, kaum dass ich gedacht hatte, ich käme ganz gut zurecht und könnte so weiterwursteln, wieder ganz am Anfang. Nein, eigentlich noch meilenweit dahinter.«
Dad streichelte Mitch über das Fell und wartete. Er hatte schon immer gut zuhören können.
»Und das Komische war …«, ich starrte zur Decke empor, um mich zu konzentrieren und Klarheit zu gewinnen, »… dass ich das Gefühl hatte, alles wäre meine Schuld.« Ich schüttelte den Kopf. »Lächerlich, echt.«
»Schlechtes Gewissen«, grunzte er leise und streckte den Arm zum Wasserhahn aus, um seinen Whisky ein wenig zu verdünnen. »Und wenn du dich schon bei diesem Haubentaucher von Mann so gefühlt hast, dann kannst du dir vorstellen, wie es mir damals an diesem Weihnachtstag gegangen ist. An dem deine Mutter sich abgehetzt hat, um wie üblich alles für alle sein zu können.«
Es war leicht dahingesagt, aber mir wurde bewusst, wie schwer Dad an seiner Schuld getragen haben musste. Doch er hatte es sich nie anmerken lassen. Ja, wir hatten zusammen geweint, die Tränen waren in Strömen geflossen, reißende Ströme der Trauer – Dad meinte immer, einem Mann, der nicht weinen konnte, würde er nicht trauen –, aber er hatte mich nie mit den komplizierteren, erwachsenen Schuldgefühlen belastet. Er war aus härterem Holz geschnitzt als ich. Plötzlich schämte ich mich für meinen jüngsten kleinen Zusammenbruch vor meinen Kindern.
»Ich schätze mal, das einzig Gute daran ist«, sprach ich zögernd weiter, »dass ich in letzter Zeit nicht mehr so ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich nicht genug um ihn getrauert habe.«
Wir schwiegen einen Augenblick.
»Aber«, fuhr ich fort und nahm einen großen Schluck von meinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war, »ich bin nicht hergekommen, um dir das zu erzählen. Die Sache ist nämlich die, dass er mir Geld hinterlassen hat.«
»Ach wirklich?«, sagte Dad abwesend und griff nach unten, um dem Beagle etwas aus dem Maul zu nehmen. »Na, das ist doch wenigstens etwas. Was hast du denn da, du kleine Kröte?« Letzteres bezog sich nicht auf meinen finanziellen Gewinn, seine kommerzielle Ader war nicht stärker ausgeprägt als meine, sondern auf Blanche, den Beagle.
»Was hat sie denn da?« Ich linste nach unten, während er ihr etwas Helles, Glänzendes entwand.
»Meine falschen Zähne. Das kleine Luder holt sie sich von meinem Nachttisch. Oh, das ist nicht so schlimm«, sagte er, als er meine Miene bemerkte, »das ist nur das Ersatzgebiss.« Er stand auf und spülte es unter dem Wasserhahn ab.
»Na, da bin ich aber erleichtert. Damit wären die sexy Witwen auf deinen Cocktailpartys bestimmt nicht zu beeindrucken.« Dad und ich hatten einen Standardwitz, dass er eines Tages eine solche Witwe kennenlernen könnte.
Er schnaubte verächtlich. »Wer’s glaubt …«
Ich blickte auf seinen Rücken am Spülbecken. »Willst du gar nicht wissen, wie viel?«
»Wie viel was?«
»Geld?«
»Ach so, klar. Sag schon.«
Ich sagte es ihm und selbst mein Vater, dem diese Dinge wenig bedeuteten, ließ seine Zähne in die Spüle fallen. Er drehte sich zu mir um.
»Meine Güte.«
»Ich weiß.«
»Das ist viel Geld, Poppy.«
»Ich weiß.«
»Und was willst du damit anfangen?«
»Na ja, zum Beispiel dir was davon geben.«
Er starrte mich an. Dann polterte er los. »Hör auf. Ich will dein Geld nicht.«
»Um das Haus in Schuss zu bringen, Dad. Die Leitungen zu reparieren und so was, nicht etwa für Urlaub auf Mauritius. Aber ich hab so viel.«
Er fixierte mich mit leuchtend blauen Augen, so streng, wie es Dad nur möglich war. »Ich will das Geld nicht, Liebes. Nicht deins, und schon gar nicht das von Phil. Ich werde keinen einzigen Penny nehmen. Tu’s auf die Bank. Für schlechte Zeiten.« Er drehte sich wieder um, griff nach seinem Gebiss und spülte es noch einmal ab, bevor er es auf die Abtropffläche legte.
»Vielleicht sollte ich Marjorie und Cecilia etwas davon anbieten?«
»Würden sie dir etwas abgeben, wenn es andersherum wäre?«
»Nein, aber darum geht es auch nicht.«
»Das stimmt.« Er zuckte mit den Schultern. »Das bleibt dir überlassen. Ganz und gar.« Wie immer hatte mein Vater keine Lust, mir zu sagen, was ich tun sollte. Stattdessen bückte er sich und kramte in dem alten Fichtenschränkchen herum, das ihm als eine Art Speisekammer diente. »Jetzt gibt’s erst mal Mittagessen. Das Zeug heißt The Full Monty, Schinken, Ei, Würstchen und Baked Beans in einer Dose. Hab ich auch noch nicht probiert. Wie wär’s?«
Er drehte sich um und hielt mir die Dose mit dem Bild einer kompletten Mahlzeit entgegen, und ich wusste, das war sein letztes Wort in dieser Sache. Die Unterhaltung war beendet. Eigentlich hatte ich, schon bevor ich hergekommen war, gewusst, dass er kein Geld von mir annehmen würde. Aber es war einen Versuch wert gewesen.
Ich seufzte. »Na dann, los«, sagte ich und schaffte zwischen den Zeitungsstapeln etwas Platz auf dem Tisch. »Lass uns gemeinsam unsere Arterien verstopfen.«
War es den Versuch wert gewesen? Nicht wirklich, dachte ich, während ich später nach Hause fuhr, den Bauch voller Baked Beans, Schinken und etwas Undefinierbarem, das wohl Pilze waren, aber, wie Dad meinte, ebenso gut Zehennägel hätten gewesen sein können. Es war den Versuch nicht wert gewesen, weil ich Dad beleidigt hatte, indem ich ihm überhaupt einen solchen Vorschlag machte. Er lebte aus freien Stücken so. Er war ein Freigeist im wahrsten Sinne des Wortes. Ich dagegen war irgendeiner konventionellen Vorstellung gefolgt, die mir befahl, meinem verwahrlosten Vater dieses Angebot zu machen, hatte mich an konformistischem Unsinn orientiert, der Dad piepegal war. Ich sackte hinter meinem Lenkrad in mich zusammen. Ich wünschte, ich hätte die Kinder mitgenommen. Dad war überrascht gewesen, sie nicht zu sehen. Aber ich hatte mir irgendwie vorgestellt, dass ich ein erwachsenes Finanzgespräch samt Tabellen und Kalkulationen und allem Drum und Dran haben wollte, ohne dass zwei kleine Kinder um uns herumrannten. Stattdessen hatte das Gespräch nur zwei Minuten gedauert und ich hatte meinen Vater beleidigt, der viel lieber seine Enkelkinder gesehen hätte.
Ich stellte den Wagen ab und lächelte wehmütig, während ich den Weg zu Jennies Haus hinaufging, um meinen Nachwuchs einzusammeln. Interessant. Wie jede Mal fühlte ich mich auch nach diesem Besuch bei meinem Vater besser und schlechter, beides zugleich. Genau wie sein oberflächliches Chaos stärker hervortrat, wenn ich längere Zeit weg gewesen war, traf dies auch für seine erfrischend andere Sichtweise auf die Dinge zu. Ich seufzte. Ich sollte ihn öfter besuchen.
Jennie brannte offenbar etwas unter den Nägeln, noch im Flur, wahrscheinlich hatte sie auf mich gewartet, hauchte sie mit kaum verhohlener Erregung: »Rate mal!«
»Was soll ich raten?«
»Die Kunde von unserem Buchclub hat sich bis nach Potters Wood ausgebreitet. Die Amerikaner wollen auch mitmachen.«
Ich stand noch zwischen Tür und Angel, hatte das Gespräch mit meinem Vater nur halb verdaut, doch ich muss gestehen, dass sich ihre Freude augenblicklich auf mich übertrug, genau wie sie es erwartet hatte.
»Oh!« Ich konnte im ersten Augenblick nichts sagen. Strahlte sie nur an. Dann vorsichtig: »Du machst Witze!«
»Nein, mache ich nicht! Sie wollen auf jeden Fall mit von der Partie sein!« Sie machte mit einem Knall die Tür hinter mir zu. »Wie findest du das?«
Die Amerikaner waren ein aufregend exotisches Paar, das wochentags am Chester Square im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia wohnte und sich hier etwas außerhalb des Dorfes ein Wochenendhaus gemietet hatte. Er war Filmproduzent und sie eine wunderschöne zweifache Mutter. Jennie und ich waren ihnen erst einmal begegnet, und zwar, als Leila verschwunden war und ich mich mit Jennie auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Nachdem wir bereits jeden im Dorf gefragt hatten, waren wir schließlich auch zu Potters Wood gegangen, einem hübschen, weißen Haus mit hohen Schornsteinen am Ende einer Sackgasse. Wir wussten, dass es dem National Trust gehörte, hatten aber keine Ahnung, wer es gemietet hatte. Ein absolut umwerfend aussehender Mann – groß, breitschultrig, gebräunt und nackt bis auf die Jeans – hatte uns die Tür geöffnet. Er hatte uns die Hände geschüttelt und sich mit einem amerikanischen Akzent als Chad Armitage vorgestellt. Dann hatte er uns einen Kaffee angeboten und spontan vorgeschlagen, uns bei der Suche nach Leila zu helfen, dann war auch noch seine auf entzückende Weise zerzauste Frau die Treppe heruntergekommen, nur mit einem seidenen Morgenrock bekleidet, und das um elf Uhr vormittags.
»Oh Gott. Sollen wir suchen helfen? Soll ich die Kinder holen?« Rasch hatte sie ihren Morgenrock zugeknotet und mit besorgtem Blick nach ihrem Handy gegriffen.
»Nein, nein, die taucht schon wieder auf«, sagten wir eilig und sogen dies alles in uns auf: den etwas aufgelösten, postkoitalen Look dieses hinreißenden Paares so spät am Vormittag, die beeindruckende moderne Kunst an den Wänden, wie er sie Honey nannte und sie mit wahrhaft liebevollem Blick ansah. Vermutlich saßen wir mit offenen Mündern da und keinesfalls hätten wir zugelassen, dass sie nach der zotteligen, alten Leila suchten, die sich bestimmt gerade von irgendeinem Straßenköter rammeln ließ. Schließlich hatten wir uns widerwillig verabschiedet und uns bedankt, während sie uns versicherten, sie würden sich melden, falls sie sie sähen.
Im Gehen hatte ich schüchtern gesagt: »Schön haben Sie es hier.« So war es. Im Garten blühten Unmengen von Wildblumen und er war ein wenig überwuchert, so als wären sie zu beschäftigt im Bett, um die Rosen zu schneiden.
Sie – Hope, wie wir jetzt wussten – hakte sich in der Tür bei Chad ein und lächelte ihn an. Dann sagte sie mit leicht heiserer Stimme: »Es ist ein Paradies.«
Jennie und ich waren wie verzaubert von dannen geschlichen.
Später in der Woche war ich Jennie begegnet, die mit Leila an der Leine die Sackgasse zu Potters Wood hinaufging. Ich war mit Archie in umgekehrter Richtung unterwegs. Errötend blieben wir beide stehen.
»Das ist doch ein öffentlicher Weg hier«, platzten wir beide wie aus einem Munde heraus, was stimmte, aber es war ein Weg, den wir zuvor nie entlanggegangen waren.
Es war offensichtlich, was uns so angezogen hatte: das perfekte Leben, das die beiden führten. Reich, kultiviert und glücklich, mit goldigen Kindern, die wir später mit dem Kindermädchen im Dorf antrafen, während sich Chad und Hope zweifellos unter einem Chagall an Position Nummer sechsundvierzig versuchten. Jennie und ich mit unseren unperfekten Leben waren fasziniert, obwohl wir uns das nie gegenseitig eingestanden.
»Wo hast du sie getroffen? Was hast du gesagt?«, fragte ich atemlos.
»Nur Hope. Sie war mit ihrem Land Cruiser unterwegs, sie hat abgebremst, angehalten und gesagt, sie hätte von dem Buchclub gehört und ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie auch kämen, das wäre nämlich genau das, was sie und Chad hier zu finden gehofft hatten, bislang leider vergeblich.«
»Beide? Sie wollen beide mitmachen?«
Clemmie und Archie kamen angelaufen, hängten sich an meine Beine und quengelten um Aufmerksamkeit. Manchmal wünschte ich wirklich, meine Kinder könnten mit einem Kindermädchen zum Beerenpflücken gehen. Ich wuchtete Archie auf meine Hüfte.
»Ja, weil er im Augenblick scheinbar beschäftigungslos ist, zwischen zwei Filmen nicht recht weiß, was er mit sich anfangen soll.«
Die Vorstellung, dass irgendein Teil dieses glamourösen Paares nichts mit sich anzufangen wusste, stimmte uns nachdenklich und drohte beinahe eine Illusion zu zerstören.
»Also, relativ gesehen«, sagte Jennie rasch. »Ich bin sicher, dass er alles Mögliche vorhat. Drehbücher lesen und so weiter.«
»Oh, bestimmt«, pflichtete ich ihr bei. Langeweile war keineswegs zulässig.
»Du hast also ja gesagt?«
»Ich habe ja gesagt und sie kommen am Dienstag. Glaubst du nicht auch, dass Simon ziemlich beeindruckt sein wird?«, konnte sie sich nicht verkneifen.
Ah. So lief das also. Ihr eigener kleiner Geheimplan. Natürlich würde Simon beeindruckt sein. Chad und Hope waren eine beachtliche Errungenschaft. Am Anfang hatten alle versucht, sie für sich zu gewinnen. Ihre Türklingel in Potters Wood musste nie aufgehört haben zu klingeln. Hope war von jedem, der einen kleinen Machtbereich zu befördern hatte, zu jeder Gruppe, die es im Dorf gab, eingeladen worden – vom Arbeitskreis für Dorfentwicklung bis hin zur Gobelin-Stickerei. Auch Sylvia war damals bei ihr vorbeigegangen, um zu sehen, ob sie beim Blumenschmuck für die Kirche helfen wollte.
»Oh, ich bin für so was leider völlig unbegabt«, hatte Hope an der Tür gesäuselt. »Ich pflücke sie einfach nur und stopfe sie in ein Glas, wie’s gerade kommt, fürchte ich.« Damit hatte sie auf den Hahnenfuß gedeutet, der sich verführerisch aus einem Krug auf dem Tisch hinter ihr ergoss.
»Ach, machen Sie sich da mal keine Sorgen«, hatte Sylvia gebrabbelt. »Ich bin genauso ungeschickt!«
Kein Wunder, dass Hope ein wenig verblüfft dreingeschaut hatte.
Selbst Simon hatte es mit dem Ortsverband der Konservativen probiert und war ebenso vernünftig wie höflich abgewiesen worden. Angie hatte vorbeigeschaut, um zu fragen, ob Chad sich vielleicht im Kirchengemeinderat engagieren wollte, etwas, das sie als Vorsitzende fragen durfte, aber jeder wusste, dass man da sonst nur durch jahrelanges Katzbuckeln hineinkam. Aber keiner hatte ihr deswegen Vorwürfe gemacht. Keiner hatte widersprochen.
»Was hat er gesagt?«, wollten wir alle begierig von Angie wissen, wir waren zu sechst im Gemeindesaal, wo wir uns um den Blumenschmuck fürs Dorffest kümmerten, als sie verspätet hereingestürmt kam, um uns zu berichten.
»Hope war an der Tür und meinte, er wäre nicht da. Sie sagte, er werde sich sehr freuen, dass man ihn gefragt hat, obwohl sie bereits wisse, dass er leider, leider ablehnen müsse, aber er wäre einfach momentan so beschäftigt. Sie war noch immer in ihrem Morgenrock, mit ganz verwuschelten Haaren.«
»Elfenbeinfarbene Seide?«, hauchte Jennie.
»Ja, und dann war seine Stimme von oben zu hören, total amerikanisch und heiser. ›Was machst du, Honey?‹ Und da ist sie ganz rot geworden und hat gestammelt: ›Oh, ich … ich glaube, er ist wohl doch da.‹«
Wir hielten alle sehnsüchtig beim Pfingstrosen-Schneiden inne.
»Den ganzen Tag Sex«, verkündete Jennie schließlich. »Traumhaft.«
»Damit wäre zumindest klar, womit der so beschäftigt ist«, spottete Peggy und ging wieder zu ihren Zinnien.
Jetzt in Jennies Flur kam mir plötzlich ein Gedanke. »Aber was werden wir allen anderen sagen? Du weißt schon, Frank, Schmuddelbob, Dickie Frowbisher und allen, die sonst noch mitmachen wollen?«
»Wir sagen ihnen einfach, sie können uns mal«, meinte Jennie bestimmt und straffte sich. »Es handelt sich hier um einen exklusiven Club, Poppy, da können nicht alle einfach mitmachen. Wir haben die heilige Hilda aufgenommen, um unseren guten Willen zu zeigen, und jetzt Hope und Chad, aber da ist unsere Grenze. Wir passen ja sonst gar nicht mehr in irgendjemandes Wohnzimmer, Himmel noch mal.«
Ich nickte, während ich mich mit meinen Kindern zum Gehen wandte, aber ich wusste, dass das eine dünne Ausrede war. Angie hatte ein riesiges Wohnzimmer. Und es würden eine ganze Menge Leute eingeschnappt sein. Schließlich lebten wir in einem kleinen Dorf. Ach, zur Hölle mit ihnen, dachte ich, als ich meine Tür aufschloss. Jennie hatte recht. Wir mussten einfach manchmal ein wenig egoistisch sein. Und die Amerikaner würden sicherlich den Glamour-Faktor ordentlich erhöhen. Auf dem Weg in die Küche blinkte der Anrufbeantworter. Abwesend drückte ich darauf, während ich Archie absetzte und ihm hinterhersah, wie er zu seinem Laufställchen lief und verlangte, hineingehoben zu werden. Es hatte sich in letzter Zeit zu seinem Lieblingsplatz entwickelt. Hieß es nicht immer, das Laufställchen sei nur eine Art Gefängnis? Was würde ein Kinderpsychologe mir wohl Herzzerreißendes über Archies Vorliebe für dieses Gefängnis erzählen? Während ich ihn hineinhob, bat mich eine tiefe, männliche Stimme höflich, doch bitte noch einmal einen Termin zu vereinbaren, wann immer es mir passte. Nichts Weltbewegendes, aber da sei noch etwas aufgetaucht und er würde die Sache gern mit mir besprechen. Sam, der Rechtsanwalt.
Es war schon eine ganze Weile her, dass mich eine tiefe, männliche Stimme gebeten hatte, irgendetwas zu tun. Aber wäre es nötig gewesen, sofort zurückzurufen? Noch bevor ich überhaupt Clemmie den Mantel ausgezogen hatte? Ich erreichte Janice, die mir einen Termin gab. Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich irgendwie leichter, froher. Tatkräftiger. Ich trat ans Fenster, um in den Tag hinaus zu lächeln. Ja, das waren bestimmt die Amerikaner, dachte ich, die hatten meine Laune so gehoben. Das irrationale Bedürfnis, die Nachricht noch einmal abzuspielen – was ich tat, sogar drei Mal –, diente nur der Absicherung, dass ich auch wirklich alles richtig verstanden hatte. Dass es nichts Weltbewegendes war und kein Grund zur Besorgnis. Im Vorbeigehen drehte ich das Radio auf und sang mit Westlife mit, dann hob ich Clemmie in meine Arme, um mit ihr durchs Zimmer zu wirbeln. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte vor Freude laut auf.