14
Ich kann es nicht fassen.« Angies Mund samt leuchtend pinkem Lippenstift blieb ungläubig offen stehen. Um den Effekt zu verstärken, verharrte sie so.
»Ich weiß. Ich auch nicht. Das heißt, nein, ich kann eigentlich doch«, sagte ich bedrückt.
»Aber welcher Mann würde so etwas tun?«, fragte sie ungläubig. »Weiht seine ganze Familie in seine außereheliche Beziehung ein und fordert sie auf, sich gegen seine Frau zu verschwören!«
»Phil«, sagte ich leise. »Ein Mann wie Phil.«
»Und was ist das denn für eine Familie«, sie blinzelte, »die da mitmacht, sich mit dem Sohn und dessen Geliebter verbündet, Ja und Amen zu dem Verhältnis sagt?«
Ich wand mich. »Marjorie und Cecilia«, sagte ich mechanisch, wobei mir auffiel, dass Jennie gar nichts sagte.
In eine lange weiße Schürze geschnürt, stand sie mit dem Rücken zu uns an ihrem Herd und rührte in einem riesigen Bœuf bourguignon, das nur darauf wartete, in Tupperdosen abgefüllt und auf die diversen Tiefkühltruhen der Gegend verteilt zu werden. Angie und ich saßen an ihrem Küchentisch. Angie war vorbeigekommen, einen Pashmina-Schal zu holen, den sie Jennie geliehen hatte und nun bei einem Wohltätigkeitsessen tragen wollte. Dabei hatte sie mich vorgefunden, wie ich blass und zusammengesunken Jennie mein Herz ausschüttete. Natürlich musste ich die Geschichte noch einmal von vorne erzählen. Ich hätte sie Angie natürlich irgendwann sowieso erzählt, aber ich hätte damit vielleicht gewartet, bis ich etwas gefasster war. Davon konnte jetzt keine Rede sein. Und Angies Fassungslosigkeit war schwer zu ertragen. Jennie war ebenfalls schockiert gewesen, aber sie konnte sich das Ganze wenigstens vorstellen. Sie kannte Phil und sie kannte Marjorie und Cecilia.
»Phil konnte in ihren Augen einfach nichts falsch machen«, erklärte ich matt und fragte mich dabei, ob ich wohl auf immer und ewig Erklärungen für diese Shillings finden musste. Vielleicht sollte ich das am besten gleich beruflich machen.
»Sie wissen ganz offensichtlich nicht, was richtig und was falsch ist!«, explodierte Angie. »Und diese – diese Emma-Tussi – ich dachte, sie wäre bei dir gewesen und hätte gesagt, dass sie nichts haben will?«
»Ja, aber jetzt ist das Testament eröffnet und ihr ist klargeworden, dass Phil wahrscheinlich kurz davor stand, für sie vorzusorgen, ebenso wie für Marjorie und Cecilia.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, sie glaubt, sie hätte ein Recht darauf.«
»Ein Recht, meine Fresse!«, ereiferte sich Angie. Sie war vom Tisch aufgesprungen und wütend zum Fenster hinüber gestapft, wo sie mit überkreuzten Armen dastand. Ihre Augen blitzten, ihr Gesicht war voller Empörung. Noch vor wenigen Monaten war Angies schönes Gesicht sehr müde, sehr traurig gewesen. Wenigstens hatte sich ihre Miene mittlerweile ein wenig aufgehellt. Ob es wohl eine Erleichterung für sie war, nicht mehr unter Beobachtung zu stehen? Dass der Stab jetzt an mich weitergereicht war? Nicht mehr diejenige zu sein, die von allen bedauert wurde? Nicht, dass sie sich an meinem Unglück ergötzt hätte – Angie war ein liebenswerter Mensch –, aber keiner wollte auf ewig die Unglückliche sein. Diejenige, die am schlechtesten dran war.
»Du darfst ihr keinen Penny geben«, warnte sie mich und machte eine plötzliche Kehrtwende auf ihrem Zehn-Zentimeter-Absatz, um mir ins Gesicht zu sehen. »Keinen einzigen Penny.«
Ich nickte stumm.
»Und was für ein Mann ist eigentlich so beschissen perfekt durchorganisiert«, fragte sie, »dass er schon mit Anfang dreißig anfängt, sein Erbe zu regeln?«
»Ein Mann, der sich auch schon sein Fleckchen auf dem Friedhof gesichert hatte«, bemerkte Jennie, die ohne sich umzudrehen weiterrührte. Dann warf sie einen Blick über die Schulter. »Das war ihm bestimmt sehr wichtig, nicht wahr, Poppy? Alles geordnet zu hinterlassen.«
Ich nickte wieder. Es war alles so peinlich. So … erniedrigend. »Ich kann nicht glauben, dass ich den katastrophalen Fehler gemacht habe, diesen Mann zu heiraten«, sagte ich leise. Ich wollte fortfahren: So ein Mangel an Urteilsvermögen, aber ich wusste, dass meine Stimme zittern würde. War ich eigentlich ganz bei Trost gewesen, fragte ich mich, damals vor sechs Jahren?
Angie betrachtete ihre langen, rot lackierten Nägel und Jennie wandte sich freundlicherweise wieder der Überwachung ihres Kochtopfes zu.
»Das habe ich heute gedacht, als ich bei dem Rechtsanwalt war«, sagte ich, als ich mir sicher war, dass meine Stimme nicht versagen würde. »Ich dachte: Was soll er nur von mir denken, dass ich so einen Mann geheiratet habe?«
»Wen kümmert es schon, was dein bescheuerter Anwalt denkt!«, schnaubte Angie. »Die Hauptsache ist doch, dass diese raffgierigen Hexen keinen einzigen Penny bekommen. Es gehört alles dir, Poppy, alles.«
»Und wenn es dir gegen den Strich geht, dich ums Geld zu streiten«, fügte Jennie hinzu und zeigte mit ihrem hölzernen Kochlöffel auf mich, weil sie genau wusste, dass ich viel von meinem Dad in mir hatte. »Dann tu es für Clemmie und Archie.«
Ja, das half. Für die Kinder. Ich hatte mir schon selbst gesagt, dass das der Weg nach vorne war. Dass mich das antreiben würde. Aber es würde schwer sein, diesen Schwung beizubehalten. Ich fragte mich, was ich wohl denken würde, wenn ich Emma wäre. Würde ich das Geld haben wollen? Hätte ich das Gefühl, ein Recht darauf zu haben? Ja, vielleicht.
»Aber sie ist jung, Himmel noch mal«, ereiferte sich Jennie, die offenbar meine Gedanken gelesen hatte. »Sie verdient gut, hat keine Kinder. Du arbeitest nicht.«
»Ich tue gar nichts«, sagte ich mit einem Anflug von Panik. Außer, dachte ich, das Geld meines verstorbenen Mannes zu nehmen: das Geld eines Mannes, der mich nicht geliebt hat.
»Keine von uns hat gearbeitet, solange die Kinder klein waren«, betonte Angie. »Meine Güte, ich arbeite ja noch nicht einmal jetzt!«
Es entstand ein betretenes Schweigen, in das Jennie irgendwann »Genau« sagte.
Um die Wahrheit zu sagen, hatten wir beide uns insgeheim schon gefragt, warum Angie eigentlich keinerlei Anstalten machte, etwas zum Familieneinkommen beizutragen, jetzt, wo sie die Zeit dazu hatte. Jennie hatte einmal mitgekriegt, wie Tom müde von der Arbeit nach Hause gekommen war und in seinem Anzug in der Küche gestanden und Rechnungen geöffnet hatte und dabei eine Bemerkung über Angies Kundenkonto bei Harvey Nichols fallengelassen hatte, das er kaum mehr finanzieren könnte, wozu Angie leichthin gesagt hatte: »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dir noch einen Samstagsjob zu suchen?« Tom hatte es für einen Augenblick die Sprache verschlagen. Als er die Worte wiedergefunden hatte, fragte er zynisch, ob sie es vorziehen würde, wenn er Zeitungen austrug, oder ob er lieber bei Tesco an der Kasse sitzen sollte. Angie hatte ihn verärgert angefahren, man werde doch noch einen Scherz machen dürfen, woraufhin Jennie ihren Wein ausgetrunken und sich davongeschlichen hatte.
»Zwei kleine Kinder zu haben, ist hochgradig arbeitsintensiv«, erklärte Angie leidenschaftlich. »Mach dir nur ja kein schlechtes Gewissen, weil du nicht arbeitest, Poppy. Wir sind verdammt noch mal die stillen Helden.«
Ich seufzte. Ich wusste, dass sie alles taten, damit ich mich besser fühlte, aber in Wirklichkeit ging es mir schlechter. Ich kam mir vor wie ein Schmarotzer. Hier saß ich mitten am Vormittag und trank wieder einmal Kaffee mit meinen Freundinnen, bevor ich in das Haus zurückkehrte, das Phil bezahlt hatte und in dem er offenbar viel lieber mit Emma gelebt hätte. Bevor ich hier rübergekommen war, hatte ich durch einfaches Blättern im Telefonbuch festgestellt, dass Emma Harding ganz in der Nähe wohnte, nur ein Stückchen entfernt in Wessington. Meadow Bank Cottage. Das hatte mich ganz schön erschüttert. Irgendwie hatte ich angenommen, dass sie, da sie in London arbeitete, auch in London leben musste, aber das war nicht der Fall; sie war nur Minuten entfernt, musste schon unzählige Male an meinem Haus vorübergefahren sein und gedacht haben: Da sollte ich sein, mit ihm, da sollten wir zusammen sein. Vielleicht würde sie es jetzt bekommen?
»Nun, wir werden ja sehen«, sagte ich matt. »Sam meint, wir sollten in Ruhe abwarten, ob sie die Sache überhaupt weiterverfolgen. Er meint, es ist vielleicht alles nur heiße Luft.«
»Sam ist der Rechtsanwalt?«, fragte Angie und aus unerfindlichen Gründen musste ich mich runterbeugen, um meine Socken unter der Jeans hochzuziehen.
»Jupp.«
»Na, ich hoffe, er ist gut. In welcher Kanzlei ist er denn?«
»Eine kleine, private Kanzlei in der Stadt. Aber davor war er in einem großen Laden in London«, fügte ich hinzu, weil ich wusste, dass das bei Angie Eindruck schinden würde.
»Oh, okay. Also, hör mal zu, Poppy, April McLean von Freshfields ist vielleicht teuer, aber die geht den Leuten echt an die Gurgel. Sag mir Bescheid, wenn ich den Kontakt herstellen soll. Ich bin bei ihr aus dem Büro gekommen und dachte, mir gehört die Welt.«
»Nein, nein, ich bin ganz glücklich.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie Sam jemandem an die Gurgel ging, wie er die Zähne bleckte und Marjorie vor Gericht in die Zange nahm. Wo er wohl nach der Arbeit hinging? Wo wohnte er, nun, da er geschieden war? In einer Mietwohnung in der Stadt oder vorerst bei Freunden, Männer unter sich, die sich nach der Arbeit auf ein Bier trafen? Das konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen.
»Jedenfalls vielen Dank, ihr zwei. Es hat gutgetan, das mal loszuwerden. Ich muss jetzt los und Clemmie holen. Sie ist heute schon am Mittag fertig.«
Als sie mir das Versprechen abgenommen hatten, mich zu melden, wenn ich Hilfe brauchte, und mich umarmt hatten, wobei mir Angie beinahe den Wangenknochen brach, machte ich mich auf den Weg. Langsam ging ich den Hügel hinauf. Archie, der gerade erst den Liedtext von Bob der Baumeister gelernt hatte, strampelte mit den Beinen in seinem Buggy und sang lauthals, doch mir war schwer ums Herz. Wie viel verlangte Angie wohl, fragte ich mich. Die Hälfte von Toms Vermögen? Das Haus? Nun ja, warum auch nicht? Sie hatte die Kinder dort großgezogen, es war ihr Zuhause. Aber es fühlte sich nicht ganz richtig an. Und nicht, weil Angie nie gearbeitet hatte – oh, sie engagierte sich dafür in der Dorfgemeinschaft, saß in Ausschüssen, war Vorsitzende des Kirchengemeinderates. Das war es nicht. Es war nur … Ich war mir nicht sicher, ob ich auch zu jenen Frauen gehören wollte, die ihre Männer nach Strich und Faden ausnahmen, weil sie betrogen worden waren.
Ich hatte kürzlich mit angehört, wie sie auf der Straße am Handy mit Tom gesprochen hatte. Ich hatte mich ihr von hinten genähert und wollte sie gerade begrüßen, als ich merkte, dass sie am Telefon war: »Ja, Clarissa hat sich mit jemandem in London getroffen, den sie vermutlich irgendwo im Internet kennengelernt hat, nein, sie wusste nichts über ihn, aber was erwartest du, bei dem Beispiel, das du ihnen gegeben hast? Es überrascht mich, dass sie noch nicht schwanger ist!« Es folgte Schweigen, dann: »Ach, verpiss dich doch, Tom!«
Als sie sich zu mir umdrehte, verzerrte ein Ausdruck reinen Hasses ihr Gesicht. »Erbärmlich, der Mann«, sagte sie und steckte ihr Handy weg. »Jetzt, wo es fast zu spät ist, kriegt er auf einmal diese väterlichen Anwandlungen. Es ist übrigens nur Hugo, mit dem Clarissa sich getroffen hat«, fügte sie leise hinzu.
Hugo war der Enkel von Angus und Sylvia, der nette Junge, der manchmal bei uns im Pub aushalf. Ich fragte mich, warum Angie Tom das nicht gesagt hatte. So wollte ich nicht sein. Rachsüchtig. Giftig. Meinen Ex abzocken. So bist du auch nicht, sagte ich zu mir selbst, als Clemmie am Tor die Hand der Erzieherin losließ und auf mich zugelaufen kam. Denn zum einen ist er nicht dein Ex, sondern er ist tot; und zum anderen willst du nicht ihn abzocken, sondern nur verhindern, dass seine Geliebte dich abzockt. Jetzt reiß dich mal zusammen!
Ich umarmte meine Tochter fest. Noch auf dem Heimweg, während Clemmie neben mir plapperte und ein Eierkarton-Krokodil an der Hand baumeln ließ, beschloss ich, dass ich mir einen Job suchen würde, sobald Archie im Kindergarten war. Ich wollte wieder arbeiten. Okay, meine PR-Agentur in London würde mich nach so langer Abwesenheit wohl nicht wieder nehmen, auch wenn man mich damals nur sehr ungern hatte gehen lassen, aber vielleicht hatten sie ein paar freie Aufträge für mich? Sie hatten einmal angerufen und mir etwas angeboten, aber damals war Archie erst ein paar Wochen alt gewesen und Phil so beschäftigt, dass ich abgelehnt hatte. Wie dumm von mir, dachte ich ärgerlich. Jeder wusste doch, dass man einen Fuß in der Tür behalten musste. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass es einfach sein würde, aber ich hatte die positive, optimistische Art meines Vaters geerbt, die mich davon ausgehen ließ, dass alles möglich war. Ich musste mich nur richtig entscheiden.
Aber in einer Hinsicht hatte Angie doch Recht gehabt, dachte ich, während ich stehenblieb, damit Clemmie die Enten im Teich mit Brot füttern konnte, das ich ihr mitgebracht hatte. Kindererziehung war harte Arbeit und das wurde oft übersehen. Ich erinnerte mich an das letzte Weihnachtsfest, als Marjorie und Cecilia für vier Tage zu Besuch gekommen waren und ich, Archie auf dem Arm, Clemmie am Bein, einen Teller nach dem anderen befüllt hatte, während die beiden Frauen keinen Finger gerührt hatten. Sie saßen kerzengerade und steif am Tisch – Cecilia trug die blaue Kaschmirstrickjacke, die ich für sie gekauft hatte – und warteten darauf, dass ich mit den Tellern hereinkam, als wären sie in einem Restaurant. Phil dekantierte derweil die eine Flasche Wein, die wir uns genehmigen durften. Jedes Weihnachtsfest hatten sie in meinem Gästezimmer gewohnt, in der Bettwäsche geschlafen, die ich für sie aufgezogen hatte, den Tee tranken, den ich für sie gemacht hatte, und dabei hatten sie die ganze Zeit von Miss Harding gewusst. Bei den Shillings gab es eine schreckliche Tradition, nach der wir alle am Weihnachtsmorgen auf Marjories Bett saßen, um die Geschenke zu öffnen, während sie dort wie die Queen in ihrem wattierten Bettjäckchen thronte, in meinem Gästezimmer, in meinem Haus. Ein Teil von mir sehnte sich nach Familientraditionen, das will ich gerne zugeben; sehnte sich nach Normalität, einer anderen Kindheit für meine Kinder, als ich selbst sie gehabt hatte. Ich war bereit, eine ganze Menge dafür in Kauf zu nehmen, und hatte das Geschenk-Öffnungs-Ritual willig über mich ergehen lassen. Ich hatte sogar mitgemacht, als Marjorie mit uns gemeinsam ein kleines Gebet sprach, nachdem das letzte Geschenk geöffnet war, hatte den Kopf geneigt und Gott gedankt. Herrgott. Fuck.
Das Ausmaß ihres Verrats drohte plötzlich, mich zu überwältigen. Ich fühlte mich so bloßgestellt. Hatten sie alle insgeheim über mich gelacht? Ich klammerte mich an den Buggy, spürte, wie mein Kopf anfing, sich zu drehen. Atme, befahl ich mir, atme. Vielleicht hatten sie es ja selbst jahrelang gar nicht gewusst. Sam hatte nicht gesagt, wann. Vielleicht hatten sie auch erst im letzten Jahr von Emmas Existenz erfahren? Erst vor ein paar Monaten? Ja, ich zog es vor, das zu glauben, beschloss ich, während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag normalisierte, während Clemmie mir von Damien erzählte, der nämlich eine Warze hatte. Ich zog es vor zu glauben, dass niemand so bösartig sein konnte.
Der Buchclub traf sich an diesem Abend bei Angie, da Angie das schönste Haus hatte. Und Jennie sorgte für das Essen. Oh ja, Essen, nicht bloß Häppchen. Diese Woche wurden die Chips nicht säckeweise herbeigekarrt und hastig auf Schälchen verteilt. Stattdessen türmte sich Frischkäse mit Kaviar auf mundgerechten Blinis, Spargel und gehobelter Parmesan waren in Parmaschinken gewickelt und winzige Ofenkartoffeln mit einem Topping aus saurer Sahne und Schnittlauch versehen worden. Und wir versammelten uns nicht in der Küche, sondern in dem weitläufigen Wohnzimmer. Unter dem marmornen Kaminsims loderte ein kräftiges Feuer und Angies geschmackvolle Einrichtung – schwere Leinenvorhänge, helle Sofas, antike Tischchen, auf denen große Steinlampen standen, herrliche Ölgemälde an den Wänden – war sanft erleuchtet von Duftkerzen überall. Und ich meine wirklich überall. Angies Geschmack, der normalerweise unfehlbar war, ging unweigerlich über Bord, wenn es um Duftkerzen ging. Nichtsdestotrotz war der Effekt wunderschön.
»Vielleicht ein wenig zu sakral«, murmelte Jennie, die heimlich die eine oder andere auspustete, während sie mit einem Teller voller zarter Windbeutel, gefüllt mit Lachs-Mousse, hereingeeilt kam.
Alle hatten sich entsprechend herausgeputzt. Die meisten sahen aus, als wären sie zu einer Cocktailparty eingeladen. Die Männer trugen Jacketts, die Frauen waren frisch frisiert, geschminkt und mit Schmuck behängt und es herrschte allgemein eine gespannte Erwartung. Angus hatte ein Tweed-Jackett an, dazu trug er eine MCC-Krawatte und war in eine Wolke von edelstem Aftershave gehüllt. Er verbreitete jungenhafte Aufregung und lachte schallend über irgendetwas, das Pete gesagt hatte, vor lauter Freude, dass er einmal rausdurfte – zweifellos ausgestattet mit einem Notizblock oder vielleicht sogar einem Aufnahmegerät am Revers. Die heilige Hilda war in weißen Hosen erschienen und einem auffälligen Flatteroberteil, hellblau mit Stickerei um den tiefen Ausschnitt, das vielleicht vor fünf Jahren einmal in Mode gewesen war. Jennie steckte in sehr engen schwarzen Hosen und hatte eine ordentliche Menge roten Lippenstift auf den Zähnen. Nur Peggy war unbeirrbar in Jeans, einem alten Rollkragenpulli und den unvermeidlichen Wildlederstiefeletten. Sie war auch die Einzige, die nicht herumstand und sich angeregt unterhielt. Stattdessen blickte sie ungeduldig auf ihre übergroße Herrenarmbanduhr.
»Kommt jetzt, worauf warten wir noch? Lasst uns anfangen«, sagte sie, wobei sie bereits in dem Stuhlkreis saß, den Angie am anderen Ende des Raumes, neben dem Kamin, aufgestellt hatte.
»Ach, ich glaube, wir sollten ihnen noch ein paar Minuten geben, meinst du nicht auch? Es ist doch gerade erst halb acht.« Angie zupfte an ihren Haaren herum und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, das auf die gekieste Einfahrt hinaus zeigte.
»Warum? Sie können doch später dazustoßen.«
»Aber das würde vielleicht ein bisschen unhöflich wirken, Peggy. Wenn man bedenkt, dass sie zum ersten Mal dabei sind.«
Peggy schnaubte und murmelte etwas, von wegen, die Leute in diesem Dorf kämen wirklich nicht genug raus, wenn sie sich derart von ein paar Amis verrückt machen ließen, als plötzlich Scheinwerfer den Raum erhellten.
»Sie sind da!«, kreischte Angie. Jennie sprang herbei, um ihre Spargelröllchen frisch zu arrangieren. »Und wisst ihr was, ich glaube, Peggy hat recht. Vielleicht würde alles etwas ernsthafter und literarischer wirken, wenn wir schon alle mit unseren Büchern dasäßen. Was meint ihr?«
Daraufhin folgte zustimmendes Gemurmel und alle schnappten sich einen Stuhl, als wäre das hier die Reise nach Jerusalem und die Musik hätte plötzlich aufgehört. Peggy verdrehte die Augen. Als Chad und Hope schließlich zur Haustür hereinkamen, die Angie praktischerweise angelehnt gelassen hatte, saßen wir alle im Kreis, ein wenig erhitzt und mit geröteten Wangen, aber mit hoffentlich intelligenten Mienen. Unsere Bücher waren aufgeschlagen, nur leider auf unterschiedlichen Seiten und das von Angie lag sogar verkehrt herum.
Chad sah genauso gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, eher kräftig, kantiges Gesicht und er trug Chinos und ein Hemd, kein Jackett. Hope, schön, zierlich und dunkel, verströmte lässige Eleganz in einem grauen Kaschmirpullover, Sweathose und Pumps, was unseren High Heels und Krawatten sogleich einen Touch von Vorstadt gab.
»Hope! Chad!« Angie stand leicht benebelt auf und vermittelte ganz den Eindruck, als käme sie aus einer literarischen Trance und wäre völlig in die Geschichte versunken gewesen. »Wie schön, Sie zu sehen. Also, ich weiß ja, dass Sie Jennie und Poppy bereits kennengelernt haben, das hier ist Angus, Peggy, Hilda … die Nachnamen spare ich mir«, säuselte sie und schickte ein perlendes Lachen hinterher. Alle standen auf, einige so eilig, dass ihre Bücher zu Boden fielen, andere etwas lässiger, wie Pete zum Beispiel, und der Leidenschaftliche Luke schüttelte Chads Hand mit einer kleinen Verbeugung.
Chad, der aus der Nähe noch mehr wie ein Adonis aussah, zeigte tadellose Manieren und makellos weiße Zähne. Er lächelte viel und intonierte »Chad Armitage« jedes Mal, wenn er vorgestellt wurde, und machte so seine Runde im Kreis herum und blickte jedem in die Augen. Ihm folge Hope, deren zarte ausgestreckte Hand so zerbrechlich wie der Flügel eines Vogels wirkte. Sie war wirklich unglaublich hübsch, dachte ich und konnte mich gar nicht sattsehen an noch mehr makellosen Zähnen und seidenem Haar. Wir strahlten um die Wette, während sie jeden Einzelnen herzlich begrüßte. Nur Peggys Lächeln war eher amüsiert und sie weigerte sich aufzustehen, während sie ihr höflich die Hand reichte und mir zuflüsterte, dass sie in ihrem Alter nur noch für Mitglieder des Königshauses und über Siebzigjährige aufstand. Und ganz sicher nicht für einen Mann. Was dachte sich Angie eigentlich dabei?
Angie, die einmal Camilla Parker-Bowles getroffen und sich nie mehr richtig davon erholt hatte, führte sich mehr und mehr wie eine Hofdame auf, indem sie die beiden verbliebenen Stühle zurechtrückte, bevor sie beschloss, dass diese zu schäbig für die Armitages waren und Pete und Jennie tauschen ließ, damit Chad und Hope passendere bekamen.
»So!«, sagte Chad, rieb sich die Hände und sah riesig aus auf dem Stuhl, der Angie schließlich gut genug für ihn gewesen war, ein kleines, vergoldetes Etwas, das sie bei Sotheby’s gekauft hatte. Seine Stimme war aufregend transatlantisch. »Und was lest ihr denn? Hope und ich freuen uns übrigens so. Wir haben früher zu Hause an vielen Lesegruppen teilgenommen und es hat uns viel gegeben.«
Angie räusperte sich. »Also, diese Woche lesen wir alle Ghost von Robert Harris. Das ist kein so furchtbar intellektuelles Buch«, fuhr sie gehetzt fort, »und wir werden später dann natürlich anspruchsvollere Sachen lesen, aber es ist wirklich spannende Lektüre mit einer tollen Handlung. Ein gutes Buch für den Einstieg, dachten wir.«
»Oh, okay, gute Idee«, stimmte Chad zu. Er nahm Luke, der neben ihm saß und ihm sein Buch hingehalten hatte, das Buch aus der Hand. »Hey, das klingt doch gut«, sagte er, als er den Klappentext auf der Rückseite las. »Ist mal was anderes als Philip Roth, was, Honey?«
Das galt Hope, die, falls das populäre Genre des Romans sie überrascht hatte, es jedenfalls wunderbar zu verbergen verstand. »Aber ganz sicher. Es sieht wirklich wunderbar aus«, sagte sie, drehte und wendete das Buch in den Händen, als er es an sie weiterreichte. »Und wie fandet ihr es alle?« Sie warf einen Blick in die Runde, lächelte.
»Oh, es ist unglaublich!«, dröhnte Angus. »Absolut erstklassig.«
»Wirklich? Das ist ja toll.« Sie lächelte Angus zu und wartete vielleicht darauf, noch weitere erhellende Bemerkungen von ihm zu hören. Wenn ja, so wurde sie enttäuscht. Er strahlte nur zurück. »Was ist mit Ihnen, Luke?«, wandte sie sich freundlich an ihren Nachbarn, an dessen Namen sie sich erinnern konnte. Luke schoss das Blut den Hals hinauf bis in die Wangen.
»Oh, äh … Ich fand es auch sehr gut.«
»Gut, gut.«
Das brachte uns nicht weiter. Und obwohl Hope noch jemand anderen hätte fragen können, so hätte das sie doch in eine Art Führungsrolle gebracht, deshalb lächelte sie Luke nur aufmunternd zu und hoffte sichtlich auf mehr. Lukes Blicke suchten nach der Tür, als wollte er am liebsten davonlaufen.
In die nun folgende ohrenbetäubende Stille hinein warf Angie mir einen flehenden Blick zu. »Poppy, was ist mit dir?«
Bedauerlicherweise hatte ich das Buch nicht gelesen, hatte in dieser Woche zu viel anderes um die Ohren gehabt. Obwohl ich mir bei näherer Betrachtung ziemlich sicher war, dass ich es tatsächlich vor Jahren schon einmal gelesen haben musste.
»Ich fand es spannend.« Angies Blick verlangte mehr, viel mehr. »Und … besonders hat mir der Teil gefallen, wo der Typ an der Seilbahn hängt, im Schnee«, sagte ich ins Blaue hinein. »Echt aufregend.«
»Das ist in Agenten sterben einsam«, sagte Jennie, ziemlich treulos, wie ich fand.
Alle senkten die Blicke auf ihre Bücher. »Hat sonst noch irgendjemand etwas anzumerken?«, fragte Angie munter. »Wem hat es denn nicht gefallen?«
Jede Menge schockiertes Gemurmel, Kopfschütteln und geschürzte Lippen. Aber keine konkreten Vorschläge.
»Es … hat also allen gefallen.«
Noch mehr begeisterte Zustimmung. Doch dann entstand schon wieder eine Pause. Und man darf nicht vergessen, dass wir alle im Kreis saßen, es war fast ein wenig wie der Morgenkreis in Clemmies Kindergarten. Ein Fehler, fand ich, viel zu einschüchternd. Außerdem machte sich das Fehlen von Simon bemerkbar, der bestimmt einige tiefschürfende, wortgewandte Anmerkungen hätte beitragen können. Angie, Jennie und ich sahen uns verzweifelt an. Wir hatten das nicht richtig zu Ende gedacht. Brauchten wir einen Vorsitz? Falls ja, wer sollte das übernehmen? Waren wir zu viele? Zu wenige? Wie funktionierte so etwas? Was war so ein Buchclub überhaupt genau?
»Hat sich jemand irgendwelche Gedanken über die Charakterisierung der Figuren gemacht?«, schlug Pete vor und ich hätte ihn küssen können. Auch Angie sah aus, als würde sie jeden Augenblick seinen Kopf mit ihren Händen umfassen und ihm einen Schmatz auf die Lippen geben. Natürlich. Charakterisierung. Wir blickten alle verstohlen zu den Amerikanern hin, um zu sehen, ob sie diese kluge Bemerkung registriert hatten. Hope lächelte und nickte. Doch leider hatte sich niemand Gedanken gemacht. Warum hatte es uns allen plötzlich die Sprache verschlagen?
»Ich fand die Charakterisierung gut«, sagte Jennie verzweifelt. »Vor allem die von Adam Lang, dem Helden.«
»Das finde ich auch«, meinte Angus voller Überzeugung. »Die beste Figur in dem ganzen Buch.«
»Und mir hat besonders gefallen, dass er als harter Kerl dargestellt wurde und zugleich als zartfühlend«, warf die heilige Hilda ein. Dankbar wandten wir uns ihr zu. Sie wurde ganz rot im Gesicht, schlug das Buch an einer Stelle auf, an der ein Zettel darin lag. Sie räusperte sich und las: »Mir kam es so vor, als würde er ausdrücklich die Rolle des romantischen Helden im klassischen Sinne erfüllen, ganz wie Troilus in Chaucers Troilus und Criseyde, und damit den Konventionen der höfischen Liebe folgen und jener Literatur, die im Mittelalter diesem Konzept entsprang, das ausdrücklich die erste von mehreren historischen Grundlagen bildet, die einer adäquaten Interpretation der Hauptcharaktere zugrunde liegen, sowie sämtlicher Situationen, in denen Troilus – und damit auch Adam Lang – ausdrücklich aktuell koexistieren können.« Langsam klappte sie ihr Buch zu und blieb mit geschlossenen Augen und geschürzten Lippen sitzen.
»Ja«, sagte Jennie nach einer Weile leise. »Genau. Danke, Hilda.«
»Möchte jemand noch etwas Wein?«, fragte Peggy matt. »Es sei denn, jemand hätte ausdrücklich etwas hinzuzufügen.«
Sie stand auf und alle anderen, mit Ausnahme der Amerikaner, folgten ihrem Beispiel nur allzu gerne und meinten, das wäre eine prima Idee.
»Sollen wir jetzt mal das Essen rumreichen, Angie?«, fragte jemand und tat es dann einfach.
Ein wenig verdattert standen die Armitages auf und gesellten sich zu uns.
»Ein echter Thriller«, versicherte Angus Chad und drückte ihm sein Buch in die Hand. »Hier, nehmen Sie meins. Es wird Ihnen gefallen, Sie werden die ganze Nacht kein Auge zutun.«
»Danke«, sagte Chad. »Obwohl ich doch wohl lieber das Buch für nächste Woche lesen sollte, meinen Sie nicht?«
»Oh, das Buch für nächste Woche«, pflichtete Angie ihm mit Panik in der Stimme bei und sah mich dabei an.
Aber ich war in Gedanken meilenweit weg. Ich dachte daran, wie ich einmal einen Klempner organisiert hatte, der den Boiler von Marjorie und Cecilia reparieren sollte, obwohl sie hundert Kilometer entfernt in Ashford wohnten, aber da Phil der Mann in der Familie war, war er für diesen Boiler zuständig. Diese Rollenspiele waren ihnen wichtig. Männer waren wichtig. Einmal hatte Marjorie mich gefragt: »Wo sind eigentlich deine Männer?« Einer war in seinem Bettchen und sechs Wochen alt. Damals hatte ich mich tagelang darüber amüsieren können. Jetzt nicht mehr.
»Hope?«, wandte Angie sich von mir ab, um sich in ihrer Verzweiflung an unsere neuen Freunde zu wenden. »Hätten Sie einen Vorschlag für nächste Woche? Sie waren in New York doch bestimmt bei Unmengen von solchen Veranstaltungen«, flötete sie.
»Oh Gott, ja, viel zu oft, manchmal zweimal pro Woche«, sagte Hope. »Aber in der Regel haben wir uns immer erst am Ende des Treffens auf das nächste Buch geeinigt.«
»Das hier ist das Ende«, informierte Peggy sie.
»Wirklich?« Hope erblasste. »Sie meinen … Das war’s?« Sie machte eine Handbewegung in Richtung der leeren Stühle.
»Das ist das Ende des Buch-Teils. Nicht das Ende des Abends.«
»Nein, nein, es ist nicht das Ende des literarischen Teils«, betonte Angie aufgeregt. »Wir setzen uns gleich alle wieder hin und – ach, seht nur, da ist ja Simon. Wie wunderbar.«
Jennie errötete leicht, als er in seinem Maßanzug hereinkam, aber ich bemerkte, dass er sie zwar herzlich begrüßte, sich aber nicht länger bei ihr aufhielt, sondern allen anderen die Hand gab und schließlich den Armitages hallo sagte, die er bereits zu kennen schien. Er verwickelte Chad in ein Männergespräch, während wir Frauen dessen Frau umschwärmten.
»Sie müssen uns für absolut hoffnungslos halten, Hope«, meinte Angie. »Dass wir so unorganisiert sind. Aber das wird nächste Woche bestimmt viel besser.«
»Ach, ganz und gar nicht. Ich finde, es läuft doch alles super. Und Chad und ich haben uns einfach so gefreut, dass wir eingeladen wurden. Wir hatten gerade neulich erst darüber gesprochen, dass es wirklich an der Zeit wäre, uns mehr ins Dorf zu integrieren.«
Wir sonnten uns in ihrem süßen Lächeln und hatten das Gefühl, dass sie es wirklich ernst meinte. Wie reizend sie war.
»Vorschläge für nächste Woche wären wirklich sehr willkommen«, erklärte Angie ihr. »Dieser Thriller hat uns allen gut gefallen, aber vielleicht brauchen wir doch etwas Anregenderes, um das Gespräch besser in Gang zu bringen. Irgendwelche Ideen?«
Hope senkte die Stimme. »Wissen Sie, meine literarische Bildung ist äußert lückenhaft«, vertraute sie uns an.
»Ach, meine auch!«, stimmte Jennie ein.
»Da ist so viel, was ich nicht gelesen habe.«
Wir nickten alle eifrig. Das gefiel uns. Das gefiel uns sogar ganz außerordentlich.
»Wollten Sie bei diesem speziellen Genre bleiben?«
Wir sahen sie verständnislos an.
»Ich meine, beim Thriller?«
»Oh nein, wir sind offen für jedes … Genre. Tragödie, Liebesgeschichte. Georgette Heyer könnte ich zum Beispiel jede Woche lesen!«, versicherte Jennie ihr.
»Die kenne ich gar nicht.«
»Was, Sie kennen Georgette Heyer nicht?«, fragte Jennie mit schockierter Miene und griff sich ans Herz. »Oh mein Gott, ich hab sie alle. Ich kann sie Ihnen leihen. Was für ein Genuss. Fangen Sie am besten mit Geliebte Hasardeurin an, danach sind Sie süchtig fürs Leben!«
»Danke, das ist sehr nett. Und in der Zwischenzeit«, wieder senkte Hope die Stimme und wir mussten uns alle zu ihr beugen. Sie war so klein, es sah bestimmt aus, als wollten wir über sie herfallen. »In der Zwischenzeit, wenn Sie wirklich noch Vorschläge brauchen, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass es ein Buch gibt, von dem ich weiß, dass ich es schon in der Schule gelesen haben sollte, aber ich bin irgendwie nie dazu gekommen. Und das würde ich jetzt gerne nachholen.«
»Oh!«, hauchten wir. Davon gab es reichlich. Ganze Bibliotheken voll. »Ja?«
»Sie haben es vermutlich alle gelesen.«
»Neiin, neiin, nicht unbedingt«, flötete Angie.
»Es ist Ulysses.«
»Ulysses!«, fielen Jennie und Angie einstimmig ein. Sie schwankten zurück und warfen einander wilde Blicke zu. Der Titel kam ihnen irgendwie bekannt vor, aber mehr auch nicht.
»Können Sie glauben, dass ich das nie gelesen habe? Bestimmt ist es einer der bedeutendsten Romane der Literaturgeschichte!«
»Also ich habe ihn auch noch nie gelesen!«, kreischte Angie und legte die Hand aufs Herz. »Dafür schäme ich mich seit Jahren.«
»Ich wollte immer«, stimmte Jennie ein. »Bin aber nie dazu gekommen. Wie ist das mit dir, Poppy?«
Aber ich hängte im Geiste gerade Marjories Wäsche auf, weil sie mich darum gebeten hatte. Große weiße Unterhosen, riesige konische BHs, in deren Cups sich ein kleines Hündchen zum Schlafen hätte zusammenrollen können. Ich hängte sie auf meine Wäscheleine, während sie in meinem Wohnzimmer fernsah.
»Poppy?«
»Ja, hab ich doch schon gesagt. Mir hat die Stelle mit der Seilbahn gefallen.«
Jennie blinzelte, drehte mir dann ostentativ den Rücken zu. »Ich finde, das ist eine geniale Idee, Hope. Dann lasst uns doch alle bis nächste Woche diesen Roman lesen, ja?«
»Ich könnte vielleicht ein paar Erläuterungen aus dem Internet ausdrucken und sie verteilen, wenn Sie wollen, um uns bei der Lektüre zu helfen.«
»Ach, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Wie Sie sehen, haben wir diesmal ja auch keine Erläuterungen gebraucht!«, tirilierte Angie. Sie wandte sich um. »Alle mal herhören!« Anmutig klatschte sie in die Partylaune hinein, die sich ganz natürlich ausgebreitet hatte. Angus war schon leicht angesäuselt und lachte laut; Pete hatte die Hand auf Hildas Arm gelegt, während er ihr eine Anekdote erzählte, natürlich nur um einen bestimmten Punkt zu unterstreichen. »Hört mal, ihr alle. Passt mal auf. Hope hat einen phantastischen Vorschlag gemacht für nächste Woche. Wir werden Ulysses lesen, was scheinbar ein ganz tolles Buch ist. Ich bin sicher, es wird euch allen gefallen. Es ist von …?«, damit wandte sich Angie erwartungsvoll an Hope.
Hope machte ein verblüfftes Gesicht, fasste sich aber rasch wieder. »Oh. Okay. James Joyce.«
»James Joyce, und es handelt von …?«, zwitscherte Angie und legte den Kopf schief, diese kleine Zweiernummer gefiel ihr.
»Nun, also es handelt nicht wirklich von etwas, sondern ist eher ein Bewusstseinsstrom. Ein Tag im Leben von jemandem. Ich denke, es hat gar kein zentrales Thema, es ist … Nun, es ist …« Hope runzelte die hübsche Stirn und war für einen Moment hilflos.
»Es ist über den Tod«, warf Peggy leise von ihrem Platz am Fenster aus ein.
Wir alle drehten uns zu ihr um. Ihr Gesicht, das wir im Profil betrachteten, war voller Trauer. Sie blies eine dünne Linie von Zigarettenrauch gegen die Fensterscheibe und die dunklen Felder dahinter.