15
Die heilige Hilda und Pete haben sich gestern anscheinend ziemlich gut verstanden, findest du nicht?«, bemerkte Jennie, die ich auf Händen und Knien in ihrem Vorgarten angetroffen hatte, wo sie begeistert mit einer Hacke herumwerkelte. Normalerweise war sie immer der Meinung gewesen, nur Plastikblumen wären wahrhaft zukunftsweisend, so echt, wie die heutzutage aussahen, und Gartenarbeit hielt sie für nichts anderes als eine Erweiterung der hausfraulichen Fußfesseln, nur dass wir an der frischen Luft damit rasseln durften.
Ich kam gerade mit den Kindern vom Laden und war an ihrem Gartentor stehengeblieben. »Ja, das finde ich auch.«
»Und es macht dir nichts aus?« Sie richtete sich besorgt auf.
»Nicht im Geringsten.«
Und das stimmte wirklich. Okay, vielleicht hatte es mich ein klein wenig gewurmt, dass er sich so darum bemühte, sie zu amüsieren und mit ihr zu flirten, aber mehr auch nicht. »Aber ich treffe mich am Dienstag mit ihm«, versicherte ich ihr. Ich mochte meine Freundinnen nicht gerne enttäuschen.
»Ach, wirklich?« Ihre Miene hellte sich auf, wie ich es mir gedacht hatte. »Das freut mich aber.«
»Du klingst wie eine Mutter, Jennie.«
»Ich bin eine Mutter.«
»Ja, aber nicht meine.« Ich lächelte.
»Okay, zugegeben.« Sie hielt inne. »Dann war das mit Hilda gestern Abend nur aus Höflichkeit?«
»Bestimmt«, pflichtete ich ihr bei, obwohl ich insgeheim dachte, dass das Kichern, das ich beim Weggehen hinter dem Azaleenbusch in Angies Vorgarten gehört hatte, vielleicht eher mehr als reine Höflichkeit gewesen sein könnte.
»Simon war ja in Hochform«, parierte ich leichthin, aber nicht ohne einen gewissen Unterton, um das Punktekonto auszugleichen.
»Ja, das stimmt, nicht wahr?«, sagte sie unbeschwert. »Aber nicht mit mir.«
»Er hat die Armitages aus beruflichen Gründen bespaßt, Jennie«, sagte ich, weil mir meine Stichelei schon wieder leidtat.
»Du musst mich nicht trösten, Poppy. Ich bin verheiratet, vergiss das nicht. Ich habe ja meinen guten alten Dan.« Sie grinste. »Mein Leben ist vollständig. Du bist es, die einen Mann braucht.«
Sie kniete sich wieder hin und fing an zu buddeln, dabei summte sie vor sich hin, was sie sonst nie tat. Vor ein paar Jahren hatten wir alle gesummt; hatten sogar laut gesungen – aber doch jetzt nicht mehr. Und sie strahlte so eine seltsame Zufriedenheit aus, während sie dem Unkraut zu Leibe rückte, und die war an ihr genauso fremd wie die Gartenarbeit. Nachdenklich ging ich mit den Kindern den Weg zu meinem Haus hinauf. Etwas an Jennies und Simons Verhalten war mir schon gestern aufgefallen; dass sie sich so betont wenig miteinander abgaben. Es war, als hätten sie insgeheim eine bestimmte Vorgehensweise vereinbart. Als hätten sie es gar nicht mehr nötig, sich bei einer Party zu treffen und für Gerede zu sorgen. Hatte es da wohl irgendwelche Entscheidungen gegeben, fragte ich mich besorgt. Ich war mir nicht sicher. Über eines jedoch war ich mir ganz bestimmt sicher, nämlich darüber, dass mir Simon, je näher ich ihn kennenlernte, immer sympathischer wurde. Wir hatten uns gestern bei Angie eine Weile unterhalten und er hatte unter anderem gesagt, wie empörend er es finde, dass die Buslinie zum Dorf gefährdet war, denn die wäre ja für ein paar alte Leute die einzige Möglichkeit, in die Stadt zu kommen. Er meinte, das sei das Erste, worum er sich kümmern werde, wenn er gewählt würde, das und die drohende Schließung der Postfiliale, die er ohnehin schon in Angriff genommen hatte, Wahl hin oder her. Er hatte eine Unterschriftenliste in allen betroffenen Ortschaften gestartet. Ja, er war ein anständiger Mann. Und obendrein vernünftig. Was man über Dan nicht immer sagen konnte, dachte ich unbehaglich.
»Wo gehst du überhaupt hin?«, hörte ich ihre Stimme, als ich gerade den Schlüssel ins Schloss steckte.
Ich wandte mich um. »Nach drinnen.«
»Nein, mit Pete?«
»Ins The King’s Head.«
Jennie wirkte erstaunt, dann erfreut. Sie hockte sich ins Gras. »Oh, wie schön!«
Ich selbst war ebenso überrascht gewesen, als Pete am Vormittag angerufen hatte, um den Ort unserer Verabredung zu ändern.
»Ich weiß, dass wir von Mittagessen in London gesprochen hatten, Poppy, aber ich hab noch mal drüber nachgedacht. Wie wäre es stattdessen mit einem Abendessen? Im The King’s Head?«
Das The King’s Head war ein teures Restaurant unten am Fluss, auf der anderen Seite des Tales. Es hatte Londoner Preise und galt als unglaublich angesagt; es könnte sogar sein, dass es den einen oder anderen Michelin-Stern vorzuweisen hatte. Es war wirklich etwas Besonderes und ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Andererseits musste ich so nicht nach London kutschieren und vorgeben, ich hätte mich beim Shopping in der Sloane Street amüsiert und jede Menge Klamotten anprobiert, wozu ich mich in meiner gegenwärtigen Stimmung nicht wirklich in der Lage fühlte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir dieses Date überhaupt zutraute. Pete hatte offenbar mein Zögern gespürt.
»Ich würde mich so freuen, wenn du ja sagst, Poppy. Bitte komm«, drängte er.
Es war lange her, dass jemand um ein Date mit mir gebeten, geschweige denn gedrängt hatte, und das The King’s Head war wirklich verführerisch. Ich war bisher nur einmal dort gewesen, an Phils Geburtstag, und ja, damals waren natürlich auch seine Mutter und Schwester mit dabei gewesen. Also gab ich nach und sagte zu.
Und so kurvte ich denn am Dienstagabend um acht über die Landstraßen, während Angies Tochter Felicity, die in den Schulferien zu Hause war, auf die Kinder aufpasste. Ich hatte mich entschlossen, lieber selbst zu fahren, um nicht von ihm abhängig zu sein. Die Hecken zitterten dunkel im leisen Wind und schüttelten die letzten Regentropfen ab, die Felder dahinter lagen feucht und bereit für den Winter da. Es war ein schöner, sanfter Herbstabend und ich war versucht, ganz hinauf bis zum Aussichtspunkt zu fahren, dort im Wagen zu sitzen und zuzusehen, wie sich die Sterne über dem breiten Talgrund sammelten, es tat so gut, einen Abend ohne die Kinder rauszukommen. Dennoch bog ich pflichtschuldig links ab, wo die Straße durch den Wald nach Cumpton führte, dann noch um die Kurve und unter dem Torbogen des hübschen weißen Gasthauses hindurch, das ganz mit leuchtend rotem wildem Wein bewachsen war, auf den Parkplatz.
Pete war bereits im Restaurant, als ich ankam: Ein gutes Zeichen, fand ich. Ich hatte mich in der letzten Zeit viel auf Zeichen verlassen. Ich ging quer durch den Raum zu seinem Tisch in der Ecke und vergaß nicht, meinen Bauch einzuziehen.
»Poppy!« Er stand auf und hielt mit einer Hand das untere Ende seiner Krawatte fest. »Wie schön. Du siehst hinreißend aus.« Dann ein Küsschen zur Begrüßung.
Hinreißend stimmte übrigens nicht. Ich sah ganz okay aus. Ich hatte mein übliches schwarzes Jigsaw-Kleid an, das schon bessere Tage gesehen hatte, und war leicht geschminkt, aber ich hatte mir keine besondere Mühe gegeben. Nicht, weil ich Pete nicht mochte, sondern weil ich mich so schlapp fühlte.
In den letzten Tagen nach Sams Mitteilung war ich nicht etwa verärgert oder sogar richtig wütend gewesen, sondern war innerlich abgetaucht, Tiefseetauchstation. Gestern hatte ich mich dabei ertappt, wie ich nur automatisch funktionierte, mein Leben gewissermaßen abwickelte. Nachdem ich das ja gerade erst durchgemacht hatte, bekam ich es jetzt mit der Angst. Meine Hand erstarrte auf der Dose mit Baked Beans, die ich gerade hatte öffnen wollen. Schon die zweite Dose an diesem Tag. Ich rannte nach oben, wühlte in meinen Schubladen und fand die alte Packung, die natürlich leer war, weil ich die Pillen im Klo runtergespült hatte. Ich rief die nette Hausärztin an und sie verschrieb mir neue, überrascht, dass ich so schnell aufgehört hatte, sie zu nehmen. Wir redeten noch länger am Telefon und ich versicherte ihr, dass es mir eigentlich wirklich gut ging und ich nur ein kleines Tief hatte. Aber als ich auflegte, fühlte ich mich maßlos erschöpft von der Anstrengung, den Anschein zu erwecken, als ginge es mir gut. Ein paar Minuten blieb ich, meine Arme um die Knie geschlungen, auf der Bettkante sitzen.
Aber nun war ich hier in diesem sanft beleuchteten Restaurant mit dem dicken Teppichboden, rang mir ein Lächeln ab und setzte mich Pete gegenüber, der ganz den Eindruck erweckte, als hätte sich soeben Angelina Jolie zu ihm an den Tisch gesellt.
»Ich dachte, wir fangen mit Champagner an.« Er deutete auf eine Flasche, die bereits in einem Kübel mit Eis neben ihm stand. »Bist du einverstanden?«
»Perfekt«, versicherte ich ihm.
Sogleich kam ein zuvorkommender Sommelier lautlos herangeglitten, um mir einzuschenken, wobei er ein »Madame« hauchte. Das The King’s Head war teuer, aber altmodisch und eine Spur provinziell. Ich fand es eigentlich sehr schön, beschloss ich, als der Kellner davonglitt. Pete hob das Glas.
»Auf einen wunderbaren Abend«, sagte er leise und blickte dabei mit wackelnden Augenbrauen vielsagend über den Rand seines Glases. »So was sagt man doch in einem Schuppen wie diesem, oder?« Pete ließ ungläubig den Blick schweifen über das flackernde Kerzenlicht, die Servietten in Form von Schwänen, die thronähnlichen Stühle, die wohlsituierten Paare, die höflich über ihrem Aperitif plauderten. Er beugte sich zu mir. »Jetzt solltest du mich fragen, ob ich einen guten Tag im Büro hatte«, zischte er, »und dann frage ich dich, wie dein Tag war. Ob du die Bügelwäsche geschafft hast.« Er grinste, stopfte sich ein großes Stück Brötchen in den Mund und kaute genüsslich. »Und wie war er, dein Tag?«, fragte er mit vollem Mund.
Mein Tag war gewesen wie alle meine Tage: Archie weinen hören, aufstehen, ihm die Flasche geben, Clemmie aus meinem Bett holen, wo sie die letzten Nächte geschlafen hatte, sie in den Kindergarten bringen, Archie schlafen legen, Clemmie abholen, mit den Kindern spielen, den Buggy schieben, schieben, schieben, dann ins Bett.
»Ach, weißt du, wie immer ziemlich hektisch. Mit Kindern ist jeder Tag anders und das ist wirklich schön.« Ich versuchte fröhlich zu klingen. »Und bei dir?« Ich wollte den Spieß gerne umdrehen, weil ich keine Lust hatte, über mich zu reden. Eigentlich wollte ich gar nicht viel reden. »Weißt du was, Pete. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt richtig verstanden habe, was du machst. Was genau ist eigentlich ein Re-Investment?«
Er machte ein überraschtes Gesicht. »Oh Gott, das ist totaler Mist. Man leiht sich einen Haufen Kohle, bevor man sie an einen anderen weiterverleiht, und dann leiht man sich noch mehr und leiht sie wieder jemand anderem, und dann kriegt man irgendwann alles wieder und jeder nimmt sich seinen Teil. Ziemlich windig das Ganze, aber was geht mich das an?« Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Nicht das Geringste!«
Ich musste trotz allem lachen. Nie im Leben hätte Phil seinen Job in solch abfälligen Worten geschildert. Nie im Leben hätte er darauf verzichtet, wichtig zu erscheinen. Aber wenn ich jeden Mann, den ich kennenlernte, mit Phil vergleichen wollte, dann würden sie unweigerlich alle gut aussehen, nicht wahr? Ich musste aufhören, ihn als Maßstab zu verwenden.
»Ich bin nur ein kleines Rädchen im Getriebe«, fuhr Pete fort und stopfte Brötchen nach. »Eine kleine Nummer, die von rechts nach links geschoben wird, ganz wie das Geld. Aber das ist so üblich in der Finanzwirtschaft. Wenn man nicht einer von den dicken Fischen ist, dann ist man eben Befehlsempfänger. Natürlich werden, im Falle einer Revolution, Typen wie ich aufsteigen und den Managern zeigen, wo der Hammer hängt.« Er klopfte sich auf die Brust. »Die wahren Arbeiter.«
»Ich dachte, Angie hätte gesagt, du wärst selbständig?«, sagte ich ohne nachzudenken, bevor mir klar wurde, dass sich das anhören musste, als hätten wir über ihn geredet, was wir natürlich auch getan hatten. Ich errötete.
»Hat sie das?« Überrascht blickte er von seinem Brötchen auf. »Ach, na ja, irgendwie hab ich Parkers schon mit ein paar anderen Jungs zusammen gegründet, aber es gehört uns bei weitem nicht. Das sind nur wilde Gerüchte. Nein, wie immer gibt es da eine ganze Riege von Wichtigtuern an der Spitze, typische konservative Typen. Wobei … mein direkter Vorgesetzter, mein persönliches Kreuz, das ich zu tragen habe, der heißt Gary und ist ein echter Emporkömmling, zweiter Bildungsweg und so. Reizender Mann, er hat eine gepunktete Linie quer über den Hals tätowiert, auf der steht: ›cut here‹.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Und ob. Er ist ein kleiner Straßenhändler, der es geschafft hat. Dieses hübsche Tattoo hat er sich an seinem achtzehnten Geburtstag stechen lassen. Bestimmt war er sternhagelvoll und seine Freunde standen kichernd vor der Tür.«
»Mein Gott, ich wette, er bereut es zutiefst.«
»Nur ein bisschen«, sagte Pete fröhlich und schob sich den Rest seines Brötchens in den Mund, bevor er sich über die Grissini hermachte. »Man sieht es eigentlich erst, wenn ihm heiß wird oder er sich aufregt und Schlips und Kragen lockert, bevor es ihm plötzlich einfällt und er alles schleunigst wieder hochzieht. Wir drehen immer die Heizung auf und schalten die Klimaanlage aus. Also der ist mein Gruppenleiter und über ihm ist Rebecca, ein rothaariger Vamp, der in sehr engen Röcken die Gänge entlangschwebt und sich zwischendrin auf die Schreibtischkanten hockt. Wenn sie einen bittet, mit in ihr Büroabteil zu kommen, dann behält man lieber die Hände am Gürtel und seine Sinne bei sich. Man munkelt, dass sie schon am helllichten Tag über die Leute hergefallen sein soll.«
Ich kicherte. »Das hättest du wohl gerne. Das sind doch alles nur Männerphantasien. Ich wette, sie ist durch und durch professionell und ihr habt alle einen Heidenrespekt vor ihr.«
Er grinste. »Ja, vermutlich hast du Recht. Obwohl sie wirklich den neuen Trainee bei der Büroparty geküsst hat. Aber wir brauchen ja auch etwas, über das wir reden können, zwischen den Friseurbesuchen, oder? Etwas, das die Stimmung ein wenig hebt.«
»Teilst du so dein Leben ein? In Friseurbesuche?« Es ging mir schon ein bisschen besser und mir war nicht mehr so kalt, als ich die endlos lange Speisekarte studierte, die man mir inzwischen gereicht hatte.
»Na ja, das ist doch kein schlechtes Etappenziel, oder? Und es ist erstaunlich, dass eigentlich in den sechs Wochen dazwischen kaum etwas passiert. Findest du es nicht auch wunderbar, dass man seinem Friseur einfach alles erzählen kann, ohne dass es irgendwo anders landet? Giuseppe – so heißt meiner – hat mich neulich gefragt, wie es bei mir so läuft, und ich habe ihm erzählt, dass ich noch vor dem Mittagessen eine Million am Markt verdient hatte. Er war ungeheuer beeindruckt. Wir hatten ein nettes Schwätzchen darüber, was ich doch für ein toller Hecht bin. Und er hatte alles bestimmt schon wieder vergessen, sobald der nächste Kunde dran war, aber ich bin ins Büro zurückgegangen und hab gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd und kam mir vor, als hätte ich wirklich eine Million verdient. So muss man es machen, ist allemal besser als der ganze Therapie-Scheiß, was?« Er nahm einen großen Schluck Champagner.
Ich lachte, seine Offenheit gefiel mir. »Vielleicht verdienst du wirklich irgendwann eine Million? Dann kannst du deine eigene Firma gründen, ohne Gary und Rebecca.«
»Genau das würde ich liebend gerne tun«, sagte er wehmütig. »Allerdings wird es heutzutage immer schwieriger. Es ist nicht mehr wie in den Achtzigern, wo man in der Kaffeepause eine Idee notierte und bis zum Wochenende schon eine Villa in Gloucestershire hatte – samt Swimmingpool, Hubschrauberlandeplatz und ähnlicher Spielereien. Die Banken sind jetzt nicht mehr so entgegenkommend. Damals konnte man noch rumlabern, bis alles klang wie eine neue Geschäftsidee, aber inzwischen haben sie dazugelernt und sind nicht mehr so schnell dabei, die Kohle rüberzuschieben. Man braucht auch ein bisschen Eigenkapital. Aber genug von mir und meinem schäbigen kleinen Leben. Was ist mit dir, Poppy? Wie geht es dir? Das ist übrigens eine hübsche Kette, die du da trägst, da spiegelt sich das Licht so schön drin.«
Amüsiert berührte ich den türkisfarbenen Anhänger von Accessorize, den ich um den Hals trug. Ich fand Petes offensichtliche Versuche, mir Honig ums Maul zu schmieren, einfach nur nett. Jeden Augenblick würde er auf die Knie sinken und in Love Me Tender ausbrechen wie mein Dad.
»Danke, die hab ich extra gekauft«, sagte ich. »Ich dachte, sie passt genau zu meinen Augen.«
»Das würde sie, wenn die blau wären. Guter Versuch, Poppy, aber ich habe bereits bemerkt, dass du braune Augen hast.«
Ich lachte. »Kleine Kontrolle. Wollte vermeiden, dass du mir leere Komplimente machst.«
»Leere Komplimente? Ich?« Er riss die Augen in gespieltem Entsetzen auf. »Wage nicht einmal, das zu denken.« Fröhlich füllte er unsere Gläser nach. »Und?«, fragte er.
»Und was?« Ich studierte die Speisekarte.
»Ich hatte gefragt, wie es dir geht. Es ist nur …«, er zögerte. »Neulich beim Buchclub schienst du nicht ganz bei dir zu sein.« Er klang besorgt. Der Wechsel des Tonfalls ließ mich aufblicken.
»Wirklich?«
»Ja, du, du warst … irgendwie abwesend.« Er lächelte. »Das ging so weit, dass ich zum Ausgleich der heiligen Hilda schöne Augen machen musste. Vielleicht habe ich es damit übertrieben. Falls ja, dann tut es mir leid.«
Ich starrte ihn überrascht an. Ja, es stimmte. Ich war ganz woanders gewesen, aber mir war nicht klar gewesen, dass man das gemerkt hatte. Und in der Tat erinnerte ich mich jetzt daran, dass Pete mich an dem Abend besonders überschwänglich begrüßt hatte: quer durch den Raum auf mich zugelaufen war und mich mit einem Wortschwall bedacht hatte. Aber ich hatte in dem Augenblick an Marjorie und Cecilia gedacht und dem, was er sagte, nicht folgen können. Während er angeregt plauderte, hatte ich an ihm vorbeigeschaut, zu Angies Pferden auf die Weide hinaus, und dabei gedacht, was Pferde doch für ein schönes Leben führten: keine toten Ehemänner, keine Schwiegerfamilie, nur Freunde, die zusammen dösten, Nase an Schwanz. Möglicherweise hatte ich sogar vergessen, ihm zu antworten. Hatte er ein enttäuschtes Gesicht gemacht? Hatte er ein wenig beleidigt gewirkt? Und dann später, als wir gingen, hatte er versucht, mich eifersüchtig zu machen? Vielleicht hatte er absichtlich mit Hilda im Garten geflirtet. Plötzlich wurde mir klar, dass dies hier ein ziemlich offenes Eingeständnis war und eine ehrliche Entschuldigung noch dazu. Außerdem erinnerte ich mich, wie schwer es mir an diesem Morgen gefallen war aufzustehen. Clemmie, die mich an der Schulter rüttelte, als Archie weinte, und die sagte, es sei Zeit für den Kindergarten. Schnell hatte ich meine Tablette geschluckt, hätte fast zwei genommen. Ich senkte die Speisekarte. Musterte mein Gegenüber. Sein Blick über den Tisch war warmherzig und besorgt.
»Tut mir leid, Pete. Mir ging während des Buchclubs so viel durch den Kopf.«
»Willst du darüber reden?«
Ich überlegte. Schüttelte dann bedrückt den Kopf. »Nein, lieber nicht.« Wie viele Leute sollten noch erfahren, dass die Familie meines verstorbenen Mannes mit seiner Geliebten unter einer Decke gesteckt hatte? Niemand mehr, fand ich. Und das hier sollte doch ein angenehmer Abend werden.
Aber es half, dass dieses Thema vom Tisch war, und wir brachten die ersten beiden Gänge ohne weitere Hürden hinter uns, auch ohne schmachtende Blicke über die Seezunge hinweg und ohne neue Bemerkungen über meinen Schmuck. Nur einfach allgemeines, freundliches Geplänkel.
»Du solltest eigentlich gar nicht wissen, dass wir sie die heilige Hilda nennen«, schalt ich ihn, während ich mich über eine himmlische Schokoladenmousse hermachte. »Das ist ein Geheimnis unter Freundinnen.«
»Na, dann ist es jedenfalls kein besonders gut gehütetes Geheimnis. Und ich habe es direkt von einer der Freundinnen erfahren. Angie hat es mir erzählt. Ich finde genial, dass sie so unglaublich indiskret ist«, grinste er.
»Peggy nennt sie des Dorfes letzte Jungfrau.« Mir war offensichtlich der Wein zu Kopfe gestiegen.
»Wen, Angie?« Er heuchelte Verwunderung.
»Nein, du Dummkopf, Hilda.« Ich lachte.
»Ah, ja, verstehe. Das hat Angie mir auch erzählt. Scheinbar bewahrt sie sich für ihren Ehemann auf, das ist doch süß, oder?«, sagte er scheinheilig. »Ganz 21. Jahrhundert und zugleich eine Herausforderung.«
Ich prustete los, etwas, das ich schon lange nicht mehr gemacht hatte. Jedenfalls nicht in der Intensität. »Und hast du Lust, die Herausforderung anzunehmen?«, fragte ich.
»Oh Gott, nein.« Er schauderte. »Die ist zu blaustrümpfig für mich, wobei ihre Oberweite natürlich beachtlich ist«, fügte er nachdenklich und mit gespieltem Bedauern hinzu.
Ich lachte. Während ich das letzte bisschen meiner Mousse genoss und den Löffel ableckte, kam mir ein Gedanke. »Wie bist du eigentlich zum Orgelspielen gekommen, Pete?«
Er zwinkerte mir vielsagend über den Tisch hinweg zu. »Du meinst, wie kommt ein nichtsnutziger Kerl wie ich dazu, ein so sensibles Musikinstrument zu spielen? Die Tasten zu streicheln?«
»Na ja …« Ich errötete.
Er grinste. »Ist schon okay. Da wundern sich eigentlich alle. Mein Dad war Konzertpianist. Er hat es mir beigebracht.«
»Oh! Wie faszinierend.«
»Ja, faszinierend, aber nicht sehr lukrativ. Nur die wirklich tollen Leute schaffen es bis in die großen Konzertsäle. Mein Dad hat es nur bis zu den kleinen Stadthallen gebracht. Als es richtig eng wurde, hat er angefangen, in Hotelfoyers zu spielen. Meistens in Südfrankreich.«
»Wo deine Mutter lebt«, sagte ich überrascht. »Hast du nicht gesagt, sie würde in einem Hotel in Monte Carlo leben?«
»Äh, ja, obwohl sie da sozusagen auch arbeitet. Als Dad gestorben ist, hat sie einen Job an der Rezeption angenommen. Und ist dort geblieben.«
»Verstehe.«
Während ich meinen Kaffee trank, wurde mir klar, dass Pete in rosaroten Farben schilderte, was bestimmt nicht der einfachste Lebensweg gewesen war. Ich fragte mich, ob die Schwester bei der Vogue auch nur an der Rezeption war. Aber ich beschloss, dass ich es eigentlich ganz sympathisch fand, dass er so aufschnitt, dass er sein Leben nicht als einzige Pechsträhne darstellte und damit als Entschuldigung für eigenes Versagen.
Als wir uns auf dem Parkplatz gute Nacht sagten, gab es nur einen keuschen Kuss auf die Wange, kein Zögern und keine Erwartung – obwohl er den Wunsch äußerte, mich in ein paar Tagen wiederzusehen.
»Würdest du wieder mit mir essen gehen, Poppy? Oder vielleicht könnten wir auch zusammen ins Kino gehen. Avatar soll gut sein.«
Ich hatte den Eindruck, dass zweimal innerhalb einer Woche schon als der Anfang einer Beziehung gewertet werden könnte. Wollte ich das? Ich meine, gelegentlich mal zusammen essen zu gehen, war nett, aber wollte ich wirklich eine Beziehung mit Pete anfangen? Auch wenn es Spaß machte, mit ihm zusammen zu sein.
»Das klingt verlockend, aber kann ich dich deswegen noch mal anrufen? Ich hab meinen Kalender nicht dabei und ich muss ja einen Babysitter organisieren.«
»Oder ich könnte dich anrufen?«
»Könntest du«, zögerte ich, »aber ich bin meistens mit den Kindern beschäftigt. Ich rufe dich an.«
Und dabei beließen wir es. Er marschierte zu seinem Wagen, einem ziemlich schicken BMW, wie ich bemerkte, und warf mir ein letztes Lächeln über die Schulter hinweg zu, bevor ich zu meinem marschierte.
Interessant, dachte ich, während ich nach Hause fuhr; dieser unverhohlene Versuch, mich nicht zu verführen, sondern zu umwerben. Das war ziemlich erfrischend. Es hatte den Anschein, als sollte alles ganz regelkonform ablaufen. Essen gehen, ein züchtiger Kuss, dann noch ein Date, dann vielleicht Kaffee, wieder ein Date und erst dann eventuell ein bisschen Gefummel auf dem Sofa. Und er hatte mich zum Lachen gebracht. Obwohl ich nicht in der Stimmung gewesen war, hatte er mich aus der Reserve gelockt. Noch dazu hatte es dieses ziemlich süße Eingeständnis während des Essens gegeben, das mich ganz wehrlos gemacht hatte. Warum hatte ich mich also nicht auf ein erneutes Treffen eingelassen? Warum hatte ich Zweifel gehabt?
Weil du zu viel nachdenkst, musste ich mir wehmütig eingestehen, als ich wenige Minuten später vor meinem Haus anhielt. Ich blieb einen Augenblick dort sitzen. Jennie wäre auch dieser Meinung. Jennie, die enttäuscht sein würde von mir, dachte ich mit einem schuldbewussten Blick auf ihre Tür. Dass ich nicht gleich zugegriffen hatte, ihm nicht einmal eine Chance gab.
»Gib ihm doch wenigstens eine Chance!« Ich konnte sie geradezu durch unsere Verbindungswand hindurch kreischen hören. »Du musst ihn doch nicht gleich heiraten!«
Aber ich kannte mich selbst zu gut; wusste, dass ich den Eifer von anderen sehr anziehend fand, auch wenn es nicht mein eigener war. Ich wusste, dass ich zur Schau gestellter Verletzlichkeit und kleinen Geständnissen nur schwer widerstehen konnte, weswegen Selbstschutz das Beste war, was ich für mich tun konnte. Um zu verhindern, dass ich einer Charme-Offensive erlag, würde ich mich ihr erst gar nicht aussetzen. So einfach war das.
Ich hatte aussteigen wollen, doch nun sank ich in meinen Sitz zurück und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen in die Nacht hinaus.
Selbstschutz? War das dasselbe, wie die Wahrheit nicht sehen zu wollen? Hatte es Augenblicke in meiner Ehe gegeben, in denen ich absichtlich die Augen verschlossen hatte? Das war eine Frage, die ich mir in der letzten Zeit häufiger gestellt hatte. Und die Antwort war immer nein gewesen. Ich hatte nie auch nur die leiseste Ahnung von der Affäre meines Mannes gehabt. Diese Emma Harding war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Und doch hatte sie so eine große Rolle in meinem Leben gespielt. War seit vier Jahren da gewesen. Ich blinzelte in die Nacht hinaus.
Plötzlich steckte ich einer spontanen Eingebung folgend den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Wagen an. Ohne mir Zeit zum Nachdenken zu lassen, fuhr ich wieder die Straße hinauf. Es war noch früh. Zehn nach elf. Und keine Kinder waren mir im Weg. Ich hatte es vor ein paar Tagen schon einmal versucht, aber Clemmie hatte sich beschwert und wollte wissen, warum wir auf der Straße vor dem Haus von jemandem standen, und Archie hatte angefangen zu quengeln, und so war ich mit klopfendem Herzen wieder davongefahren. Mein Herz klopfte auch jetzt wie wild, stellte ich fest, und ich wusste, ich sollte lieber umkehren, hier in dieser Parkbucht, und nach Hause fahren, aber fast ohne es zu wollen, fuhr ich weiter, durch das nächste Dorf hindurch, dann den Hügel hinauf. Zügig fuhr ich durch den Kern des Dorfes mit der Gemeindewiese, die immer schmaler wurde, bis sie nur noch ein Grünstreifen war und die Häuser dahinter näher an der Straße standen. Eines davon war ihres.
Ich hatte es vor einiger Zeit gefunden, ein winziges Bruchsteinhäuschen, das scheinbar auf dem Grundstück eines größeren Hauses stand: Meadow Bank Cottage und Meadow Bank House. Es schien aber seinen eigenen von einer Mauer umschlossenen Garten zu haben, vielleicht war es also doch ganz eigenständig. Aber ich war ja ohnehin nicht an der Anlage interessiert, sondern an der Frau darin. Warum? Warum saß ich hier mitten in der Nacht, nach meinem Date, mit laufendem Motor und rasendem Herzen, am Lenkrad zusammengekauert wie ein Privatdetektiv? Weil sie vermutlich auch vor meinem Haus gesessen hatte, überlegte ich. Und ich dachte, wenn ich sie besser kennen würde, würde ich sie auch ein wenig besser verstehen. Aber Phil war tot. Eigentlich sollte ich doch nach vorne schauen. Aber das würde mir nicht gelingen, bevor ich nicht endlich zur Ruhe gekommen war, dachte ich. Erst dann würde ich wieder zu einem Date gehen können, ohne so ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Ich wollte in der Lage sein, mir mit der Hand vor die Stirn zu schlagen und zu sagen: Ah, jetzt verstehe ich. Jetzt kapiere ich es. Jetzt kann ich diese Pillen wegschmeißen und mich wieder ins Leben stürzen. Ich wollte die letzten vier Jahre begreifen, und da Phil mir in dieser Hinsicht nichts mehr nützte, blieb nur noch Emma Harding übrig.
Das ist doch ausgemachter Quatsch, dachte ich, nachdem ich bereits zehn Minuten auf der anderen Straßenseite in meinem Auto gesessen und mit weit aufgerissenen Kaninchenaugen das kleine dunkle Haus beobachtet hatte. Was tust du hier eigentlich, Poppy? Geh nach Hause und lass die Vergangenheit hinter dir. Sie spielt doch keine Rolle mehr für dich, mach, dass du fortkommst. Doch ich blieb sitzen. Es half irgendwie, dass das Haus leer und verlassen aussah. Vielleicht saß sie in der Dunkelheit und war traurig, so wie ich manchmal? Vielleicht war sie nicht in der Lage, das Feuer im Kamin zu entzünden, die Lichter anzuschalten. Aber natürlich war es weit wahrscheinlicher, dass sie nicht zu Hause war. Wehmütig lächelte ich in der Dunkelheit in mich hinein. Sieh dich doch an, Poppy. Sieh dir an, was aus dir geworden ist. Ein Stalker. Und dabei hast du noch nicht einmal einen Mann im Visier.
Nachdem ich mich innerlich wachgerüttelt hatte, drehte ich den Zündschlüssel und fuhr mit Schwung rückwärts in eine Einfahrt. Als ich gerade nach links in die Straße einbiegen wollte, sauste ein schwarzer Mini an mir vorbei in die kleine gekieste Auffahrt gegenüber und verschwand auf der Rückseite des Bruchsteinhäuschens. Es geschah alles sehr schnell, aber nicht so schnell, dass ich die blonde Fahrerin nicht erkennen und einen kurzen Blick auf einen männlichen Passagier neben ihr hätte werfen können. Wie erstarrt saß ich da. Schaltete den Motor wieder aus, rutschte ein Stück in meinem Sitz nach unten und zog mir den Schal übers Gesicht. Ein paar Sekunden später ging das Licht in dem zur Straße gelegenen Wohnzimmer des Häuschens an. Emma kam quer durch den Raum auf mich zu, lachend, den Kopf in den Nacken geworfen. Sie trug eine enge rosa Strickjacke und jede Menge Silberketten um den Hals, weiße Jeans, die ihre Figur zur Geltung brachten, und ihr Gesicht strahlte, die blonden Haar fielen ihr über ein Auge. Mit der einen Hand griff sie nach der Zugstange des Vorhangs und schob mit der anderen in einer routinierten Geste den Pony zurück, bevor sie sich umwandte, zweifellos zu dem Mann, der ihr ins Zimmer gefolgt war. Dann wurden die Vorhänge zugezogen.
Ich saß da, wie vom Donner gerührt. Atmete kaum. Ich versuchte, meine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, die sich wie ein Kaleidoskop drehten. Da war also ein Mann. Und es konnte keinen Zweifel geben, welcher Art Emmas Verhältnis zu ihm war; die Körpersprache, die engen Klamotten, das verführerische Lachen waren nicht zu übersehen. Und sie sah wirklich gut aus, was mich überraschte. Sie hatte sich also zusammengerissen. Hatte nach vorne geschaut. War einfach so über Phil hinweggegangen, über sein Grab. Warum überraschte mich das? Weil ich dachte, dass wahre Liebe ein wenig länger halten würde? Weil Phil kaum unter der Erde war? Aber vielleicht war es für sie ja gar nicht die wahre Liebe gewesen. Vielleicht war sie nicht verrückt nach ihm gewesen. Aber falls nicht, warum dann das Ganze? Vermutlich war es ihr um Sex gegangen. Es war eine Affäre gewesen, über vier Jahre. Ich holte tief Luft. Atmete zitternd aus. Du musst wirklich öfter mal raus, Poppy. Und werd endlich erwachsen.
Langsam fuhr ich nach Hause und versuchte dabei, meine Gefühle zu sortieren, bevor ich Smalltalk mit meiner Babysitterin machen musste. Das war doch eigentlich ein Tiefschlag für Phil, oder etwa nicht? Emma schlug sich nicht gerade auf die Brust und riss sich die Haare aus. Das haben Sie jetzt davon, Mr Shilling, keiner betrauert Sie. Ich warf einen schuldbewussten Blick gen Himmel und kam mir schlecht vor. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Das war noch so ein Gefühl, das mich in letzter Zeit häufig überfallen hatte. Aber warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Emma sollte diejenige sein, deren Leben jetzt in Trümmern lag, doch sie war mir weit voraus. Ihr Leben war nicht stehengeblieben. Oh nein, nur das Geld, bitte, dachte ich plötzlich. Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie sie die Hand ausstreckte und ungeduldig mit den Fingern trommelte, die Nägel frisch lackiert. Einfach her damit. Ich umklammerte das Lenkrad. Das werden wir ja sehen.
Während ich nun zu meinem Haus hinauffuhr, erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht im Spiegel, einen Blick auf meinen eigenen Blick, um genau zu sein. Aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an meine Mutter. Oder an die Frau, die ich hätte sein können, wenn meine Mutter nicht gestorben wäre? Wer immer es war, diese Frau wirkte härter als ich, hatte Entschiedenheit im Blick. Sie schien zu sagen: Jetzt reiß dich mal zusammen, Poppylein, was du brauchst, sind innere Stärke und ein bisschen Rückgrat!
Als ich die Küche betrat, legte Felicity eilig das Telefon aus der Hand. Sie errötete.
»Oh, ich hoffe, du hast nichts dagegen, Poppy. Ich hatte hier kein Netz mit meinem Handy.«
»Überhaupt nicht«, sagte ich und wickelte mir den Schal vom Hals und dachte, dass ich Angies Tochter immer am Telefon überraschte, wenn sie für mich babysittete, etwas, das bei Frankie nie vorkam.
»Wow, deine Tasche ist ja cool, die gefällt mir«, säuselte die Fünfzehnjährige selbstsicher. »Ist die neu?«
»Nein, die hab ich schon seit Jahren, aber danke.«
Komplimente als Wiedergutmachung, dachte ich ungerührt, während ich meinen Mantel auszog. Sie warf die langen hellbraunen Haare zurück, während sie durch den Raum ging, um ihre Tasche vom Tisch zu holen, genau wie Emma durch den Raum zum Fenster gegangen war und ihren Pony nach hinten gestrichen hatte. Manche Mädels wussten einfach, wo’s langging. Sie hatten das richtige savoirefaire, dazu früh antrainierte gute Manieren. Wollte ich, dass Clemmie mit juwelengeschmückter Hand ihre Haare zurückstrich? Ich war mir nicht sicher. Nachdenklich folgte ich Felicity durch den Flur zur Tür.
»Hast du dich mal mit Frankie getroffen, seit du zurück bist?«, fragte ich. Die Mädchen waren zusammen auf die Grundschule im Dorf gegangen.
»Frankie?« Sie wandte sich an der Tür um. »Äh, nein. Ich muss mich mal bei ihr melden.«
Irgendwie wusste ich, dass sie das nicht tun würde. Seitdem sie auf das teure Internat ging, unterschied sich Felicitys soziales Umfeld sehr von Frankies. Das konnte man ihr kaum vorwerfen, schade war es trotzdem, wo sie doch eng befreundet gewesen waren.
»Aber es ist schön, dass sie jetzt einen Freund hat, nicht wahr?«, sagte sie.
»Frankie? Das wusste ich gar nicht.«
»Oh. Na ja, vielleicht hab ich das auch missverstanden. Sag vielleicht lieber nichts zu Jennie. Nur für den Fall.«
Für welchen Fall, dachte ich, obwohl ich es ihr versprach, während ich die Tür hinter ihr zumachte. Falls es diesen Freund doch nicht gab? Oder falls er nicht in Ordnung war? Vermutlich Letzteres. Ich hoffte sehr, dass Frankie das mit dem Anbandeln mit Lehrern in der Schule nicht ernst gemeint hatte. Mach dich nicht lächerlich, Poppy! Dennoch konnte ich den Gedanken nicht verdrängen: Wenn es nur ein sechzehnjähriger Junge war, warum sollte sie es dann geheim halten? Warum war Jennie nicht auf dem Laufenden? Ich ging zurück in die Küche, um das Licht auszumachen. Vielleicht war sie es ja und wollte es mir nur nicht erzählen. In letzter Zeit war Jennie etwas zurückhaltender gewesen und ich respektierte das. Wo sollte es auch hinführen, wenn man alles, was man im Kopf und im Herzen hatte, offenlegen würde. Man stelle sich die schockierten Gesichter vor.
Am folgenden Morgen auf dem Weg zum Dorfladen mit den Kindern fühlte ich mich schon munterer. Auf einer Skala von eins bis zehn – was immer meine Richtschnur war – lag ich eher bei fünf als bei vier. Es war ein schöner Morgen mit blauem Himmel, und da es schon spät im Jahr war, fielen lange dramatische Schatten auf meinen Weg, während ich über den Dorfanger ging. Es waren in erster Linie die Schatten von Bäumen, aber dann auch der Schatten eines Mannes direkt hinter mir. Ich warf einen Blick über die Schulter. Es war Schmuddelbob, der, ganz untypisch für ihn, ein Tweed-Jackett und eine Krawatte trug und mir zu folgen schien. Ich wandte mich um, blieb stehen.
»Hi, Bob.«
Wie seltsam. Er trug tatsächlich eine Blume im Knopfloch, eine kleine weiße Nelke an seinem Revers. Er strahlte mich an. Holte mich ein.
»Hallo, Poppy. Wie geht’s dir?«
»Danke, gut. Du siehst aber schick aus heute.«
»Ach, du weißt schon. Dachte, es wäre endlich mal an der Zeit.«
Wofür wohl, überlegte ich, während wir gemeinsam in Richtung Dorfladen gingen.
»Äh, Poppy. Ich hatte mich gefragt, ob du wohl Lust hättest, nächste Woche mal mit mir essen zu gehen.«
Ich starrte ihn an. Wollte meinen Ohren nicht trauen. Schmuddelbob? Schlips und Kragen? Vor dem Dorfladen?
»Wie bitte?«
»Ja, ich dachte, wir könnten vielleicht ins King’s Head gehen. Wie wäre es mit Samstag?«
Ich blinzelte ein paarmal, fand irgendwann die Sprache wieder.
»Das ist total nett von dir, Bob, aber ich fürchte, ich habe Samstag schon was vor.«
»Sonntag?«
Sonntag war üblicherweise kein Tag, der sich für ein Date anbot, aber Bob war so ohne jede soziale Orientierung, dass er das nicht wissen konnte. Ich ahnte schon, dass er im Falle meiner Absage »Montag?« sagen würde und so weiter – bis Weihnachten.
»Ich fürchte, ich bin noch nicht so weit, dass ich ausgehen möchte«, sagte ich freundlich.
»Wirklich? Du siehst aber gut aus, kämmst dir wieder die Haare und so.«
Ich schluckte. »Nein, ich meinte das nicht aufs Aussehen bezogen. Ich meinte, weil mein Mann gerade gestorben ist.«
Was natürlich unaufrichtig war. Und genau das hatte Bob blitzschnell erkannt.
»Wie kommt es dann, dass du gestern Abend so weit warst?«
Keine der üblichen Floskeln und Konventionen für eine freundliche Absage würden hier etwas nützen; es war, als hätte ich es mit einem Kind zu tun. Aus den Augenwinkeln hatte ich die übliche Schar von Müttern bemerkt, die mit Babys und Kinderwagen vor dem Dorfladen verweilten, nachdem sie Milch und die Zeitung gekauft hatten. Sie hatten in ihrem Schwätzchen innegehalten und lauschten jetzt ebenso aufmerksam wie amüsiert.
»Nun ja, ich denke, genau dabei ist mir klargeworden, dass ich noch nicht ganz so weit bin«, sagte ich schließlich. Und seltsamerweise lag darin sogar eine Spur von Wahrheit. »Das habe ich vor gestern Abend noch nicht gewusst.« Das war natürlich verdammt ungalant gegenüber Pete, aber ich hatte es so leise gesagt, dass die anderen Mütter es nicht hatten hören können. Und da Bob, genau wie ein Kind, nur die Wahrheit begreifen konnte und keine verschlüsselten Feinheiten, war das der einzig erfolgversprechende Weg. Seine Miene hellte sich auf.
»Du fandest es nicht schön.«
»Ich würde nicht sagen, dass ich es nicht schön fand.« Mir war heiß. Hoffentlich würde mich mein Deo nicht im Stich lassen. »Das würde ich nicht sagen, aber es hat sich irgendwie komisch angefühlt.« Das stimmte wieder.
»Mit mir wäre das anders«, strahlte Bob.
Ich wünschte, mein eigener sozialer Code hätte es mir erlaubt, ihn am Revers zu packen und zu brüllen: »Sei nicht albern, Bob, hör mit dem Unsinn auf, und zwar sofort!« Stattdessen blieb mir nichts anderes übrig, als den Kopf zu neigen, als wollte ich eingestehen, das sei tatsächlich eine Möglichkeit. Ich stellte mir die Szene vor: Ich und Bob im King’s Head, vielleicht würde er sogar seine zwölf Hunde mitbringen, und in der darauffolgenden Woche würden, wenn ich dem nicht Einhalt gebot, Frank oder Dickie Frowbisher folgen und danach all die anderen schrulligen Typen aus unserer Gemeinde.
»Tut mir leid«, sagte ich, für meine Verhältnisse recht bestimmt, »aber ich schaffe es einfach nicht. Wiedersehen, Bob.«
Und damit schob ich meinen Buggy mitsamt Kleinkind an ihm vorbei, ging in den Laden und hatte dabei das sichere Gefühl, dass die Blicke des gesamten Dorfes auf mir ruhten.