20
Als ich kam, saß mein Vater vor einer alten Elvis-DVD zusammengesunken auf seinem Sofa, bei dem man wegen der Sprungfedern genau wissen musste, wo man sich hinsetzen konnte. Ein paar Zwerghühner schienen ebenfalls zuzusehen von ihrem Platz oben auf dem Klavier aus, wo sie manchmal zwischen vergilbten Ausgaben der Racing Times brüteten. Die beiden Hunde lagen quer auf seinem Schoß. Dad spielte Luftgitarre, zupfte andächtig imaginäre Saiten und sang dabei leise vor sich hin. Als ich den Raum betrat, wandte er sich um und ich sah, dass seine wettergegerbten Wangen feucht von Tränen waren.
»Das ist die Stelle, wo sie ihm sagt, dass sie ihn nicht heiraten kann, weil sie an dieser schrecklichen Krankheit sterben wird, und er singt This is My Heaven. Gleich kommen die Hula-Mädchen.«
»Aha.«
Lächelnd ließ ich mich neben ihn fallen und schob Mitch ein Stück zur Seite. Ich war noch im Mantel, aber im Haus meines Vaters war es immer kalt; er trug seinen ebenfalls. Ich hatte den Film schon Millionen Male gesehen, war damit aufgewachsen wie mit all den anderen Schwarz-Weiß-Filmen in Dads Sammlung, aber er hatte noch immer einen gewissen Reiz und es dauerte nicht lange, bis auch meine Augen feucht wurden. Am Ende schunkelten wir sogar ein bisschen und winkten zusammen mit den Hula-Mädchen. Während mir beim Abspann noch immer die Tränen über die Wangen liefen, überlegte ich, ob sie Elvis und seiner verlorenen Liebe galten oder dem Gefühl, das mir dieses Haus immer vermittelte. Die Versuchung, den Daumen in den Mund zu stecken und für immer hierzubleiben und mit Dad alte Filme anzusehen, während das Foto meiner Mutter von der überfüllten Anrichte auf uns herunterlächelte. Hier in diesem Chaos aus Büchern, Zaumzeug, Flaschen, Zeitungen fühlte ich mich geborgen. Die meisten würden bestimmt zusehen, dass sie wegkamen von einem Ort wie diesem; warum also verspürte ich noch immer diesen unglaublichen Sog in mir?
»Okay. Die Party ist vorbei.« Das war Dads übliche Art, eine Decke über alle emotionalen Dinge zu breiten. Er schniefte gewaltig und erhob sich, bevor er ein rot-weiß getupftes Taschentuch aus der Hosentasche zog und sich kräftig schnäuzte. »Aber von Zeit zu Zeit ist es mal wichtig, dass man alles rauslässt«, bemerkte er rau.
Es war wichtig, dass man sich mal richtig ausheulte, wollte er damit eigentlich sagen. »Wo sind die Kinder?«, fragte er und stopfte das Taschentuch zurück in die Tasche, bevor er sich ein Glas Famous Grouse einschenkte, um die Nerven zu beruhigen. Nicht das erste des Tages, wie ich vermutete, und dabei war es noch nicht einmal elf Uhr.
»Bei Jennie.« Ich lehnte den Kopf an und blickte zu ihm empor. »Ich hätte sie nicht mit dem Transporter zurücknehmen können, Dad. Der hat keine Sicherheitsgurte.«
»Oh.« Wie erwartet machte er ein langes Gesicht. Er war enttäuscht. Er konnte nicht einsehen, warum meine Kinder, wo ich doch bereits unbeschadet in diesem Transporter durch die Gegend kutschiert war, das nicht ebenfalls konnten. Ganz gleich, wie oft ich ihm mit Gesetzen und Bußgeldern, ganz zu schweigen von schrecklichen Verletzungen, kam, er kapierte es einfach nicht.
»Aber dir ist doch auch nichts passiert«, sagte er dann immer. »Und ich fahre vorsichtig …«
»Ich weiß, Dad«, sagte ich dann verlegen und kratzte mich am Hals.
»Aber ich dachte, du könntest mit den beiden doch zu der Jagd kommen«, sagte ich zu ihm. »Vielleicht sogar ein wenig mitlaufen? Das würde ihnen bestimmt Spaß machen.«
»Und mir auch. Gute Idee. Das werde ich tun.« Zufrieden rieb er sich die Hände. »Jetzt komm. Lass uns mal schauen, was ich für dich habe.« Mal so richtig zu heulen, hatte ihn sichtlich erfrischt, dazu noch der Whisky und die Aussicht auf einen Ausflug mit seinen Enkelkindern, und so stapfte er munter zur Hintertür und zu seinen Stiefeln.
Ich erhob mich hastig. »Du willst damit sagen, dass du wirklich ein Pferd für mich hast?«
»Natürlich. Ich hab sogar zwei. Du hast die Qual der Wahl. Komm mit, sie sind drüben im Stall.
Ich spürte ein aufgeregtes Flattern in der Magengegend, während ich ihm nach draußen folgte. Puppen, Ponys, Jungs – das sind die drei Dinge, die angeblich die verschiedenen Stadien im Leben eines Mädchens bestimmen: die echten Übergangsriten. Und obwohl ich wohl nie zu Baby Born zurückkehren würde (wobei ich eingestehen muss, dass ich mich schon hin und wieder in Clemmies Zimmer auf dem Teppich wiedergefunden hatte, wo ich mit dümmlich verträumtem Gesichtsausdruck einer Barbie die Haare kämmte), so konnte ich mich in Krisenzeiten oder allgemeiner Dürre an der Männerfront durchaus darauf verlassen, dass Pferde meinen Herzschlag beschleunigten. Und so beschleunigte sich denn auch mein Puls, während ich meine Schuhe gegen eines der vielen Paar Stiefel neben der Hintertür eintauschte und hinter meinem Vater her in den Stall eilte.
Um diese Jahreszeit standen die meisten seiner Pferde gut eingepackt in Pferdedecken draußen auf der Weide, nachdem sie die Nacht im Stall verbracht hatten, doch hier streckte nun in der ansonsten leeren Reihe von Stallabteilen ein gutaussehender Brauner seinen Kopf über die Tür. Er beobachtete uns, wie wir näher kamen. Er hatte ein freundliches, intelligentes Gesicht und seine Ohren waren gespitzt. In meiner Brust vollzog sich ein kleiner Tanz.
»Oooh … Das ist aber ein Schöner.«
»Ja, nicht wahr?«, sagte Dad sanft. »Holländisches Warmblut. Reinrassig.«
Wir blieben vor seiner Box stehen und ich streichelte ihm über die samtene Schnauze, während er mir in die Hand blies. »Wie heißt er?«
»Also sein voller Name lautet Thundering Pennyford, aber er hört auf Thumper.«
»Thumper«, wiederholte ich. Mein Gott, war der hinreißend. Schlank, dunkel und köstlich. Außerdem ziemlich groß, dachte ich nervös, als ich über seinen gebogenen Hals in Richtung seines wohlgeformten Hinterteils schaute. Nebenan tauchte ein weiterer Kopf auf.
»Und wer ist das hier?« Ich ging zur Nachbarbox, wo eine kleinere, ein wenig struppige, gescheckte Stute neugierig nachsehen wollte, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte. Sie hatte blaue Augen und einen Rücken, der so breit war, dass man darauf den Tisch decken konnte.
»Agnes. Die sicherere Wahl.«
»Aha.« Ich streichelte auch ihr über die Stirn. »Soll das heißen, Thumper ist nicht sicher?«
»Oh doch, der ist auch sicher, aber er ist schnell. Er ist ein Warmblut, Poppy, hat einfach mehr Temperament.«
Temperament. Auf meiner ersten Jagd. Brauchte ich das? Oder brauchte ich Agnes? Solide und sicher. Thumper war aber schon toll. Und auf ihm würde ich natürlich viel besser aussehen in hautengen Reithosen und glänzenden Lederstiefeln. Und genau darum ging es ja. Agnes war süß, hatte aber nichtsdestotrotz einen Hauch von »Wo ist die Kutsche?« an sich.
Dad legte Thumper bereits die Zügel an. »Willst du ihn ausprobieren?«, fragte er ganz locker und führte ihn nach draußen.
»Klar. Warum nicht«, sagte ich ebenso locker.
Rasch legte Dad auch noch den Sattel auf.
»Dreh einfach mal ein paar Runden mit ihm dort drüben auf der Koppel und sieh zu, wie ihr klarkommt.« Mit einer zackigen Bewegung hatte er den Gurt festgezogen und rückte den Sattel am Steigbügelhalter zurecht.
Mit einem Satz war ich im Sattel, zufrieden, dass ich das noch immer ohne Hilfe konnte, denn wie gesagt, Thumper war nicht gerade klein. Dann fand ich den anderen Steigbügel und trabte lässig los. Natürlich hätte ich im Schritt anreiten sollen und Thumper erschrak ein wenig, als er so plötzlich aus dem Stand antraben sollte, aber abgesehen von einem kleinen Zucken meisterte er diese Überraschung problemlos. Beste Manieren, dachte ich, während wir weiterschwebten, und er gab der Trense nach, die ich zu meiner Freude noch immer kontrollieren konnte, sodass er seinen Hals entsprechend beugte. Fantastische Spannkraft, bester Gehorsam, kein Drängen. Aber Dad hatte immer nur beste Pferde in seinem Stall. Auf der Koppel ließ ich die Zügel locker und ließ ihn im Kanter gehen, den ich aber, beschloss ich, auf keinen Fall in einen vollen Galopp übergehen lassen würde. Dann wechselte ich die Hand und ritt alles noch einmal andersherum. Erhitzt und überglücklich kam ich schließlich zum Gatter zurück, wobei ich wie eine Dampflok schnaufte und kräftig schwitzte.
»Nicht so fit, wie du mal warst«, bemerkte mein Vater grinsend und lehnte sich gegen das Gatter.
»Von wegen! Seit wann soll es anstrengend sein, auf einem Pferd zu sitzen?«
»Das sagen sie alle. Aber auf Agnes brauchst du nicht so fit zu sein. Da kannst du wirklich einfach nur draufsitzen. Der hier verlangt seinem Reiter schon mehr ab.«
»Aber er ist himmlisch, Dad.« Ich lehnte mich vor und streichelte ihm über den Hals.
»Oh ja, das ist er«, pflichtete mein Vater mir freudig bei.
Wieder einmal hatte er seine Pflicht getan, indem er ein Wort der Warnung ausgesprochen und den Datsun angepriesen hatte, während er im Stillen hoffte, dass ich mich für den Ferrari entscheiden würde, was ich natürlich auch tat.
»Und du willst sie gar nicht ausprobieren?«
»Ich glaube, die Energie habe ich nicht mehr.«
»Für eine mehrstündige Jagd brauchst du aber ein bisschen mehr Sitzfleisch.«
»Ich weiß«, sagte ich leichthin, »aber das übernimmt dann der Adrenalinschub.«
»Um ganz ehrlich zu sein, Poppy, ich weiß nicht, ob Thumper schon mal eine Jagd mitgemacht hat. Ich habe ihn als Vielseitigkeitspferd gekauft. Dachte, er wäre vielleicht etwas für die kleine Wilkinson. Keine Ahnung, ob er für die Jagd taugt.«
»Mach dir keinen Kopf, ein Vielseitigkeitspferd taugt auch zur Jagd. Das sind doch alles Hecken und Gräben, oder? Das erledigt der doch mit links.«
Ich schwang mich aus dem Sattel. Wer war diese Frau? Die ihren waghalsigen Vater beruhigte und diesem Mann, der das Risiko liebte und immer hart am Wind segelte, versicherte, dass er sich unnötig Sorgen machte? Dass das Leben selbst ein Kinderspiel war? Die sich ganz locker in den Sattel eines unbekannten Vollblüters schwang, obwohl sie seit zehn Jahren nicht mehr geritten war? Die schon wieder ihre Kinder der Nachbarin überließ, um genau das zu tun? Es war eine Frau, die den Hauch eines anderen Lebens gerochen hatte. Einen verführerischen Hauch, der von der anderen Seite des Dorfangers herüberwehte, wo die Frauen viel graues Kaschmir trugen und wöchentlich zur Jagd gingen, bei Fortnum & Mason einkauften und sich die attraktiven Männer angelten. Hope, Emma … Ich knirschte mit den Zähnen. Eine Frau, die seit jenem Telefonat mit Sam vor ein paar Tagen jeden Abend im Bett gelegen und sich vorgestellt hatte, hinter einer braun-schwarzen Hundemeute herzugaloppieren an der Spitze des Feldes, inmitten der roten Röcke. Sam und ich sprangen Seite an Seite über eine Hecke und lächelten uns bei der Landung erfreut zu, wobei er meinen Sitz bewunderte, und dann, vielleicht am nächsten Hindernis, sah Sam mich so bewundernd an, dass er es vermasselte, den Absprung falsch einschätzte und abgeworfen wurde. Ich ritt los, um sein Pferd einzufangen. Führte es dorthin zurück, wo er sich dreckverschmiert und beschämt aufrappelte. Hielt das unruhige Tier fest, während er wieder hinaufkletterte mit einer Platzwunde am Kopf und einem atemlosen »Danke, Poppy!«, bevor wir davontrabten, um zum Rest des Feldes aufzuschließen, wobei ich über die Schulter zurückschaute, um sicherzugehen, dass mit ihm alles in Ordnung war; er dagegen war noch etwas benommen – sei es angesichts meiner Schönheit oder auch wegen des Schlags auf seinen Kopf –, aber wild entschlossen, mich nicht aus den Augen zu lassen, mich nicht entkommen zu lassen.
Ich hatte mich in eine Frau mit einem Ziel verwandelt. Aber das war alles, was ich wollte, redete ich mir selbst ein: ein bewundernder Blick, ein kurzes Reinschnuppern in ein anderes Leben, dann würde ich es bleiben lassen. Denn ehrlich gesagt, war es mir dann auch egal. Ich konnte in mein anderes Leben zurückkehren – mein kleines Haus, meine Kinder –, glücklich in dem Bewusstsein, dass ich Sam und dem Rest des Dorfes bewundernde Blicke entlockt hatte. Oh ja, natürlich hatten sie alles mit angesehen, hatten an genau dieser Hecke gestanden, als wäre es der berühmte Becher’s Brook. Ich würde glücklich und zufrieden sein, dass sie mich alle in einem anderen Licht gesehen und sich gefragt hatten: »Wow, wer ist denn diese Frau?« Das war alles, was ich brauchte. Ehrlich.
Mein Vater und ich aßen noch rasch zusammen Mittag, für das mal wieder unser alter Freund Mr Heinz sorgte – Dad holte es aus der Dose mit einem Löffel, der eine mehr als faire Chance hatte, dass damit gerade erst das Katzenfutter verteilt worden war –, und dann, nachdem ich noch den neuen Kanarienvogel bewundert hatte, der sich im Badezimmer die Seele aus dem Leib sang, machte ich mich auf den Weg. Gemeinsam luden wir Thumper in den Transporter – natürlich ließ er sich traumhaft hineinführen, ohne die Hufe in den Boden zu stemmen –, dann ging ich im Geiste die Liste der Dinge durch, die ich brauchte.
»Zaumzeug, Decken, Heunetze – das ist alles vorne im Führerhaus. Alles okay, mein Schatz?«
»Danke, Dad.«
»Und ich hab noch ein paar Futter-Rationen eingepackt, eine für heute Abend und die andere für morgen.«
»Super.«
»Und du glaubst, dass es mit deinem Schuppen gehen wird?«
»Nein, ich hab noch mal geschaut, der ist winzig und zu voll mit Gerümpel, deswegen habe ich den Bauern mit den Schafen hinten angerufen, und er meinte, ich könnte ihn für die eine Nacht in die Scheune stellen, die er da hat.«
»Na, das ist doch ideal!«
»Genau«, pflichtete ich ihm bei, ohne hinzuzufügen, dass es sich bei dem Bauern um Schmuddelbob handelte, der es quasi als Heiratsantrag genommen hatte, als ich auf seinem Hof der heulenden Hunde vorbeigekommen war, um meine Bitte vorzubringen. Er hatte wie bescheuert von einem Ohr zum anderen gegrinst und sich mit einem ebenso vielsagenden wie nervigen Zwinkern einverstanden erklärt, auch wirklich keiner Menschenseele etwas zu verraten, als ich sagte, es sei ein Geheimnis, fast so, als hätten wir soeben geplant zusammen durchzubrennen. Er hatte sogar versucht, mir einen Kuss auf die Wange zu geben, als ich ging. Bob benahm sich noch immer sehr seltsam.
»Und du kommst auch bestimmt zum Stelldichein und hilfst mir?«, fragte ich meinen Vater besorgt. Während ich Bobs Hilfsangebote allesamt zurückgewiesen hatte, wollte ich die meines Vaters doch liebend gerne annehmen.
»Natürlich bin ich da. Obwohl ich mich gerade frage, wenn ich sowieso zum Stelldichein komme, dann könnte ich dir Thumper doch auch direkt dorthin bringen …« Er runzelte die Stirn und wir betrachteten nachdenklich das Pferd, das schon fix und fertig im Transporter wartete. »Aber andererseits möchtest du ihn auch noch ein wenig besser kennenlernen, oder? Vielleicht sogar noch mal auf ihm reiten? Vermutlich ist er am besten bei dir aufgehoben.«
»Ja«, stimmte ich zögernd zu. Wir sahen uns unsicher an.
»Ich weiß was«, erklärte er plötzlich. »Sobald meine Jungs und Mädels hier gefüttert und getränkt sind, was ich ganz früh erledigen werde, komme ich direkt zu dir, um dir beim Aufzäumen und Verladen zu helfen.«
»Oh, würdest du das tun, Dad?«
»Klar.« Er strahlte. »Was für ein Spaß. Gut gemacht, Poppy. Ich finde, du bist wirklich sehr mutig.«
Fand er das? Ich war nervös, als ich zehn Minuten später mit einer halben Tonne Pferdefleisch hinter mir im Transporter gen Heimat trullerte. Wenn mein Dad fand, ich sei mutig, dann war das schon beunruhigend. Genauso, wie seinen Transporter zu fahren. Den hatte ich in meiner Jugend natürlich des Öfteren gefahren, aber ich hatte vergessen, wie breit er war und dass man natürlich nicht in den Rückspiegel schauen konnte, sondern sich auf die Seitenspiegel verlassen musste. Bestimmt brauchte man einen LKW-Führerschein. Dad hatte nichts in der Richtung gesagt, aber das war bei ihm auch nicht zu erwarten.
Ganz untypisch für mich, hatte ich bereits in weiser Voraussicht Unterstützung für meine Ankunft angefordert, sodass sich mir ein erfreulicher Anblick bot, als ich die letzte Kurve in unserem Dorf nahm. Auf dem Rasen in Jennies Vorgarten hockten alle Kinder, alias das Empfangskomitee. Archie saß auf Jamies Schoß und Hannah und Clemmie knieten Schulter an Schulter, ganz damit beschäftigt, Rosenblätter in Marmeladengläser auszuquetschen, um Parfüm zu machen, etwas, das meine Tochter bestimmt in den siebten Große-Mädchen-Himmel versetzte. Beim Anblick des Transporters ließen sie ihre Parfümerie aber stehen und liegen, sprangen auf und kamen hergelaufen. Gleichzeitig flog die Haustür auf und Jennie eilte ihnen hinterher den Gartenweg entlang, während sie sich die Hände an ihrer überlangen weißen Schürze abwischte.
»Du hast ihn«, hauchte sie und blickte mir ungläubig durch das geöffnete Fenster des Führerhauses entgegen. Die Kinder sprangen aufgeregt neben ihr auf und ab.
»Natürlich hab ich ihn.« Gewandt sprang ich aus dem Führerhaus. »Jetzt müssen wir ihn nur ausladen und nach hinten auf die Weide bringen.« Ich lächelte ihr siegessicher zu, während ich zur Rückseite des Transporters marschierte. Dabei kam ich mir vor wie der Rattenfänger von Hameln, mit all den Kindern auf den Fersen.
»Alle aus dem Weg!«, rief ich. »Tretet zurück, Leute, das Ding fällt ziemlich zackig runter!«
Sie wichen zurück, als ich nach dem Seil griff, mit dem man die Rampe hinunterlassen konnte. Und sie kam in der Tat mit einem gewaltigen Rumms auf die Straße geknallt, da alle Federn längst den Geist aufgegeben hatten. Jennie zuckte zusammen und die Kinder kreischten. Ich lachte nachsichtig und mir wurde klar, dass ich es ganz spannend fand, hier mal diejenige zu sein, die alles unter Kontrolle hatte.
Ich musste mir dieses Gefühl bewahren. Das hatte ganz entschieden etwas.
Thumper drehte den Kopf und bedachte mich mit einem misstrauischen Blick, als ich zu ihm hineinging. Er war ein wenig verschwitzt, wie ich bemerkte, aber es war warm in der Box, also vermutlich kein Grund zur Sorge. Als ich das Seil an seinem Kopf löste und ihn die Rampe hinunterführen wollte, rannte er voraus und auf die Straße hinaus. Ich hängte mich an mein Ende des Seiles. Wie war das mit der Kontrolle?
»Oh mein Gott, der ist ja riesig!«, staunte Jennie und nahm Archie auf den Arm. »Ich dachte, du würdest eher auf einem Pony reiten!«
»Nein, nein. Ein Pony wollte ich auf gar keinen Fall.«
Aber sie hatte Recht. Er war riesig. Er erschien mir noch größer als bei meinem Vater auf dem Hof, wie er da auf der Straße vor meinem Haus herumtänzelte. Er schnaubte viel und scharrte mit den Hufen, sein Hals war weiß vor Schweiß.
»Da brauchst du ja eine Leiter, um aufzusteigen, was? Oh, Poppy, ich finde dich ganz schön mutig.«
Noch eine, die sich Sorgen machte. Jennie hielt mich normalerweise für einen Feigling.
»Warum stampft er so mit den Hufen?«, fragte Hannah.
»Vielleicht hat er Angst, weil er sich hier nicht auskennt«, riet ich.
Und weil natürlich die beruhigende Hand meines Vaters fehlte – und, oh Gott, jetzt stieg er auch noch und riss mir das Seil aus den Händen. Gegenüber bewegte sich der Vorhang.
»Mach um Himmels willen das Gatter auf, Jennie«, zischte ich. »Kommt jetzt, wir wollen ihn wenigstens mal hier aus dem Centre Ville wegschaffen.«
Ein paar Leute waren in ihre Vorgärten geeilt, um zu sehen, was da vor sich ging, und mir wurde bewusst, dass das Überraschungsmoment meines Planes sich in Windeseile in Luft auflöste.
Ich hatte gehofft, ihn still und heimlich ausladen und dann nach hinten außer Sichtweite bringen zu können, aber natürlich konnte man in diesem Ort nicht mal furzen, ohne dass es alle merkten. Und Thumper tat weit mehr als das: Er hob den Schweif und ließ vor lauter Nervosität einen Schwall von grünem Schleim fahren. Die Kinder kreischten auf in einer Mischung aus Freude und Ekel, als die Masse vom Teer aufspritzte und in die Nähe ihrer Schuhe kam. Ihre schrillen Stimmen verschreckten das Pferd nur noch mehr.
»Mach doch einfach das verdammte Tor auf, Jennie!«, brüllte ich, während sie endlich losrannte, um genau das zu tun. Nicht ihr Gartentor, sondern das große Gatter, das neben ihrem Haus auf die Weide hinaus führte.
Meine eigenen Achseln konnten es inzwischen mit denen von Thumper aufnehmen, und dabei war Mrs Harper von nebenan auch keine Hilfe, die plötzlich dringend die Dahlien in ihrem Vorgarten ein wenig fester anbinden musste, genau wie Mr Fish von gegenüber es ungemein wichtig fand, just in diesem Augenblick die Milchflaschen auf seiner Eingangstreppe ordentlich hinzustellen.
»Wollen Sie auf dem Biest etwa morgen reiten, Poppy?«, rief er schließlich, ohne sich weiter um seine vorgeschobene Tätigkeit zu kümmern.
»Das ist der Plan«, erklärte ich ihm nervös und klammerte mich an das Seil, während Thumper, der das offene Tor und dahinter eine grüne Weide bemerkt hatte, hindurchraste.
»Alle Achtung. Viel Glück.«
Aber ich war schon weg. Hing an Thumper, der inzwischen über das Stück Niemandsland neben Jennies Haus donnerte: das überwucherte Grundstück, auf dem Dan seine Sammlung von ausgemusterten Autos abgestellt hatte, von denen einige ohne Räder auf Ziegelsteinen aufgebockt waren, alle in diversen Stadien des Verfalls, während die Hühner seiner Frau höchst idyllisch auf den Rückbänken brüteten. Sie flatterten auf und gackerten verängstigt, als wir an ihnen vorübereilten. Das nächste Gatter. Diesmal brauchte Jennie keine weiteren Anweisungen und rannte in ihrer Schürze an mir vorbei, um es zu öffnen. Die Schafe, die aus Neugier von der Weide zusammengelaufen waren, liefen jetzt wieder auseinander und teilten sich wie das Rote Meer, als ich zwischen ihnen hindurchschritt. Jennie war noch damit beschäftigt, das Tor hinter mir zu schließen, aber glücklicherweise war Frankie aufgetaucht. Sie hatte die Situation sofort erfasst und rannte hinüber, um die Tür der mitten auf der Weide stehenden Scheune zu öffnen. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich Thumper nach drinnen befördert, ihm das Halfter vom Kopf genommen, und noch bevor er wusste, wie ihm geschah, die Tür vor seiner Nase zugemacht, sodass mein Jagdpferd nun sicher untergebracht war.
»Er sieht nicht besonders glücklich aus«, bemerkte Frankie, als wir durch das Fenster nach drinnen linsten. Ihre Haare hatten, wie ich bemerkte, einen ziemlich schönen honigfarbenen Ton anstelle des üblichen, aggressiven Wasserstoffblonds.
»Dem geht’s gut«, sagte ich zuversichtlich, während Thumper sich mit geblähten Nüstern um sich selbst drehte, schnaubte und in den Sägespänen scharrte, die ich schon zuvor für ihn dort hineingetan hatte. Was war nur mit ihm los? War er auf irgendeinem Drogen-Trip, bis zur Stirnlocke voller Barbiturate? Oder lag es an meinen Fahrkünsten? Ich hatte zugegebenermaßen den einen oder anderen Bordstein touchiert unterwegs. »Er muss sich nur eingewöhnen. Ist alles ein bisschen neu für ihn, verstehst du?«
»Aber er sieht ziemlich wild aus«, bemerkte Frankie. »Ich würde mich morgen nicht so gerne auf seinen Rücken klammern. Ich finde, du bist …«
»Erzähl mir jetzt nicht, ich wäre mutig!«, blaffte ich.
Ich ließ sie stehen und ging über die Weide zurück, um den Transporter irgendwo anders hinzustellen, wo er nicht so auffällig war wie mitten im Dorf. Tief in meinem Inneren wünschte ich, ich hätte all das nie begonnen.
Aber am Abend, als Clemmie und Archie bereits fest schliefen und Thumper ebenfalls zur Ruhe gekommen war – jedenfalls konnte ich ihn von meinem Schlafzimmer aus nicht mehr stampfen und schnauben hören, und zuletzt, als ich im Bademantel nach draußen geschlichen war, hatte ich gesehen, dass er ruhig, wenn auch mit einem etwas misstrauischen Gesichtsausdruck, an seinem Heu kaute –, als ich also an diesem Abend vor dem Spiegel stand, da war ich mir meiner Sache wieder sicher. Ich hatte mich in Schale geworfen und fühlte jetzt meinen Mut zurückkehren. Wann immer ich in meiner Jugend geritten war, hatte ich das in Jeans und Gummistiefeln getan, aber mein Vater hatte ein Mädchen aus der Nachbarschaft überredet, mir ihre Klamotten zu leihen. Ihre hautengen Reithosen und eine alte Jacke von mir, die extrem auf Figur geschnitten war, sorgten dafür, dass ich angemessen gekleidet war. Ich konnte natürlich kaum atmen, aber darum ging es doch schließlich, nicht wahr? Alle anderen Accessoires – lange schwarze Stiefel, Samtkappe, schneeweiße Halsbinde – waren von derselben Nachbarin meines Vaters geliehen und vervollständigten den glamourösen, sexy Look, wie ich mit einem erfreuten Blick auf mein Spiegelbild feststellen konnte. Meine Wangen waren gerötet und meine Augen glänzten, wozu nicht zuletzt auch eine ganze Flasche Wein beitrug, die ich fast ausgetrunken hatte, um mir Mut zu machen. Als ich mir mit der Gerte gegen den Stiefel schlug und knurrte: »Hau sie weg, Poppy. Zeig diesen hochnäsigen Schnöseln, dass du quasi im Sattel geboren wurdest«, war mir durchaus klar, dass ich besoffen war. Mein Spiegelbild kicherte zustimmend.
Später, nachdem ich vor dem Fernseher auch noch den letzten Rest der Flasche vernichtet hatte – wär ja schade drum gewesen –, ging ich nach oben ins Bett. Meine Reitausrüstung war inzwischen in Auflösung begriffen, alle engen Knöpfe und Reißverschlüsse gelöst und offen. Mit der Reitpeitsche in der Hand und noch immer in Stiefeln, schwankte ich quer durchs Schlafzimmer, um den Vorhang zuzuziehen, und kam mir dabei ein wenig wie John Wayne vor. Aber noch bevor ich das Fenster erreichte, fiel mein Blick auf mein Bild im Spiegel auf dem Frisiertisch und ich hielt inne. So, beschloss ich leicht schwankend, würde ich nach der Jagd aussehen, nach einem harten Tag im Sattel: vom Winde verweht, zerzaust, aber bester Laune. Ganz Frau. Ich hielt mich an der Lehne des Stuhls fest und setzte mich rücklings darauf, wobei ich mich umdrehte, um zu sehen, wie mein Po im Spiegel aussah. Nicht schlecht. Ich tat so, als würde ich antraben, um zu sehen, wie der Anblick beim Hoch- und Runtergehen war, auf dem Rückweg vom Stelldichein, um genau zu sein. Sehr passabel. Dann lehnte ich mich nach vorne über den Stuhl, um einen Galopp zu imitieren, den Hintern schwungvoll und leicht wippend aus dem Sattel gehoben. Plötzlich erstarrte ich mitten im Schwung. Mr Fish von gegenüber wich erschreckt von seinem Schlafzimmerfenster zurück und eilte weg, zweifellos um Mrs Fish zu holen und ihr zu sagen, dass die junge Witwe dort drüben nicht nur langsam wieder auf die Füße kam, sondern diese sogar in schwarzes Leder steckte und mit Sexspielzeug herumwedelte.