22
Das wäre der richtige Augenblick gewesen. Natürlich. Ich weiß aber nur noch, dass ich den Blick von Marys sich entfernendem Rücken wandte und direkt in die blitzenden Augen von Angie schaute, die meine Zügel festhielt. Ich blickte mich hilfesuchend um: Ich sah, dass Simon und Emma mit Sam sprachen, besorgt und todernst. Mir schnürte sich der Hals zusammen vor Angst und das Herz gleich dazu. Ich wünschte so sehr, dass ich jetzt nicht vorne im ersten Feld wäre, sondern bei den Pollys und Grants dieser Welt. Ich konnte sie am anderen Ende sehen, wie sie Witze rissen und den Flachmann kreisen ließen, dabei schallend lachten und Grant sich sogar eine Zigarette anzündete. Bitte, lieber Gott, lass mich zu ihnen gehen, ihnen könnte ich es erzählen. Und dann könnten sie es weiterverbreiten wie Stille Post. Aber Angie hielt noch immer meine Zügel fest und erklärte mir mit leiser, gedämpfter Stimme, so wie man mit einem Kind reden würde, das auf die Straße hinausgerannt ist und einem einen solchen Schrecken eingejagt hat, dass man es zunächst angeschrien hat, es wäre natürlich nicht meine Schuld, weil ich ja noch nie dabei gewesen wäre, aber wenn ich nur zuerst zu ihr gekommen wäre, dann hätte sie mir schon etwas Passenderes geliehen.
»Du hättest nur zu fragen brauchen, dann hättest du Clarissas Pony gekriegt. Das hat schon sieben Jagdsaisons hinter sich und weiß genau, wie es sich zu verhalten hat. Du bist wirklich ein Dummkopf, Poppy.«
Ich hörte ihre Stimme wie von sehr weit entfernt. Gewiss sprach sie in einem Ton, der ihrem üblichen freundlichen Tonfall schon recht nahe kam, während sie den Griff um meine Zügel langsam lockerte. Und sie war ja auch meine Freundin, meine gute Freundin, der ich es doch gewiss erzählen konnte. Ich machte den Mund auf, aber der war so trocken, dass meine Zähne an der Oberlippe kleben blieben. Als ich sie schließlich freigeleckt hatte, war Sam neben sie geritten, das Handy am Ohr, und sprach mit ihr, wobei er Angie berichtete, was er hörte. Angie, die, wie ich plötzlich bemerkte, einen senfgelben Kragen an ihrem blauen Reitrock hatte. Gab ihr das eine offizielle Funktion bei dieser Jagd? War sie zum Beispiel Mitglied der Geheimpolizei? Mein verwirrter Geist wusste nicht recht, was er denken sollte, während sie Sam mit einem verführerischen Lächeln bedachte, bevor ihr klar wurde, wie unangemessen das war, woraufhin sie sogleich eine ernste Miene aufsetzte und sich anhörte, was er zu sagen hatte, was ich im Übrigen auch tat.
Man hatte den Hund gefunden, mausetot in einem kleinen Wäldchen. Mit einer hässlichen Wunde am Kopf. Getreten, wie es aussah. Und jemand hatte sogar noch die Dreistigkeit besessen, ihn unter ein paar Farnwedeln zu verstecken.
Angies Gesichtsausdruck war nun nicht länger künstlich, in ihrem Blick lag echtes Entsetzen, während sie scharf die Luft einsog. Selbst Mary Granger neben uns, die so sensibel war wie altes Nashornleder, legte eine Hand vor den Mund. Sam ritt mit bleichem Gesicht davon. Und dann breitete es sich wie eine Flutwelle im ganzen Feld aus. Der Hund hieß Peddler und gehörte Mark, dem Hundeführer. Er war sein Liebling. Mark hatte den Hund gezüchtet und selbst großgezogen. Ja, ganz eindeutig ein Tritt und dann unter eine Decke von Farnkraut verborgen – nein, es war sogar ein flaches Grab ausgehoben worden, um alles zu vertuschen. Noch nie zuvor hatte ich solche Angst gehabt. Noch nie hatte mein Herz so laut geklopft und noch nie hatte ich mich derart von einem Mob umzingelt gefühlt. Die Pferde standen dampfend und mit bebenden Flanken da, froh sich ein wenig vom Galopp ausruhen zu können. Sie warfen die Köpfe und ihr Zaumzeug klirrte, was in meinen Ohren klang wie das Klappern der Nadeln der Tricoteuses an der Guillotine.
Es dauerte nicht lange und um mich her verwandelte sich der Schock in Wut. Wie konnte derjenige nur? War es vielleicht eines der Kinder gewesen? Aber nein, die hatten alle genügend Reitstunden gehabt und hatten den Pony Club durchlaufen und wussten, wie man sich zu verhalten hatte. Außerdem waren die meisten Kinder in Begleitung hier. Nein, nein, undenkbar, es musste ein Erwachsener gewesen sein, wüteten sie. Aber was für ein Feigling. Die Nachricht erreichte auch den hinteren Teil des Feldes und ich sah, wie Polly, Grant und Konsorten das Lachen verging und ihre Münder vor Entsetzen offen stehen blieben. In diesem Augenblick sah ich auch, dass Emma Hardings harte graue Äuglein nach meinem Blick suchten. Unsere Blicke kreuzten sich, wenn auch nur kurz. Zitternd wandte ich mich ab. Als ich danach langsam den Kopf hob, sah ich, wie sie hinüber zum Master ritt, um mit ihm zu sprechen. Mit Sam.
Die Minuten vergingen. Angie war jetzt sehr lieb zu mir und bot mir sogar ihren Flachmann an, vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen ihres Wutanfalls von vorhin, aber jetzt konnte ich es ihr doch nicht mehr erzählen? Denn warum hatte ich es nicht gleich zugegeben? Plötzlich kamen mir alle Gefängnisse dieser Welt in den Sinn, aus denen heraus mich die Verurteilten anstarrten, während sie die Gitterstäbe umklammert hielten und ihre jammervollen Blicke zu sagen schienen: Siehst du? Genau deswegen sind wir hier. Weil wir unsere Schuld nicht eingestanden haben. Aber Unfälle passieren eben, schreckliche Unfälle – bei denen jemand überfahren wird und der Fahrer dann Fahrerflucht begeht oder die Frau im Streit geschlagen wird. Natürlich haben wir das nicht gewollt, aber jetzt sind wir hier gelandet, so läuft das eben. Fast wäre ich vom Pferd gefallen.
Der Pikör, der den Hund gefunden und die Nachricht bereits per Telefon mitgeteilt hatte, kam zurück. Er achtete nicht auf uns und ritt weiter, den Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst, in Richtung der Hundemeute, die sich in gewissem Abstand zum Rest des Feldes auf der nächsten Hügelkuppe befand. Wir sahen, wie er stetig zu Mark, dem Hundeführer, hinaufgaloppierte, der dort oben ganz alleine mit seinen Hunden weiter dem Wild nachspürte. Und der der Letzte war, der es erfahren sollte. Als ihm die Nachricht überbracht wurde, sah ich, wie Mark die Hand über die Augen legte, und an dieser Geste konnte ich ablesen, dass ich jemandem sehr wehgetan hatte. Einer der Helfer hatte, wie wir hörten, den Hund, Peddler, mit einem Quad-Bike aufgesammelt und brachte ihn jetzt in den Zwinger zurück, während die Jagd nun weitergehen sollte. The show must go on.
Und schon ging es los. Offenbar waren wir auf dem Weg ins benachbarte Tal. Und richtig, von unserem Aussichtspunkt auf dem Hügel aus konnte ich die Anhänger und Transporter sehen, die unten auf der Wiese parkten. Ein paar Frauen mit Kindern an Führzügeln lösten sich vom Feld und wünschten allseits noch einen schönen Abend, und ich ritt mit ihnen, was mir ein erleichtertes Lächeln von Angie eintrug und sogar ein: »Gut gemacht! Nicht einfach, so eine erste Jagd.«
Oh, sie war wirklich nett jetzt. Hatte vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil sie sich kurzzeitig nicht wie eine Freundin verhalten und mich unfreundlich angeblafft hatte. Natürlich verzieh ich ihr das; wir waren alle mal unfreundlich in der Hitze des Augenblicks. Aber was war mit meiner eigenen, weit größeren Verfehlung? Ob man mir das verzeihen würde? Wenn ich es nur offen eingestanden hätte! Sie wären schockiert und entsetzt gewesen, natürlich, aber hätten mir letztendlich doch verziehen. Aber jetzt nicht mehr. Nicht eine halbe Stunde später, dachte ich und mir war speiübel, während ich den gewundenen Pfad zu den Wirtschaftsgebäuden neben Sams Haus hinunterritt. Die beiden Frauen, denen ich mich stillschweigend angeschlossen hatte, unterhielten sich angeregt und bogen dann zu ihrem Anhänger ab, nachdem sie mir einen munteren Abschiedsgruß zugeworfen hatten. Und es gelang mir zumindest, ihnen zu antworten.
Mein Atem ging flach, während ich alleine weiterritt. Ich dachte, ich hätte inzwischen ein Alter erreicht, in dem ich nichts Neues mehr über mich selbst herausfinden würde. Interessant, dass es dennoch so war, und es war nichts Gutes gewesen.
Dad, Jennie und die Kinder drängten sich mit einer Gruppe von anderen Zuschauern in der Nähe des Transporters und suchten Schutz vor dem Wind, der inzwischen aufgekommen war. Dan war auch da, wie ich bemerkte, am anderen Ende der Wiese, wo er sich mit ein paar Landwirten aus der Gegend unterhielt, ebenso Angus, der sehr fesch ganz in Tweed gekleidet war. Viele Leute führten ihre Hunde an der Leine, darunter auch Leila mit ihrem gewaltigen Plastikkragen. Sie wären eine ganze Strecke hinter uns hergegangen, erzählten Dad und Jennie mir, als ich herangeritten kam. Das hatte Spaß gemacht, war aber anstrengend gewesen und sie wünschten, sie hätten das Auto genommen.
»Aber gut hast du deine Sache gemacht!«, riefen sie, als käme ich als siegreicher Held aus der Schlacht zurück, während ich mich endlich von dem vermaledeiten, verschwitzten Pferd gleiten ließ und meinem Vater dankbar die Zügel reichte.
»Super hast du das gemacht!«, erklärte Jennie mir mit glänzenden Augen, legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich fest an sich. »Hattest du einen guten Tag?«
»Ich bin so stolz auf dich, Kind«, sagte mein Dad und tätschelte mir strahlend den Rücken. »Ich wusste, dass du es schaffen würdest!«
»Wir haben gesehen, wie du gesprungen bist, Mummy!« Clemmie warf sich in meine Arme. »Du bist über eine Hecke gesprungen und fast runtergefallen und du hast so ein komisches Gesicht gemacht – so.« Sie schnitt eine grässliche Grimasse und ich brachte mühsam ein Lächeln zustande. »Und dann bist du über einen Graben gesprungen und hast Sch… gesagt und dann war da ein Mann, der hat geschimpft und ›blödes Weibsstück!‹ gesagt, weil du dich vorgedrängelt hast!«
»Viele schimpfende Männer, mein Schatz«, hauchte ich. »Schimpfende Frauen auch.«
Ich umarmte meinen Sohn, der herbeigetapst kam, um von mir gedrückt zu werden. Er lehnte den Kopf gegen meine Oberschenkel und hielt meine Knie fest umklammert. Besuchsrecht, natürlich; vielleicht etwas großzügiger für Frauen mit Kindern. Dad würde sie vorbeibringen. Oder Jennie.
Die Kinder liefen wieder davon, um mit ein paar anderen Kindern aus dem Dorf, die sie kannten und die ebenfalls auf ihre Eltern warteten, einen Ball durch die Gegend zu kicken. Dan hatte sich ihnen angeschlossen, er war ja selbst noch ein großes Kind. Blieben also nur Dad und Jennie und ich.
»Ich hab einen Hund getötet«, stieß ich hervor.
Beide wandten sich zu mir um. Dad hatte gerade eine dünne blaue Decke über den dampfenden Thumper geworfen.
»Ich war’s«, sagte ich stockend. »Ich hab ihn umgebracht. Er ist tot.«
»Wie?« Dad war ganz blass geworden.
»Thumper hat ihm einen Tritt verpasst. Hab ihn im Gestrüpp liegengelassen. Keiner hat’s gesehen. Hab’s keinem gesagt. Muss wegziehen. Frankreich am besten.«
Ich hatte es mir auf dem Rückweg schon genau überlegt. Da unten in der Nähe von Toulouse, ein kleiner Ort namens Gaillac. Ich war einmal vor vielen Jahren mit der Schule dort gewesen. Hübsch. Und ich würde ein kleines Geschäft aufmachen, genau wie diese Frau in Chocolat, die auch ein Geheimnis mit sich herumtrug. Keiner würde mich kennen, ich würde ein Mysterium bleiben, ich und meine beiden kleinen Kinder. Ja, ein Schokoladengeschäft.
»Oh Gott.« Selbst Jennie, die mit dem Reiten gar nichts am Hut hatte, wusste, dass das schlimm war.
»Das Haus wird sich schnell verkaufen lassen«, plapperte ich weiter. »Ich hab ständig solche Angebote von Immobilienmaklern in der Post. Und die Kinder werden zweisprachig aufwachsen, was ein großer Vorteil ist.«
»Jetzt halt doch mal die Klappe«, befahl sie mir, packte mich am Arm und setzte mich auf die Rampe. Dad, der inzwischen Thumper versorgt und ihn an der Seite des Transporters angebunden hatte, kam zu uns herüber. Er setzte sich.
»Bist du sicher, dass es keiner gesehen hat?«, fragte er leise.
»Ja.«
»Gut. Dann halt den Mund. So was passiert eben.«
Ich überlegte eine Weile. Plötzlich sprang ich wütend auf. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn; er wackelte ein wenig. »Siehst du? Genau daher hab ich das! Meine kriminellen Neigungen! Das ist anerzogenes Verhalten! Das ist es, was du mir beigebracht hast, was du tun würdest!« Ich starrte ihn vorwurfsvoll an.
»Nein, eigentlich nicht. Ich hätte es gleich zugegeben.«
»Wirklich?« Ich sackte entsetzt in mich zusammen. »Oh, Dad, es tut mir so leid. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich wünschte, ich hätte etwas gesagt!«, jammerte ich. »Aber in der Hitze des Augenblicks, und da waren so viele Leute, die so böse geschaut haben, und die haben mir Angst gemacht … Und jetzt ist es ein bisschen zu spät, nicht wahr?«
»Genau, jetzt ist es schon passiert. Jetzt lässt man schlafende Hunde am besten … nun gut.« Er hielt verlegen inne, als er merkte, dass dies nicht der passende Vergleich war. »Aber es ist ein schwerwiegender Vorfall in der Welt der Jagd, Poppy.«
»Ich weiß!«, sagte ich mit zitternder Stimme.
»Ach, Pustekuchen«, sagte Jennie resolut. »Die haben doch Hunderte von den blöden Viechern. Und jetzt wollen wir mal nicht übertreiben, du hast ihn doch nicht umgebracht. Das war Thumper. Wenigstens hat er kein Kind getreten.«
»Das wäre noch besser gewesen«, bemerkte ich düster.
Dad nickte in nüchterner Einschätzung der Lage. »Sie hat recht, Jennie.«
»Was nur mal wieder zeigt, wie absolut bescheuert die Jagerei ist! Ich meine, es ist doch das Ziel der ganzen Sache, ein Tier umzubringen, oder? Und es ist nur ein blöder Hund. Himmel, ich wünschte, es wäre Leila gewesen. Sie ist übrigens weggelaufen und hat sich kurzzeitig der Meute angeschlossen.«
»Echt?« Ich hob den Kopf. Selbst in meiner Verzweiflung fand ich das amüsant.
»Oh ja. Sie ist fröhlich mit der Meute mitgelaufen mit ihrem verrückten Kragen und sah dabei aus wie Vivienne Westwood, bis es deinem Dad gelungen ist, so einen Typ auf einem Quad-Bike zu überreden, sie einzufangen. Und du heulst rum, weil du glaubst, du hast dein Schulheft bekleckert.«
Ich wusste, dass sie versuchte mich aufzumuntern, aber als ich später mit ihrem Auto nach Hause fuhr, weil Jennie mit Dan gefahren war, der mit seinem Land Rover gekommen war, und mein Vater mit Thumper im Transporter zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, die ganze Welt auf meinen Schultern zu tragen.
»Ab jetzt gelten die Chatham-House-Regeln, okay, mein Schatz?«, hatte Dad zum Abschied gesagt.
»Und das heißt?«
»Kein Wort nach draußen.«
»Oh. Okay.«
Kein Wort nach draußen, dachte ich düster. Bis es doch irgendwann nach außen drang. Was bestimmt passieren würde. Und der Himmel mochte wissen, welches Wort das dann sein würde. Mörderin? Feigling? Hexe? Ich sank am Lenkrad in mich zusammen. Hinter mir brachte Clemmie Archie zum Lachen, indem sie mich nachmachte. »Mummy beim Reiten«, sagte sie, hielt sich imaginäre Zügel hoch unters Kinn, Augen und Mund weit aufgerissen, hüpfte sie in ihrem Autositz auf und ab. Und Archie lachte, wie nur ein Zweijähriger lachen kann: als würde er sich gleich übergeben. Ich versuchte, die positiven Dinge in meinem Leben zusammenzuzählen, und kam nur auf zwei. Die beiden dort hinten auf dem Rücksitz. Bei Sam hatte ich jetzt natürlich keine Chance mehr, das hatte ich vergeigt. Aber ich konnte mir ohnehin schon gar nicht mehr vorstellen, wie weltfremd ich eigentlich gewesen sein musste, mir einen solchen Gedanken überhaupt zu erlauben. Er war so weit außerhalb meiner Reichweite, mit seinen smarten Freunden und seinem Landsitz, dass er sich quasi schon in einer anderen Stratosphäre befand. Und wollte ich das alles überhaupt? Jede Woche zur Jagd gehen müssen? Regelmäßige Nahtod-Erfahrungen zu haben mit all diesen furchteinflößenden Leuten um mich herum? Nein. Ich schnurrte meine Straße entlang. Dieser ganze Lebensstil war nichts für mich: Er war zu schnell, zu glamourös, zu viel.
Als ich vor meinem Haus anhielt, sah ich, dass jemand vor der Tür stand und klingelte: ein Mann. Oh Gott, waren sie jetzt schon da, um mich zu holen? Ängstlich stieg ich aus. Aber als er sich umdrehte, sah ich, dass es nur Pete war, der lächelte, als er mich bemerkte. Ich entspannte mich. Dieser Mann hier, mit einem Gesicht, das sich bei meinem Anblick aufhellte, war viel eher meine Kragenweite. Warum war mir das bisher nie aufgefallen? Weil er ein bisschen übereifrig wirkte? Weil er mich mochte? Was zum Teufel sollte daran falsch sein, Poppy?
»Pete.« Ich lächelte ebenfalls und machte die Autotür zu, ehrlich erfreut, ihn zu sehen. Jeans und ein dunkelblauer Pulli. Frisch gewaschene Haare. Normal. Unkompliziert. Keine Sporen.
Ich hob Archie aus seinem Autositz und meine Kinder rannten auf die Rückseite des Hauses, um den Schlüssel zur Hintertür unter dem Geranientopf hervorzuholen. Clemmie kam gerade eben an das Schloss, um aufschließen zu können.
»Mein Gott, hattest du einen Unfall?«
Mein Herz tat einen Satz beim Gedanken an Peddler.
»N-nein, warum?« Hatte er es schon gehört?
»Du bist buchstäblich von oben bis unten mit Dreck beschmiert!«
»Oh.« Erleichtert blickte ich an mir hinunter. »Ach nein, das sind nur Randerscheinungen der Jagd. Komm rein, Pete.«
»Ach, so was machst du?«, sagte er und wirkte überrascht und auch ein klein wenig reserviert, wie es manche Leute waren, wenn von der Fuchsjagd die Rede war, und zwar aus Gründen, die mit dem Töten von Tieren weitaus weniger zu tun hatten als mit gesellschaftlichen Klassen und Exklusivität. Ich dachte an Polly und Sparks und Grant, konnte mich aber nicht aufraffen, darüber zu diskutieren.
»Jetzt nicht mehr«, erklärte ich ihm. »Wie kommt es, dass du nicht arbeiten musst?«
»Hab mir einen Tag Urlaub genommen«, sagte er und berührte mich leicht an der Schulter, während er mir einen Begrüßungskuss auf die Wange gab. Mr Fish, der in seinem Vorgarten die Rosen schnitt, nickte zu uns herüber.
»Und, hat er Sie abgeworfen, meine Liebe?«
Ich brauchte einen Augenblick, um zu kapieren, dass er von Thumper sprach.
»Oh, nein, Mr Fish, ich bin nur ein bisschen schmutzig geworden«, rief ich. Dann fügte ich leise zu Pete gewandt hinzu: »Hier kann man einfach gar nichts unbeobachtet tun. Ehrlich gesagt, hatte ich einen echt harten Tag und könnte einen sehr großen Drink gebrauchen. Leistest du mir Gesellschaft?«
»Würde ich gerne, aber ich muss in fünf Minuten unterrichten.« Er warf einen Blick auf seine Uhr.
»Unterrichten?«
Er machte ein verlegenes Gesicht. »Ja, genau, ich hab mich breitschlagen lassen und gebe ein paar Leuten im Dorf Klavierunterricht, zum Beispiel der Enkeltochter von Sylvia und Angus.« Er kratzte sich verlegen am Kopf und aus irgendeinem Grund fand ich das ungeheuer sympathisch. Wie süß. Er brauchte das Geld nicht. Er hatte einen Job in der City, bei einer Versicherung, einem florierenden Unternehmen, aber aus reiner Herzensgüte unterrichtete er Kinder. Mir gefiel die Vorstellung, wie er geduldig neben einem Klavier saß und sich Tonleitern anhörte und eine stümperhafte Version von Für Elise. Wie er das Kind ermunterte, lobte und keinesfalls in einem roten Rock auf einem gewaltigen Pferd herumraste und anderen Leuten böse Blicke zuwarf.
»Ich wollte nur rasch vorbeischauen, um zu sehen, ob wir noch immer zum Essen verabredet sind. Du hattest mich doch eigentlich anrufen wollen. Meine Schwester meinte, sie würde auf die Kinder aufpassen. Dann könnten wir irgendwo auswärts essen, wenn du magst.«
Gegen Ende errötete er leicht. Und ich gab nicht nur nach, sondern schmolz geradezu dahin. Er hatte sich um einen Babysitter für mich gekümmert. Wie viele Männer würden das tun? Und nachdem er ein Treffen bei mir vorgeschlagen hatte, waren ihm nachträglich Zweifel gekommen, ob er mich damit in der Geborgenheit meines eigenen Hauses nicht zu sehr bedrängte – Sofas, sanfte Beleuchtung, oben ein Doppelbett, wenngleich furchtbar nahe bei den Kindern. Ich blickte in sein besorgtes Gesicht mit den treuen, blauen Augen. Plötzlich trat ich einen Schritt vor, streckte den Arm aus, legte ihn um seinen Nacken und zog seine Lippen sanft auf die meinen.
»Ich habe eine bessere Idee«, raunte ich, als wir uns küssten. »Ja, bitte, was deine Schwester anbetrifft. Aber warum treffen wir uns dann nicht bei dir zu Hause?«
Seine Augen leuchteten nicht nur auf, sondern fingen an zu funkeln wie ein Spielautomat, der gerade eine 3er-Reihe mit Birnen gelandet hat. Oder vielleicht eher Melonen.
»Oh, Poppy«, hauchte er und blickte zu mir herab.
Oh, Poppy. So schnell ging das. Mehr brauchte es gar nicht.
Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Ich verabschiedete mich von ihm und ging den Weg zum Haus hinauf.
»Bis dann also«, rief er.
»Bis dann«, sagte ich über meine Schulter, während er mit federnden Schritten zu seinem Unterricht marschierte.
Beim Hineingehen wurde mir klar, dass ich ihn soeben in voller Sichtbreite des Dorfes geküsst hatte. Mr Fish stand jedenfalls mit vor Staunen offenem Mund an seinem Tor, die Gartenschere schlaff in seiner Hand, als ich mich umwandte, um die Haustür hinter mir zu schließen. Ebenso gut hätte ich eine Anzeige in die Lokalzeitung setzen können. Aber damit hatte ich eigentlich gar kein Problem. Weil Pete ein sehr netter Mann war. Er war in der Tat liebenswert. Und mit ihm an meiner Seite, würde ich mit allem fertig werden, dachte ich, mit dem Ärger, mit den furchteinflößenden Frauen und Männern bei der Jagd: mit all denen, die am liebsten Schweifbandagen aus meinen Innereien gemacht hätten.
Aber vielleicht wäre Italien doch besser, überlegte ich, als ich langsam nach oben ging, um mir Badewasser einzulassen. Ich gab einen Spritzer Schaumbad hinein, und während sich die Schaumberge auftürmten, nahm meine Idee Gestalt an: Pete und ich, wie wir ein baufälliges Haus in der Toskana herrichteten, ganz oben auf einem mit Zypressen bewachsenen Hügel. Pete und ich – jeder mit einem Pinsel in der Hand, ich in Latzhosen und mit Zöpfen –, wie wir von Zeit zu Zeit in der Arbeit innehielten, um uns zu küssen oder uns neckisch Farbe auf die Nase zu tupfen. Die Kinder rannten barfuß im Olivenhain umher. Ziegen gab es hier, Babyziegen. Ehrlich gesagt war es ja schön und gut, eine rätselhafte Erscheinung zu sein, aber es konnte auch ziemlich einsam werden. Ich hätte auch keine Ahnung, wie man ein Schokoladengeschäft führt. Ich zog meine dreckigen Klamotten aus und steckte einen müden Zeh ins Badewasser.
Später am Abend, als ich gerade die Kinder ins Bett brachte, klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter war angeschaltet, und so las ich weiter vor, obwohl mein Herz heftig klopfte. Dummerweise hatte ich eine Fabel von Äsop ausgesucht über einen Jungen, der ein Kalb umbringt, die Schuld nicht gesteht und letztlich aus der Stadt gejagt wird; und so hatte ich, als ich schließlich wieder nach unten ging, nicht nur Herzrasen, sondern summte auch manisch einen bekannten Song aus einem beliebten Juli-Andrews-Musical vor mich hin, der in letzter Zeit schon des Öfteren hatte herhalten müssen. Als ich am Anrufbeantworter vorüberkam, der mit blinkendem rotem Lämpchen auf der Anrichte stand, drückte ich auf ›play‹.
»Hallo, Poppy, hier spricht Sam.«
Das leere Babyfläschchen rutschte mit aus der Hand und sprang auf den Terrakottafliesen davon. Meine Hand erstarrte in einer krallenähnlichen Haltung.
»Äh, da gibt es noch eine Entwicklung, über die ich gerne mit Ihnen sprechen würde. Persönlich, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er klang unbehaglich. »Es wäre vielleicht das Beste, wenn Sie zu mir ins Büro kommen würden. Sagen wir, gleich morgen früh? Um neun?«
Es folgte eine Pause. »Wenn ich nichts von Ihnen höre, gehe ich davon aus, dass es so passt«, endete er ein wenig barsch.
Ich taumelte ins Wohnzimmer, wobei ich mich an den Möbeln festhalten musste, erreichte mit Müh und Not das Sofa und ließ mich der Länge nach und vornüber darauf fallen. Dann legte ich mir ein Kissen auf den Kopf und stöhnte leise.