23
Am folgenden Morgen erwachte ich aus einem schrecklichen Traum, in dem ich in BH und Unterhose von Mary Granger die Straße hinuntergejagt wurde, während sie fortwährend »Sie böse, böse Frau, Sie!« kreischte. Ich zog mich angemessen an und fuhr in die Stadt. Schwarzes Shirt, schwarze Jacke, schwarze Wildlederstiefel. Nicht unbedingt Trauerkleidung – obwohl ich dieses Ensemble tatsächlich zum letzten Mal bei der Beerdigung meines Mannes getragen hatte, wie ich im Auto sitzend feststellte –, aber es war gedeckt, nüchtern und korrekt. Ich hatte den Tag zunächst in einem trotzigen Ich-bin-dann-mal-mit-meinem-Lover-weg-Outfit begonnen – pinke Hose, Boho-Shirt, hohe Wedges –, doch dann hatte mich auf halbem Weg der Mut verlassen und ich war zurückgerannt, um mich umzuziehen.
Archie war auch mit dabei. Ich hätte ihn bei Jennie lassen können – was eigentlich besser gewesen wäre, denn er konnte ziemlich grantig werden, wenn er seinen Vormittagsschlaf nicht bekam –, aber irgendwie brauchte ich den Schutz, den er bot, wie ich mir schuldbewusst eingestehen musste. Eine Frau mit einem Baby im Arm durfte man nicht schlagen, oder? Nicht dass Sam mich schlagen würde, aber doch verbal attackieren. Die Erinnerung an sein bitteres Gesicht, mit dem Handy am Ohr, hoch zu Ross, ließ mich erzittern. Archie, der hinter mir in seinem Autositz saß, blinzelte verschlafen in den Rückspiegel. Ich überlegte, ob ich ihn tragen sollte, in einen Umhang gehüllt. Ganz auf die Mitleidsnummer setzen. Aber seine Kuscheldecke, an der er jetzt nuckelte, würde genügen. Ich konnte ihn darin einwickeln und ihn mir wie ein Findelkind an die Brust drücken.
Nachdem ich bei Waitrose geparkt hatte, hob ich meinen mittlerweile schlafenden Sohn in seinen Buggy und eilte mit ihm die High Street entlang. Drei Minuten vor neun. Aber … warum rannte ich eigentlich so? Wozu die Eile? Vielleicht hatte ich ja keinen Parkplatz gefunden? Vielleicht war der bei Waitrose voll gewesen? Unwahrscheinlich, so früh am Morgen, aber vielleicht hatte ich Sams Nachricht auch gar nicht bekommen? Hatte den Anrufbeantworter nicht abgehört? Oder hatte alle Nachrichten versehentlich gelöscht? Diese und andere höchst fadenscheinige Entschuldigungen schwirrten mir im Kopf herum, während ich mich dem Gebäude von Sams Kanzlei näherte. Dann kamen die trotzigeren: Warum, zum Henker, sollte ich eigentlich gleich springen, wenn er rief? Und warum sollte er den Termin bestimmen und nicht ich? Nächste Woche Freitag würde mir viel besser passen. Oder sogar erst nächsten Monat. Weil ich die Beschuldigte war, darum, dachte ich und schluckte. Weil so eben das Rechtssystem funktionierte: Man wurde vorgeladen. Der Richter kam nicht zu einem nach Hause und machte es sich im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee gemütlich.
Inzwischen stieg ich die Treppen hinauf, den schlafenden Archie im Arm, den Buggy zusammengeklappt in der anderen Hand. Oben klappte ich ihn wieder auseinander und setzte Archie hinein, aber nicht unbedingt so vorsichtig wie möglich. Ich schubste ihn dabei ganz ordentlich hin und her, damit er … Damit er vielleicht aufwachte? Einen Wutanfall bekam und anfing, wie am Spieß zu brüllen, wie er es oft tat, wenn er aus dem Tiefschlaf aufgeweckt wurde, sodass wir dann bestimmt gleich wieder nach Hause gehen konnten?
»Was für ein süßer Kleiner«, flüsterte mir jemand über die linke Schulter.
Ich zuckte zusammen. Es war die Rezeptionistin, Janice, die mit frisch nachgezogenem rosa Lippenstift aus der Damentoilette auf dem Treppenabsatz kam.
»Oh. Danke.«
»Mrs Shilling, nicht wahr?«
»Äh, ja …« Ich warf einen sehnsüchtigen Blick zur Treppe hinüber.
»Um neun bei Sam? Er ist schon drinnen und wartet auf Sie.« Sie lächelte Archie strahlend an. »Möchten Sie ihn bei mir lassen?«
»Nein, nein, ich nehme ihn mit rein.«
»Das macht aber keine Umstände!«
»Vielleicht doch. Er ist ein kleines Monster.«
»Auf mich macht er einen ganz friedlichen Eindruck.«
»Nehmen Sie bitte die Hände von meinem Buggy.«
Sie schrak zusammen und wurde ganz blass. »Ich verstehe schon«, sagte sie rasch. »Sie haben Ihren Mann verloren, da kann man schon mal ein wenig gluckenhaft werden.«
Sie bedachte mich mit einem mitleidigen Blick und führte uns durch den Empfangsbereich und dann gab es kein Zurück mehr, denn sie war bereits vorausgeeilt, um eine weitere Tür zu öffnen, die in Sams Heiligtum führte.
Der Raum war noch immer so sauber und ordentlich wie bei meinem letzten Besuch, was ich irgendwie als schlechtes Omen deutete. Der Mann selbst saß hinter seinem Schreibtisch, Anzugjacke und Krawatte an Ort und Stelle, keine lässig aufgekrempelten Hemdsärmel mehr. Er telefonierte gerade und gab mir mit einem erhobenen Finger zu verstehen, dass er gleich fertig wäre. Sein Gesicht war ernst, ja beinahe steinern. Mit schwindender Hoffnung nahm ich ihm gegenüber Platz und zog Archies Buggy ganz nah zu mir heran. Nein, vor mich.
»Ich verstehe«, sagte Sam ernst. »Ja, das hatte ich mir schon gedacht.« Er massierte sich die Stirn mit den Fingerspitzen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht nach unten gerichtet. »Danke, dass Sie mir das bestätigen konnten.«
Seine dunklen Haare hatten, wie ich bemerkte, an den Schläfen die ersten grauen Strähnen. Vornehm sah er aus, attraktiv. Mein Vater hätte gesagt, ein Offiziersgesicht; er war selbst einmal Offizier gewesen, vor vielen Jahren, in der Kavallerie. Wie hatte ich diesen Mann jemals zum Fußvolk zählen können wie mich selbst? Plötzlich stieg Wut in mir auf. Dieses ganze Setting, über eine wackelige Hintertreppe hinauf in die Kanzlei eines Provinzanwalts, war nur Fassade gewesen, eine Täuschung, ein Versuch, als Mann des Volkes zu erscheinen. Aber ich hatte ihn vor seinem Landsitz hoch zu Ross in seinem roten Jagdrock gesehen. Oh ja, ich wusste es besser.
»Die Beweislage ist eindeutig«, sagte er gerade. »Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Sowohl die Indizien als auch die direkten Beweise. Und ganz offensichtliches Schuldbewusstsein zum Zeitpunkt der Tat. Schon allein die Flucht vom Tatort.« Er blickte zu mir auf. Fixierte mich. Ich errötete. Scheiße. Da war von mir die Rede. »Sie hat absolut keine Chance«, fuhr er fort. Meine Oberschenkel fühlten sich an, als wären sie im Fesselgriff meiner Strumpfhose gefangen. Ich saß da wie gelähmt.
Nach einer Weile verabschiedete er sich. Sein Gesicht war ernst, als er den Telefonhörer aus der Hand legte. Doch dann geschah etwas Seltsames. Er erhob sich, strahlte, kam um seinen riesigen, lederbezogenen Schreibtisch herum und beugte sich herab, um mich auf beide Wangen zu küssen.
»Poppy. Wie schön, Sie zu sehen. Sie haben überlebt, wie ich sehe! Ich muss schon sagen, ich fand es ungemein mutig, wie Sie da über die Hecken und Gräben geflogen sind, und das obwohl Sie, wie ich gehört habe, noch nie zuvor bei einer Jagd mitgeritten sind. Alle waren unglaublich beeindruckt und der alte Gerald Harper meinte sogar ganz laut zu mir, Sie hätten Mumm!« Er warf den Kopf zurück und lachte.
Ich blinzelte verwirrt. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, ich wäre erledigt. Dabei hatte ich scheinbar Mumm? Hatte er am Telefon vielleicht doch über jemand anderen geredet? Einen anderen Fall?
»Und ich kann Ihnen sagen, dass es wirklich keine einfache Strecke war. Manchmal trödeln wir nur endlos durch den Wald und es passiert nichts; aber gestern hatten wir einen Fünfender und Sie waren ganz vorne dabei, mitten unter den Besten!«
»Ja, nur … manchmal ein bisschen zu weit vorne«, brachte ich mühsam hervor und fragte mich, was wohl als Nächstes kommen würde.
»Ach, na ja, das kann jedem mal passieren. Als ich das erste Mal dabei war, habe ich den Master, die Hunde und sogar den verdammten Fuchs überholt! Und bin schließlich meilenweit entfernt bei einem Bier in einem Pub gelandet, mein keuchendes Pferd draußen angebunden und zu viel Schiss, mich wieder draufzusetzen!«
»Herrlich, herrlich«, krächzte ich verblüfft. Seine Augen schienen mich geradezu bewundernd anzustrahlen und er stand immer noch ganz in meiner Nähe; er lehnte sich mit dem Rücken an seinen Schreibtisch, sein Hosenstall auf Augenhöhe.
»Äh, Sam, warum haben Sie mich hergebeten?«
Er wirkte überrascht. Fast ein wenig erschrocken, so als hätte er irgendeine Grenze übertreten.
»Verzeihung.« Er richtete sich auf. Ging zu seinem Schreibtisch zurück und machte wieder ein ernstes Gesicht, als er sich hinsetzte. Dann schob er einige Unterlagen hin und her und blickte zu mir auf. »Poppy, es gibt eine ziemlich interessante Entwicklung.«
Aha. Das war es also. Jetzt kam es. Mental ging ich wie vor einem drohenden Flugzeugabsturz in die Crash-Position. »Ach ja?«
»Wie es scheint, hat Emma Harding ihre Ansprüche auf die Erträge aus dem Unternehmen Ihres Mannes zurückgezogen.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Sie hat was? Warum?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, weil sie jetzt mit Simon Devereux verheiratet ist. Es würde mich nicht wundern, wenn das sein Einfluss oder der seiner Familie ist.«
»Aber warum?«
»Nun ja, mal abgesehen davon, dass er ein anständiger Kerl ist, den vermutlich schon die Vorstellung entsetzt, ist er zudem noch ein hoffnungsvoller Kandidat fürs Parlament. Frisch angetraute Gattin des Abgeordneten erzwingt sich Erbe von der Witwe ihres verstorbenen Geliebten. Nicht unbedingt die Schlagzeile, die Simon in der Lokalzeitung oder sogar der Daily Mail sehen möchte. Ich glaube nicht, dass es der Karrieresprung wäre, den er sich vorgestellt hat.«
»Nein – vermutlich nicht.«
»Und vielleicht hat Miss Harding es auch ein wenig mit der Angst gekriegt, nachdem Sie gestern mit uns geritten sind, und sie ist zu der Erkenntnis gekommen, dass Sie nicht so einfach aufgeben werden. Sich nicht leise zurückziehen.« Seine Augen begannen bedrohlich zu glänzen. Ich hatte das ungute Gefühl, er könnte gleich wieder das Wort Mumm erwähnen. »Jedenfalls hat irgendetwas, was immer es auch war, dazu geführt, dass sie einen Rückzieher gemacht hat, was Sie – mal abgesehen von den Shillings, die, wie ich wette, sich ohne Miss Hardings Unterstützung ebenfalls zurückziehen werden – zur Alleinerbin des Vermögens Ihres Mannes macht und damit auch zur Erbin aller Anteile an der Bank, die ihm als Mehrheitsteilhaber gehören.«
Wie wir bereits wussten, lief das auf eine ziemliche Menge Geld hinaus. Ich erinnerte mich an die Zahl, die er mir auf einem Stück Papier unter die Nase gehalten hatte. Doch zugleich war die Summe unter den gegebenen Umständen ziemlich irrelevant. Denn letztendlich war es doch nur Geld. Die Aussage dieses Satzes schoss mir wie ein Pfeil ins Herz. Nur Geld. Nicht Ehre oder Anstand oder Rechtschaffenheit. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Danke. Wie wunderbar. Ja, das wird schon einen gewaltigen Unterschied machen.«
Er blinzelte. Ich hatte gerade das große Los gezogen und hatte nun nichts anderes zu sagen, als dass es einen Unterschied machen würde?
»Na, aber hallo! Das ist doch sicher eine riesige Erleichterung?«
Er schien sich wirklich für mich zu freuen. Wie süß. Ja, er wirkte richtig begeistert. Aber schließlich war es für ihn ein Coup, einen Fall für eine Klientin zu gewinnen. Das war etwas, das er heute Abend mit seinen Kumpels im Pub feiern konnte. »Gewonnen! Hab’s dieser Harding-Tante gezeigt und für meine Klientin das Eisen aus dem Feuer geholt, eine ordentliche Menge Cash. Was willst du trinken, Dave? Die Runde geht auf mich.« Aber so war sein Leben ja gar nicht, das vergaß ich immer wieder. Dann eben im Billardzimmer bei ihm zu Hause im samtenen Hausrock, während er genüsslich mit einem Freund eine Zigarre schmauchte. »Konnte heute einen kleinen Coup landen, Peregrine. Hab eine Witwe vor dem Armenhaus bewahrt, wenn ich so sagen darf.«
»Na sieh einer an, gut gemacht, alter Junge«, knurrte Perry. »Noblesse oblige und so weiter. Du bist dran.«
Ich holte tief Luft.
»Und danke für Ihren Rat und die wertvollen Instruktionen.« War dies das richtige Wort? Vermutlich nicht. Und es war ja letztlich gar nicht so viel gewesen. Und jetzt war alles vorbei.
»Ach, keine Ursache«, erwiderte Sam wieder ganz in der Rolle des Anwalts. Er hatte sich zurückhalten müssen, um nicht allzu freundschaftlich zu werden, was ich mir noch vor einer Woche nur zu gerne hätte gefallen lassen. Ja, ich hätte ihn noch darin bestärkt. Aber jetzt nicht mehr.
»Natürlich sind da jetzt noch unzählige Hürden zu überwinden«, sagte er nun, setzte seine Brille auf – stand ihm gut – und erklärte mit Blick in ein ringgebundenes Manuskript: »Die Geschäfte Ihres verstorbenen Mannes waren profitabel, aber kompliziert; das muss man jetzt alles auseinanderdröseln. Ich habe schon ein paar Anrufe getätigt, mich vorab ein wenig informiert, und es scheint, als würde die Finanzaufsicht die Bank gerade untersuchen. Wussten Sie das?« Er blickte mich über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Ja, das wusste ich«, antwortete ich mechanisch. »Ich habe einen Brief von einem der Partner bekommen.« Ted Barker hatte mir geschrieben, direkt nach seinem Kondolenzschreiben, um mir zu sagen, falls ich in der Finanzpresse irgendetwas davon lesen würde, dass die Bank untersucht würde, dann sollte ich mir keine Sorgen machen, das sei reine Routine. Finanzpresse? Ich hatte in letzter Zeit ja noch nicht mal mehr Revolverblätter gelesen.
»Das ist wohl eine reine Routineuntersuchung«, wiederholte ich nun für Sam.
»Ja. Obwohl …« Er zögerte.
Ich wartete. »Ja?«
»Nun, da gibt es offenbar gewisse Unstimmigkeiten in der Buchführung. Und es liegt eine Beschwerde eines Kunden vor.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das kam öfter vor, dass sich Kunden beschwert haben, wenn sie das Gefühl hatten, dass sich ihre Investition nicht richtig bezahlt machte. Das hat Phil immer gesagt.« Ich lächelte matt. »Mein Mann hatte viele Fehler, Sam, aber er war korrekt. Die werden nichts finden.«
»Bestimmt nicht, da bin ich sicher. Aber es wird noch eine Weile dauern, fürchte ich, bis Geld fließt. Aufgrund dieser Maßnahme muss jetzt alles bis ins Detail durchgekämmt werden, es wird also nicht ganz so glatt laufen.«
Was läuft schon jemals glatt, dachte ich bedrückt und hob das Plüschtier auf, das Archie fallen gelassen hatte.
»Aber ich denke, dass wir das innerhalb der nächsten sechs Monate klären könnten und bis zum Sommer dann hoffentlich eine Einigung erzielt haben.«
»Prächtig.« Ich lächelte bemüht. Stand auf.
Er machte ein überraschtes Gesicht. Beendete ich das Gespräch? Ja, das tat ich. Ich streckte die Hand aus – nein, kein Küsschen, Sam – und er erhob sich langsam und nahm die Brille ab.
»Und noch einmal vielen Dank für Ihren professionellen Rat.« Ich hörte mich an wie ein Politiker. Jeden Augenblick würde ich jetzt sagen: »Und abschließend möchte ich bemerken …« Aber egal, ich hatte es überstanden. War noch einmal davongekommen, könnte man auch sagen. Aber es fühlte sich nicht gut an. Ich hatte das Gefühl, ihn zu hintergehen.
Nach dem Händedruck ging ich mit meinem schlafenden Kind zur Tür. Das Gespräch, vor dem ich mich so sehr gefürchtet hatte, war vorüber und ich war auf dem Weg nach draußen. Außerdem war ich eine reiche Frau. Diese Tatsache und inwieweit sie mein Leben verändern könnte, würde mir bald bewusst werden, da war ich mir sicher. Vielleicht schon innerhalb der nächsten Augenblicke, dort draußen auf der High Street, wenn ich begriff, dass ich alles in den Schaufenstern kaufen konnte. Mir war irgendwie schwindelig. Ob es das Geld war?, überlegte ich. Nein, wohl eher nicht. Ich hatte nicht gefrühstückt, was die Sache natürlich nicht besser machte. Und wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich auch gestern gar nichts gegessen. Kein Frühstück vor der Jagd – da hatte ich zu viel Angst gehabt. Kein Mittagessen – da war ich zu sehr damit beschäftigt, über verdammt hohe Hecken zu springen. Kein Abendessen – da war ich zu schockiert gewesen. Kein Frühstück heute Morgen – da hatte ich zu viel Angst gehabt. Ein richtiges Muster, was sich da abzeichnete.
Ich war mir bewusst, dass Sam mir hinterhersah, und so rief ich ihm über die Schulter noch ein fröhliches ›Wiedersehn‹ zu, doch als ich Archie an einer lächelnden Janice vorbei durch den Empfangsbereich schob, blieb ich plötzlich stehen. Mir war auf einmal so seltsam.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Sie blickte stirnrunzelnd zu mir empor und meinte besorgt: »Sie sehen sehr blass aus!«
»Ja. Alles bestens, danke.« Ich hielt einen Moment inne. Wollte gerade weiterschieben und blieb wieder stehen. »Äh, könnten Sie vielleicht doch kurz auf ihn aufpassen?«
»Aber natürlich.«
Ich machte kehrt und ging mit unsicheren Schritten in Sams Büro zurück. Machte die Tür hinter mir zu. Dann trat ich an seinen Schreibtisch.
Er hatte sich noch nicht wieder hingesetzt, sondern stand in Gedanken versunken da und blickte auf den Ordner mit den Unterlagen hinab, die Fingerspitzen auf dem Schreibtisch gespreizt wie ein Pianist, der einen Schlussakkord hält. Er blickte auf, wirkte erfreut, wenngleich überrascht, während ich auf ihn zustolperte.
»Ich habe Ihren Hund getötet«, krächzte ich und klammerte mich an die Kante seines Schreibtischs.
»Meinen Hund?«
»Ja. Das war ich. Totgetreten.«
»Aber … Betsy? Ich hab sie doch eben erst gesehen. Da hat sie in ihrem Körbchen geschlafen …«
Wir starrten uns an. Langsam fiel der Groschen.
»Den Jagdhund«, sagte ich rasch.
Er runzelte die Stirn. »Peddler?«
»Genau. Ich hab ihn getreten. Oder vielmehr Thumper. Ist alles dasselbe. Und obwohl ich ihn nicht vergraben habe, habe ich ihn doch mit Farn bedeckt. Aber das war ganz instinktiv – aus Respekt sozusagen, wie eine Decke. Ich sehe ein, dass es den Eindruck macht, als hätte ich etwas verbergen wollen. So als hätte ich einen Mord vertuschen wollen.«
Mord. Ich schloss die Augen. Das war ein Fehler. Der Raum fing an sich zu drehen und ich verlor das Gleichgewicht, trat einen Schritt zurück und ließ den Schreibtisch los. Rasch schlug ich die Augen wieder auf und streckte die Hand aus, um mich festzuhalten, doch da war nichts. Stattdessen fuhr meine Hand an meine Stirn, die feucht war. Dann sah ich den Fußboden auf mich zukommen und im Bruchteil einer Sekunde wusste ich, dass es zu spät war, ich wurde ohnmächtig.