25

Als ich am folgenden Tag über die Landstraßen nach Wessington fuhr, dachte ich darüber nach, was für ein Wirbelsturm in den letzten paar Monaten durch unser Dorf gefegt war. Zuerst hatte Tom Angie verlassen und der Mini-Tornado hatte sich auf ihr Haus gesetzt; dann war Phil gestorben und der Mistral war die Straße hinunter bis zu mir gefegt; und jetzt war Frankie schwanger und die Windhose drehte sich heftig über meiner Freundin. War das einfach das Leben?, überlegte ich. Dass eine Familie in eine Krise gestürzt wurde, aus der sie sich mühsam herausarbeitete, um sogleich von der nächsten heimgesucht zu werden? Waren wir alle einmal dran, in ein Loch zu fallen? Mir schien es aber so, als würden einige Leute niemals hinfallen; dauerhaft standen sie auf der Sonnenseite des Lebens und waren immun gegen den Sog der schmutzigen Unterströmung des Lebens. Aus irgendeinem Grund kamen mir Chad und Hope Armitage in den Sinn. Ich seufzte.

Natürlich verbreitete sich die Nachricht in unserer eng verbandelten Gemeinschaft wie ein Buschfeuer. Ich hatte niemandem von Frankie erzählt, natürlich nicht, aber als Dan am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war und Jennie ihm von ihrem Fund erzählt hatte, ganz ruhig und vernünftig, ohne Schuldzuweisung oder Tadel, hatte er genauso reagiert wie Jennie hier in meinem Wohnzimmer. Er war schockiert gewesen, entsetzt, bekümmert. Sein kleines Mädchen. Und auch noch von einem Lehrer! Verdammte Scheiße! Und dann war Frankie zu spät heimgekommen, und bevor Jennie ihn hatte beruhigen können, war bei ihm die Sicherung durchgeknallt. Das wusste ich, weil ich es in meiner Küche gehört hatte. Obwohl ich im Wohnzimmer den Fernseher angestellt und die Finger in die Ohren gesteckt hatte. Und dann war wiederum Jennie die Sicherung durchgebrannt wegen Dan und dieser ganzen Geschichte, und es hatte sich die schlimmste und schrecklichste Szene entwickelt, die man sich nur vorstellen konnte.

»Ich habe einen Vortrag gehalten, habe nicht zugehört, war nicht ruhig, war nicht stark«, schluchzte sie voll Entsetzen. »Alles, was du mir gesagt hattest, was ich nicht tun soll, habe ich getan.«

»Aber doch nicht Frankie gegenüber?«, fragte ich besorgt. »Du bist doch nicht ihr gegenüber ausgetickt, oder?«

»Nein, das nicht. Vor allem gegenüber Dan.« Sie sah grau aus, wie sie da am Morgen nach der Alptraumnacht zusammengesunken an meinem Küchentisch saß, noch immer den Schlafanzug unter ihrem Mantel. »Ich habe versucht, Frankie vor ihm in Schutz zu nehmen, aber es war keine schöne Szene, Poppy. Keiner von uns beiden Erwachsenen hat sich in irgendeiner Weise korrekt verhalten. Du hast doch nichts gehört, oder?« Ermattet fuhr sie sich mit der Hand durch die wirren Locken.

»Nein, nein«, log ich.

»Gut. Aber Avril Collins auf der anderen Seite sah so hocherfreut aus heute Morgen, als sie die Milch von ihrer Treppe hereingeholt hat, da dachte ich nur: Oh, Mist.«

»Es spielt doch gar keine Rolle, wer es weiß«, erklärte ich ihr sanft. Was wieder nicht der Wahrheit entsprach, weil es natürlich doch eine Rolle spielte. »Weißt du jetzt, wie weit … sie ist?«, fragte ich vorsichtig.

»Du meinst wohl, ›wie lange der Braten schon in der Röhre ist‹, oder wie man das an sozialen Brennpunkten so nennt, Poppy?«, sagte sie und da war plötzlich ein Hauch der alten Jennie und aus ihren müden Augen blitzte ein mutiger Blick. »Wenn sich die ketterauchenden minderjährigen Mütter aus dem achtzehnten Stock unterhalten. Und man wird auch nicht ›schwanger‹, sondern man wird ›angebufft‹.« Sie schauderte. »Die Antwort ist: Ich weiß es nicht«, sagte sie verzagt. »Sie will es mir nicht sagen. Sie sagt eigentlich überhaupt nichts mehr. Deswegen ist Dan ja auch so wütend geworden.«

»Gar nichts?«

»Absolut null Komma null. Sie hat nur in das verzerrte Gesicht ihres Vaters gestarrt, als er da wie ein Wahnsinniger getobt und gewütet hat, und ist dann in ihr Zimmer hochgerannt, hat die Tür zugeknallt und abgeschlossen.«

»Und was nun?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube, wir warten erst mal, bis sich alle ein wenig beruhigt haben. Und dann versuche ich heute Abend vielleicht mit ihr zu sprechen. Ein Tag mehr oder weniger wird auch keinen Unterschied machen.«

Sie seufzte. »Jedenfalls wollte ich mich nur erkundigen, ob du uns gehört hast.«

»Kein bisschen.«

Ich begleitete sie zur Tür, und da sie gekommen war, als ich gerade hatte gehen wollen, nahm ich meine Tasche mitsamt Archie und begleitete sie hinaus. Als ich die Tür hinter mir abschloss, bemerkte ich aus dem Augenwinkel vor dem Dorfladen eine kleine Versammlung von Regenmänteln und Schirmen. Avril Collins, Yvonne und Mrs Fish. Sie schauten mit großen Augen in unsere Richtung, um gleich darauf wieder die Köpfe zusammenzustecken. Rasch stellte ich mich zwischen sie und Jennie.

Doch Jennie war gar nicht in der Verfassung, irgendetwas zu bemerken. Sie stand mit Hausschuhen an den Füßen mitten auf meinem Gartenweg im Nieselregen, die Tröpfchen legten sich wie ein Spinnennetz auf ihre Wuschellocken.

»Ich dachte, ich hole sie heute Nachmittag von der Schule ab, gehe mit ihr zu Topshop und dann einen Burger essen. Meinst du, das würde ihr gefallen?« Sie wandte sich mit besorgter Miene zu mir um.

Normalerweise ja. Aber wenn Jennie unter den gegebenen Umständen einfach so am Schultor auf sie wartete

»Vielleicht solltest du ihr vorher lieber noch eine SMS schreiben«, schlug ich vor. »Dann kann sie es sich überlegen.«

»Gute Idee.« Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche. Sanft legte ich meine Hand darauf. »Und vielleicht gehst du erst mal rüber und überlegst dir, was du schreiben willst.«

Jennie riss die Augen weit auf und sah mich voll leidenschaftlicher Bewunderung an. Ich wollte sagen: Nein, Jennie, ich bin kein Guru, aber ich weiß, wie das ist. Wie ein kopfloses Huhn herumzurennen, den Weg von der Kirche hinunterzueilen und ganz zu vergessen, meinen Mann zu beerdigen, auf der Adrenalin-Welle zu schwimmen, die in der Folge des Schocks kommt. Das Erstbeste zu tun, was einem in den Sinn kam, impulsiv zu handeln. Und ich wusste auch, wie es dann weiterging, von der schrecklichen Depression, die dann folgte. Während der ich vergessen hatte, meinen Kindern etwas zu essen zu geben, sie anzuziehen, sie liebzuhaben. Ich schauderte, als ich meinen Schlüssel einsteckte. Ich wusste, dass es mir für den Rest meines Lebens leidtun würde. Ich wusste, wie uns Schuld – oder vielmehr ein ungerechtfertigtes Gefühl von Schuld – dazu bringen kann, dass wir uns unlogisch verhalten, uns gar nicht wiedererkennen, dass wir plötzlich sind, wie wir nie dachten, sein zu können.

All das sagte ich meiner Freundin aber nicht. Stattdessen sagte ich: »Geh jetzt und mach dir eine Tasse Kaffee und sortier dich ein bisschen, dann schreibst du ihr die SMS, okay?«

Sie nickte gehorsam. Rannte meinen Weg hinunter und ihren hinauf und es kam mir so vor, als wären wir wie ein Paar in einem dieser kleinen Wetterhäuschen, wie wir hier zwischen unseren Häusern hinaus- und hineinliefen und Regen oder Sonnenschein vorhersagten, je nach der aktuellen Krisensituation, und damit dem ganzen Dorf unsere Angelegenheiten kundtaten. Ach, rutscht mir doch den Buckel runter, dachte ich und hob Archie auf meine Hüfte, während ich den Weg hinunterging.

»Guten Morgen, Avril«, konnte ich mir nicht verkneifen, über Jennies Garten hinweg zu rufen, als ihre andere Nachbarin vom Laden zurückkam und neugierige Blicke über die Hecke warf. »Ja, ganz recht, im Apple Tree Cottage gibt es Probleme.« Ich warf ihr einen bösen Blick zu und marschierte zu meinem Wagen, wo ich einen überraschten Archie in seinen Sitz fallen ließ. Das tat mir natürlich sofort leid. Wenn ich mich schon derart echauffieren konnte, welche Hoffnung gab es dann für Jennie?

Während ich nun also an der Gemeindewiese entlang durch Wessington fuhr, dachte ich noch einmal in Ruhe über alles nach und fragte mich, ob Frankie wirklich so dumm sein konnte, sich von einem Lehrer verführen zu lassen. Ich hatte mir schon letzte Nacht überlegt, dass das letztlich unwahrscheinlich war. Aber wer war der Junge? Da würde es dann wohl noch eine Familie geben, die ähnlich erschüttert werden würde. Und aus schwer zu definierenden Gründen, die noch aus Urzeiten herstammten, gab man letztlich immer dem Jungen die Schuld. »Er hat sie in Schwierigkeiten gebracht«, würden die Avril Collinses dieser Welt sagen; nicht etwa: »Sie hat ihn in Schwierigkeiten gebracht.« Ich warf im Rückspiegel einen Blick auf meinen kleinen Sohn, während wir durch den schwachen, milchigen Sonnenschein sausten, der Mühe hatte sich durchzusetzen, nachdem der Regen nun nachgelassen hatte. »Sei bloß vorsichtig, mein Junge«, flüsterte ich. »Halt dich von den hübschen Mädchen fern.«

Er grinste zurück und zeigte dabei seine kleinen Zähne.

Die Hundezwinger lagen am Ende der Gemeindewiese, noch ein Stück einen holprigen, kleinen Feldweg entlang, der auf einem Bauernhof endete. Zwei funktionale Zwinger aus Leichtbausteinen lagen rechts und links parallel zu einem gepflegten Hof und ein weißes, viktorianisches Cottage duckte sich am anderen Ende. Ein paar Hunde bellten ein Willkommen, als ich ankam, aber die meisten waren schläfrig und still. Ich fuhr durch den Hof und parkte direkt vor dem Haus, damit ich von drinnen Archie würde sehen können, der mittlerweile eingeschlafen war. Aber beim Aussteigen merkte ich, dass es ein bisschen arrogant wirkte, so nahe an den Fenstern zu parken. Ich wollte schon zurückgehen und das Auto woanders hinstellen, als ich sah, dass Mark auf der Eingangstreppe des Hauses saß und mir zusah, es war also ohnehin zu spät. Einer seiner Jagdhunde lag auf dem Rücken zwischen seinen Beinen und er schien etwas mit seiner Pfote zu machen. Zögernd ging ich näher, während er mich mit der Pinzette in der Hand ansah. Der Hund zappelte kurz, war aber nach einem kurzen Befehl von Mark sofort wieder regungslos und gehorsam. Ich stand vor ihm.

»Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Mein Pferd hat Peddler getreten und ich hab Panik gekriegt und es keinem gesagt. Ich wollte schon, ehrlich, aber alles ging so schnell und mir war klar, dass ich etwas Schlimmes getan hatte, und da hab ich mich nicht mehr getraut. Ich schäme mich sehr dafür und es tut mir so leid, dass ich Ihren Hund getötet habe.«

Er ließ seinen Blick weiter auf mir ruhen, wobei seine dunklen Augen in dem glatten, braungebrannten Gesicht wie zwei glänzende Kohlestückchen wirkten.

»Du bist die Tochter von Peter Mortimer, nicht wahr?«, sagte er schließlich in seinem langsamen, ländlichen Tonfall. »Ich bin Mark, kannst gerne du zu mir sagen.«

»Kennen Sie, ich meine, kennst du meinen Vater?«

»Jeder kennt deinen Vater. Wo, glaubst du denn, kriegen wir unsere Pferde her? Der Braune, den du da hattest, könnte ein gutes Jagdpferd werden, aber er hätte dir sagen sollen, dass er tritt.«

»Vielleicht wusste er das gar nicht.«

»Es ist aber sein Job, das zu wissen. Ich werde das vom Preis abziehen, wenn ich wieder mal ein Pferd bei ihm kaufe. Das hab ich ihm schon gesagt. Es ist übrigens alles okay, er hat mich schon angerufen.«

»Das hat mein Vater getan?«

Er nickte und setzte seine Untersuchung der Pfote fort, in der, wie ich nun aus der Nähe erkennen konnte, ein großer Dorn steckte. Er zog ihn vorsichtig mit der Pinzette heraus und blickte dann wieder zu mir.

»Ich rechne es euch hoch an, dass du gekommen bist und dass dein Dad angerufen hat. Das würden nicht viele tun.«

»Oh.« Ich verspürte eine Welle der Erleichterung. Die Schlinge um meinen Hals lockerte sich ein wenig. »Aber du hattest ihn besonders gern, nicht wahr?«, fragte ich besorgt. »Peddler. Ich habe gehört, er war dein Liebling.«

»Taugt nichts, wenn man Lieblinge hat. Aber er war schon so lange bei mir. War der Älteste und Mutigste, das kann man so sagen. Aber auch der Ungehorsamste.« Er grinste und zeigte kurz sehr gelbe Zähne.

»Ach, wirklich?«

»Warum wohl sollte er sonst allein unterwegs gewesen sein? Der kleine Mistkerl hatte sich mal wieder aus der Meute davongeschlichen. Als wir vor ein paar Wochen bei euch in der Gegend, im Wald bei Massingham, gejagt haben, ist er uns auch verlorengegangen. Am Ende haben wir ihn erwischt, wie er es irgend so einer dahergelaufenen Promenadenmischung mit einem riesigen Plastikkragen um den Hals mal so richtig besorgte.«

Meine Güte. Leila.

»Er war ein alter Schlingel, das kannst du wohl glauben«, erklärte Mark. »Und ganz sicher war er irgendwo, wo er nicht hätte sein sollen, als dein Pferd ihn getreten hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er mit einem Lächeln auf dem Gesicht gestorben wäre. Vielleicht hatte ich ihn deswegen so gern, den Halunken.« Er erhob sich und ließ den Jagdhund los, der sich sofort umdrehte und aufsprang, um die Pfoten auf Marks Schultern zu legen und ihm wie wild übers Gesicht zu lecken.

»So ist es nun mal auf dem Land, Mädchen, Dinge sterben«, sagte er und drückte den Hund nach unten. »Dachse auf der Straße, Rehe, die sich in Zäunen verfangen. Wo immer du hinschaust, gibt es tote Tiere und Blutvergießen. Mach dir deswegen keinen Kopf.«

Ich seufzte dankbar. Ich sagte nichts, aber ich fühlte mich leichter, weniger gebeugt.

»Und wie gesagt, habe ich ja auch schon mit deinem Dad vereinbart, dass ich beim nächsten Mal Rabatt bekomme.« Das schien ihm sehr zu gefallen. »Und er hat dich übrigens nicht verpetzt. Ich wusste nämlich schon, dass du es warst, und er wusste, dass ich es wusste, deswegen hat er angerufen.«

Ich nickte beschämt.

»Tasse Tee?«, fragte er, als er sich umwandte, um nach drinnen zu gehen. Ich schaute zurück zum Auto. »Er schläft«, versicherte er mir, »und du kannst ihn vom Fenster aus sehen.«

»Danke.« Überrascht und erleichtert folgte ich ihm ins Haus. Ich kannte Mark Harrison nur vom Hörensagen, wusste aber genug über ihn, um zu wissen, dass er dumme Leute nicht ausstehen konnte und sich nicht viel aus menschlicher Gesellschaft machte. Außerdem war er sehr angesehen. Er war von undefinierbarem Alter, irgendwo zwischen leicht verlebten Dreißig bis hin zu munteren Fünfzig, und er war ein Mann wie mein Dad, einer, der Tiere leidenschaftlich liebte, aber dennoch ganz vernünftig und unsentimental mit ihnen umging. Aber falls ich hier drinnen ein Ebenbild der Wohnverhältnisse meines Vaters erwartet hatte, so wurde ich überrascht. Marks Haus war so ordentlich wie nur was. Keine Sättel, Zügel und Whiskyflaschen lagen hier herum, es gab eine blitzsaubere Sitzgruppe mit dicken, aufgebauschten Kissen, ordentlich gesaugten Teppichboden und eine Reihe von glänzenden Gläsern auf der Anrichte. Der einzige Hinweis darauf, dass es sich hier um den Haushalt eines pferdebegeisterten Menschen handelte, waren die gerahmten Fotos an einer Wand: Hunde, Pferde – und nur ganz selten Leute.

Als er verschwand, um Wasser aufzusetzen, ging ich hinüber, um die Fotos zu betrachten. Schöne Jagdpferde mit Hunden zu ihren Füßen, Welpen mit in die Höhe gereckten Schwänzen und wachen Augen; Mark als junger Mann, wo er fast genauso aussah wie jetzt: diese scharfen, leuchtenden Augen in dem glatten Gesicht, hauptsächlich die Kleidung und die Druckqualität deuteten darauf hin, dass die Aufnahme schon älter war. Einige der kleineren Fotos waren schwarz-weiß und stammten vermutlich aus der Zeit seines Vaters: Männer in Harris-Tweed und weiten Kniebundhosen. Ein Foto, klein und in Farbe, allerdings von der Sonne ausgeblichen, fiel mir besonders auf. Es war das einer Gruppe von jungen Leuten um die zwanzig: ein sehr hübsches Mädchen mit dunkler Sonnenbrille, zwei junge Männer rechts und links neben ihr, von denen einer Mark war und der andere

»Ist das Sam Hetherington?«, überrascht zeigte ich auf den Jungen mit den langen Haaren, in Jeans und T-Shirt, als Mark mit zwei Bechern zurückkam. Er reichte mir einen und folgte meinem Blick.

»Genau, am Tag nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Am Abend zuvor hatten wir alle ordentlich einen sitzen. Sieh dir nur unsere Augen an – wie Pisslöcher im Schnee.« Er lachte kurz und bellend auf. »Wir hatten viel Spaß zusammen, Sam und ich.« Er schlürfte nachdenklich seinen Tee. »Sein Vater war der Jagdherr, genau wie Sam es jetzt ist, und mein Dad der Hundeführer.« Er zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Foto von zwei Männern in Jagdröcken, das vor vielen Jahren vor einem Herrenhaus aufgenommen worden war. »Dieses Cottage hier gehörte früher zu Mulverton Hall. Aber jetzt nicht mehr.« Er lächelte. »Ich hab’s ihm abgekauft, ja, das hab ich. Sam war dankbar, denn er ist wirklich knapp bei Kasse. Die Erbschaftssteuer hat dieser Familie wirklich heftig zugesetzt«, bemerkte er bitter.

»Oh. Das wusste ich nicht.«

»Deswegen ist er ja nach Amerika gegangen, um ein bisschen Kohle zu machen.«

Ich hielt den Atem an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich, wenn ich mich still verhielt, noch mehr erfahren würde. Mir war bewusst, dass da so Vieles war, von dem ich nichts wusste, und ich wollte mehr hören. Aber Mark war ein schweigsamer Mann und so musste ich schließlich doch noch einmal nachhaken.

»Dann hast du ihn also gekannt, als ihr noch klein wart?«

»Oh ja, Sam und ich sind zusammen aufgewachsen. Haben als Kinder jeden Tag zusammen gespielt. So ging das, bis er aufs Internat musste. Aber wenn er in den Ferien zurückkam, dann sind wir geritten und waren zusammen in Pubs einen trinken, bis er schließlich nach New York ging. Es war eine von den Freundschaften, die diese liberalen Fatzkes nie verstehen werden, ist ihnen einfach zu feudal. Sie kriegen es nicht in ihre engstirnigen kleinen Köpfe, dass ich in seinen Diensten stand, während er im Herrenhaus residierte – und trotzdem waren wir Freunde. Aber es hat funktioniert. Funktioniert noch immer. Sam ist ein guter Mann. Einer der besten. Wirklich schlimm, dass seine Frau mit diesem Chad Armitage abgehauen ist.«

Ich drehte mich um. Starrte ihn an. »Was?«

»Ich habe gesagt, es ist schlimm, dass seine Frau mit seinem besten Freund durchgebrannt ist. Sieh mal hier. Das ist sie.« Er wies mit dem Finger auf ein Foto und ich wandte mich wie in Trance um. Er zeigte auf das hübsche Mädchen mit der Sonnenbrille. Sehr kurze, fransig geschnittene Haare. Natürlich, das war Hope. Cool und selbstsicher lächelte sie in die Kamera, während die beiden verkaterten Jungs neben ihr verlegen grinsten. Ihr Kinn war leicht in die Höhe gereckt, das Gewicht hatte sie auf den einen Fuß verlagert. Ich wandte mich wieder Mark zu.

»Hope war mit Sam verheiratet?«

»Kurz, ja. Sie waren alle zusammen in Harvard. Sam und Hope haben sehr jung geheiratet, nicht lange, nachdem dieses Foto hier aufgenommen wurde. Dann hat sie sich in seinen besten Freund Chad verliebt. Jedenfalls hat sie sich von Sam scheiden lassen und hat stattdessen ihn geheiratet.«

»Aber « Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Versuchte meine Gedanken zu sortieren. »Aber sie sind doch noch immer so gut befreundet. Sie wohnen in der Nähe, reiten gemeinsam aus, jagen «

»Oh, das ist alles schon viele Jahre her. Chad und Hope sind jetzt schon ewig zusammen, haben zwei Kinder und Sam wollte Chads Freundschaft nicht verlieren. Als er in den Staaten war, war Chads Familie wie seine eigene. Er hat die Ferien bei ihnen verbracht – in den Hamptons und so. Und Chad ist ein netter Kerl. Aber diese Hope. Sie macht ihn manchmal ziemlich fertig, weißt du?«

»Wen – Sam?«

»Genau.«

Mir schwirrte der Kopf. »Aber – warum ist er dann zurückgekommen? Warum ist er in ihrer Nähe?«

»Vielleicht muss er das sein.« Er sah mich unverwandt an. »Chad und Hope sind als Erste zurückgekommen, wegen Chads Arbeit. Haben sich ein Haus in London gekauft und dann das Wochenendhaus hier draußen, weil Hope die Gegend natürlich noch kannte aus ihrer Zeit mit Sam, da war das ganz normal. Dann hat Sam plötzlich verkündet, dass er ebenfalls London verlassen und seinen Pächtern kündigen will, um in Mulverton Hall wieder selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Etwas, was er früher nie vorhatte. Wirklich komisch.«

»Weil er es nicht ertragen kann, von ihr getrennt zu sein?«, hauchte ich.

Mark zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Das geht mich nichts an.« Er zwinkerte. »Aber beim Jagen bekommt man so einiges mit. Überrascht mich, dass deine Freundin Angie dir das nicht alles schon erzählt hat, aber vielleicht weiß sie auch gar nichts davon. Sie war damals ja noch nicht hier, obwohl sie so tut, als wäre sie im Sattel geboren und aufgewachsen.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Wie lange waren sie verheiratet?«

»Nur ein paar Jahre.«

»Also … war das keine ganz große Sache?«

»Abgesehen davon, dass er sie so geliebt hat, dass er ihr einen Ring an den Finger gesteckt und sich für den Rest seines Lebens an sie gebunden hat. Und Sam ist keiner, der so etwas leichtfertig tut.«

»Nein.«

Ich richtete meinen Blick wieder auf das Foto. Mein Gott, der arme Sam. Dieser lachende, sorglose junge Mann mit seinem Jugendfreund Mark und seiner amerikanischen Freundin, die er mit nach Hause gebracht hatte und die bald seine Frau werden sollte, obwohl sie nicht älter aussah als sechzehn. Und die er noch immer liebte? Und die, wie Mark es so gewandt ausgedrückt hatte, ihn von Zeit zu Zeit noch immer ziemlich fertigmachte. Kein Wunder, dass er einen gequälten Eindruck machte, wenn ihr Name fiel.

»Hat Sam dir das von Peddler erzählt?«, fragte ich plötzlich. Er hatte gesagt, mein Vater habe ihn angerufen, um es ihm zu erzählen, wobei er es aber bereits gewusst habe. »Dass es mein Pferd war, das ihn getreten hat?«

»Nein, das war Emma Harding.«

»Emma Harding!«

»Die Frau, die das Verhältnis mit deinem Mann hatte.«

Ich hielt den Atem an. Wer war dieser Mark Harrison? Dieser schlichte Mann in seinem einsamen Cottage, mit seinen Jagdhunden, der selbst kein Familienleben zu haben schien, der aber alles über alle wusste?

»Du hast meinen Mann gekannt?«

»War ja nicht zu übersehen. Die waren doch gleich hier um die Ecke. Dort drüben in dem Bruchsteinhäuschen.« Er deutete mit dem Kopf zum Fenster und mir wurde klar, dass Emmas Häuschen, an dem ich gerade vorübergefahren war, wirklich nicht weit entfernt lag. »Im Sommer gehe ich mit meinen Hunden an der Rückseite ihres Gartens entlang – wie sollte ich es da nicht wissen? Wie oft bin ich abends mit zwölf Paar Hunden dort vorbeigegangen und habe gesehen, wie er mit seinem Fahrrad an ihrer Hintertür ankam, so gegen sechs, von Kopf bis Fuß in blaues Nylon gekleidet. Der Auftritt war wirklich nicht zu übersehen.«

Sechs Uhr. Das war die Badezeit der Kinder. Zu der Phil angeblich nie nach Hause kommen konnte. »Scheinbar wusste es die ganze Welt«, sagte ich und schluckte.

»Aber den bist du ja nun endgültig los, nicht wahr?«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Und er hat seine wohlverdiente Strafe bekommen.«

»Das hat er«, pflichtete ich ihm bei und musste zurücklächeln. Ich hatte schon wieder vergessen, was für philosophische Ansichten der Mann über den Tod hatte.

»Sie hat gesagt, sie hätte gesehen, wie schuldbewusst du dreingeschaut hättest, als von Peddler die Rede war. Sie konnte an dem Abend gar nicht schnell genug über die Wiese zu mir herlaufen, um mir das zu erzählen, sie hatte noch nicht mal ihren Reitrock ausgezogen. Aber als sie dann nach Hause gefahren ist, wartete da auf sie auch schon eine unschöne Überraschung. Bei ihr stand nämlich die Polizei vor der Tür.«

»Die Polizei? Warum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Dachte, das wüsstest du. Scheinbar reden schon alle im Dorf davon. Irgendeine Form von Betrug. Wirtschaftsbetrug. Der Bruder von unserer Tierpflegerin ist hier Polizist und sagt, es sei etwas Geschäftliches. Habe mit ihrer Arbeit zu tun.«

»Mit ihrer Arbeit? Du meinst bei der Bank?«, fragte ich erstaunt nach.

Er machte ein ratloses Gesicht. »Keine Ahnung.«

Langsam ließ ich mich auf das Sofa hinter mir sinken; undeutlich nahm ich ein sehr dickes Kissen in meinem Rücken wahr. Gleichzeitig wurde mir aber etwas anderes umso deutlicher bewusst. Die Untersuchung der Bank durch die Finanzaufsicht, die ich für reine Routine gehalten hatte, weil Ted Barker mir das versichert hatte. Obwohl … er immerhin so besorgt gewesen war, dass er mir geschrieben hatte. Um mich zu warnen. Etwas, das Ted vor vielen Monaten einmal bei einer Dinnerparty bei sich zu Hause in Esher gesagt hatte, kam mir plötzlich wieder in den Sinn: dass die Überfliegerin im Büro ein ziemliches Risiko einging. Er hatte das mit einem Lächeln gesagt, während er mir meinen Gin Tonic mixte, aber ich hatte doch einen besorgten Unterton herausgehört. Das hatte mir damals nicht viel gesagt. Ich hatte sie ja nie kennengelernt. Aber die Bank hatte sie ziemlich schnell abserviert, nicht wahr? Sofort nachdem Phil gestorben war. Ich spürte, dass Mark mich ansah.

»Sie hat krumme Dinger gedreht«, flüsterte ich.

»So heißt es. Und was immer es ist, was sie getan haben soll, ich kann es mir vorstellen. Diese Frau ist durch und durch falsch. Aber jetzt ist sie ja in Polizeigewahrsam.«

Ich starrte zu ihm empor. »Emma Harding wurde festgenommen?«, fragte ich ungläubig.

»Das habe ich doch eben gesagt.«

»Ja, aber « Ich hatte Mühe, mir das Ganze vorzustellen. »Es kann doch nicht sein, dass man sie verhaftet hat und wirklich festhält. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau!«

Er zuckte mit den Schultern. »Diebstahl ist Diebstahl, ganz gleich, wer man ist.«

»Sie haben sie noch an dem Abend mitgenommen?«

»Nein, nur befragt. Sind dann heute Morgen zurückgekommen. Um sieben standen sie bei ihr auf der Matte. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, können Sie gerne Rob, den Stalljungen, fragen. Wir waren mit der Meute draußen am anderen Ende der Wiese und haben gesehen, wie sie im Morgenrock an die Tür ist, um dann mit bleichem Gesicht zu verschwinden und sich anzuziehen. Als sie den Weg hinunter zum Polizeiauto gegangen ist, sah sie aus, als hätte man auf sie geschossen.«

»Das glaube ich gerne.«

»Ihr Mann sah auch ziemlich finster aus. Er stand im Flur hinter ihr. Rob meinte, wenn je ein Mann einen Drink gebraucht hat, dann er.«

»Oh Gott!« Ich sog scharf die Luft ein. »Simon. Der ist sicher am Boden zerstört.«

»Das kann man wohl sagen.«

Mir schwirrte der Kopf, während ich versuchte, all dies zu verarbeiten. Emma Harding verhaftet. »Er ist ein guter Kerl, wissen Sie.«

»Schon, aber ein Dummkopf. Zugegeben, er ist nicht der Erste, der auf ein hübsches Gesicht reingefallen wäre.«

»Aber er ist ja schon vor Jahren auf sie reingefallen«, murmelte ich.

»Ich weiß. Und er hat gedacht, er kriegt immer noch dasselbe Mädel. Hat er letztlich auch. Sie war damals schon ein Miststück und ist es immer noch.«

Ich sah ihn überrascht an. »Du kennst sie schon lange?«

»Ich bin mit Emma Harding zur Schule gegangen. Es war nur die Dorfschule, auch wenn sie immer so piekfein tut. Sie hat einem die Süßigkeiten vom Tisch geklaut und die Radiergummis aus dem Federmäppchen. Sie war damals schon hinter dem Geld her und ist es immer noch.«

Wir schwiegen einen Augenblick. Ich dachte an sie dort auf der Polizeiwache. In einem kahlen Vernehmungsraum vielleicht, wo ein Beamter in Zivil sie verhörte.

»Wird er zu ihr halten? Was meinst du?«

»Simon Devereux? Keine Ahnung. Aber, wie du schon sagtest, er ist total in Ordnung, deswegen könnte ich es mir schon vorstellen. Vielleicht nicht ganz die Art von Publicity, die er jetzt brauchen kann.« Er nahm die leeren Becher und ging in Richtung Küche. »Frau des Abgeordneten in Untersuchungshaft.«

Als ich vom Hof fuhr, kreisten meine Gedanken um Emma Harding. Die Karrierefrau, die auf die Treibjagd ging und von der ich nun wusste, dass sie ein geschminktes Gesicht, eine scharfe Art und eine gewisse Wirkung auf Männer hatte, war jetzt in Polizeigewahrsam. Aber warum? Was hatte sie getan? In die eigene Tasche gewirtschaftet? Ein bisschen was abgezweigt? War sie raffgierig geworden? Aber … es ging ihr doch gut, sie hatte Geld, warum sollte sie das Risiko eingehen? Ich konnte nicht glauben, dass es das wert gewesen war. Aber vielleicht gab es ihr einen Kick, dass man sie nicht dabei erwischte? Genau wie mit meinem Mann. Er war es ebenfalls nicht wert gewesen. Ich schnurrte den Feldweg entlang und meine Hände hielten das Lenkrad umklammert. War das der Grund, warum sie ihre Ansprüche auf Phils Erbe fallengelassen hatte, überlegte ich. Weil sie wusste, dass ihre Angelegenheiten untersucht werden würden? Und da wollte sie schließlich nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen.

Ich bog in die Straße ein, die an der Gemeindewiese entlangführte, und hielt mit laufendem Motor vor dem kleinen Bruchsteinhäuschen an, wo Emma und mein Mann sich jahrelang heimlich getroffen hatten. Wo sie sich mit ihm in diesem Schlafzimmer dort oben vergnügt hatte. Ich blickte zu dem Fenster empor. Wo sie im Morgenmantel – zweifellos Seide – an die Tür geschwebt war, um ihn zu begrüßen. Und wo sie bei der einen oder anderen Gelegenheit – wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war und zu mir gesagt hatte, er sei nicht hungrig – Essen für ihn gekocht hatte. In diesem Haus hatte sie nicht nur Essen für ihn, sondern zugleich auch ihr ganz eigenes Süppchen gekocht und seine Bücher manipuliert. Und nun war sie schließlich daraus abgeführt worden. In Handschellen? Nein, das war unwahrscheinlich. Das hätte ich Mark noch fragen müssen.

Ich war mit einem Mann verheiratet gewesen, der sie geliebt hatte. Was hatte ich nur für ein Urteilsvermögen? Genau wie Sam mit einer Frau verheiratet gewesen war, die dann mit seinem besten Freund auf und davon gegangen war. Die beiden ohne Urteilsvermögen – vielleicht sollten wir uns einfach zusammentun.

Ich fuhr weiter und hielt den Blick starr auf die Straße vor mir gerichtet, während die Landschaft hinter mir verwüstet schien. Meine Vergangenheit. Von der ich mich jetzt endgültig verabschiedete. Es dudelte nicht wie sonst das Radio fröhlich vor sich hin, stattdessen saß ich sinnierend übers Lenkrad gebeugt. Aber ich machte Fortschritte, bekam mein Leben wieder in den Griff. Ich war mir zum Beispiel sicher, dass die Tablette, die ich gestern genommen hatte, die letzte gewesen war. Ich hatte das mit ziemlicher Gewissheit gespürt, als ich sie heruntergeschluckt hatte. Hatte gewusst, dass es diesmal nicht zu früh war. Und irgendwie hatte das, was Mark Harrison mir soeben erzählt hatte, alles nur noch bestätigt. Er hatte mir in dieser halben Stunde eine ganze Menge Neues anvertraut und nicht nur über Emma, sondern auch über Sam. Mein Verstand war noch immer dabei, das alles zu sortieren, als mein Handy klingelte.

»Hallo?«, flüsterte ich in die Freisprechanlage an meinem Armaturenbrett, nicht zu laut, um Archie nicht zu stören, der immer noch selig auf dem Rücksitz schlief.

»Hallo Poppy, ich bin’s, Pete.«

»Hi, Pete.« Aus unerfindlichen Gründen war ich zusammengezuckt, fast so als hätte ich ein schlechtes Gewissen.

»Warum flüsterst du?«

»Weil Archie auf dem Rücksitz schläft. Ich bin im Auto.«

»Ach so, dann flüstere ich auch«, er senkte die Stimme. Ich lächelte, das gefiel mir. »Hast du schon das Neueste von Emma Harding gehört?«

»Habe ich. Mark, der Hundeführer, hat es mir erzählt. Anscheinend spricht schon das ganze Dorf darüber.«

»Vergiss das Dorf, die ganze City spricht über nichts anderes!«

»Echt?«

»Im Internet brummt es nur so! Falsche Buchführung, heißt es. Und dazu ein paar Scheingeschäfte und dann noch Diebstahl vom Konto eines Kunden. Es heißt, sie hätte unautorisierte Geschäfte gemacht. Ich meine, geht’s noch?«

»Aber woher wissen die denn das alles?«, flüsterte ich und warf einen Blick auf Archie im Rückspiegel.

»Sie wissen gar nichts, das ist alles reine Spekulation, nur großkotziges Gerede. Aber wo Rauch ist, ist auch Feuer, Poppy, ein Teil davon wird schon stimmen, das kann ich dir versprechen. Und die Sache ist die, wenn man erst mal mit einer Sache davongekommen ist, dann wird man mutiger und probiert’s mit dem nächsten Trick, deswegen ist das alles ganz plausibel. Eins muss man ihr allerdings zugutehalten, die Frau hat echt Nerven. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie mit einem der Partner geschlafen hat.«

»Genau«, sagte ich grimmig. Mit meinem Partner. Hatte ich da etwa einen Hauch von Bewunderung in seiner Stimme gehört?

»Jedenfalls hat man sie jetzt in flagranti mit den Fingern in der Kasse erwischt.«

»Die hätte man ihr gleich abgehackt, wenn es nach Phil gegangen wäre. Glied für Glied am besten.« Wirklich? Ich fragte mich, wie blind die Liebe wohl gewesen wäre. Aber nicht so blind, dachte ich. Phil war überkorrekt gewesen, wenn es um Geld ging

»Man hat sie nach London gebracht, damit sie dort vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität verhört werden kann; sie haben ihre Unterlagen beschlagnahmt, ihren Computer – alles. Die waren heute Morgen um sieben bei deinem Exmann im Büro – ein Kumpel von mir arbeitet nebenan. Diese Typen gehen so gründlich vor, dass die sogar noch deine Großmutter durchleuchten. Glaub mir, Poppy, die werden ihr Leben durchkämmen, das ahnst du nicht. Damit wird sie auf jeden Fall die diebischen Finger von deinem Erbe lassen.«

»Ja, vermutlich, obwohl sie ihre Ansprüche ohnehin schon zurückgezogen hat.«

»Ach, hat sie das? Das wusste ich ja gar nicht.«

Archie rührte sich hinter mir, seine Augenlider flatterten bedrohlich.

»Hör mal, ich sollte jetzt lieber auflegen, Pete«, flüsterte ich. »Ich muss Archie noch eine halbe Stunde schlafen lassen, sonst ist er nachher unausstehlich.«

»Okay, meine Liebe«, sagte er munter. »Dann sehen wir uns also heute Abend. Kann’s kaum noch erwarten.«

»Ich auch nicht«, stimmte ich ein und drückte auf den Knopf, um das Handy abzuschalten.

Ich kniff die Augen zusammen und blickte zu den Hügeln empor, die sich im Hintergrund unseres Dorfes erhoben. Hatte ich Pete eigentlich etwas von Phils Testament erzählt? Oder von Emma Hardings Ansprüchen? Hatte ich überhaupt jemals mein Erbe erwähnt? Ich war mir fast sicher, dass ich das nicht getan hatte. Und das bedeutete … Was zum Teufel wusste er über diese Geschichte?