29
Nachdem ich Archie mit Saft und einem Keks versorgt hatte, arrangierte ich die Blumen und betrachtete sie still. Clemmie kam vom Wohnzimmer herüber, wo sie die ganze Zeit, während Jennie hier gewesen war, mit ihren Playmobil-Figuren gespielt hatte. Sie konnte stundenlang still spielen, etwas, das mich bislang immer mit großem Stolz erfüllt hatte, mir aber in jüngster Zeit ein wenig Sorgen machte. Ein winziges Elternpaar in den Händen bestaunte sie die Blumen.
»Sind die im Garten gewachsen?«
»Nein, Süße«, lachte ich, während sie auf meinen Schoß kletterte und die Hand ausstreckte, um sie zu berühren. »Die hat jemand geschickt.«
»Warum?«
Ich zögerte. »Als Geschenk.«
»Wer?«
Ich holte tief Luft. »Erinnerst du dich an den Mann, der mit uns ins Pub gegangen ist? Pete? Er hat sie geschickt.«
»Der, der mit den Augenbrauen wackeln konnte?«
»Genau der.«
»Hast du Geburtstag?«
»Nein, er hat sie einfach nur so geschickt.«
»Da ist eine Karte.« Sie griff danach. Betrachtete sie aufmerksam. »Was steht da drauf?«
Ich schluckte und wünschte, ich hätte das etwas besser durchdacht. »Da steht: ›Ich hoffe, es geht dir inzwischen besser, alles Liebe.‹ Ich … hatte eine kleine Erkältung.«
»Wann?« Sie drehte sich auf meinem Schoß zu mir um und schaute mich aus großen braunen Augen an. Mir stieg die Röte ins Gesicht.
»Äh, vor ein paar Tagen.«
»Oh.«
Wie sie mich so ansah, schien mir der gewaltige Abgrund zwischen Kindheit und Erwachsenwerden entgegenzustarren, wenn es mit ihrer eigenen, unschuldigen kleinen Welt aus Playmobil-Familien und Ehrlichkeit vorbei sein würde. Wenn sie Lügen wie die, die ich ihr soeben erzählt hatte, viel schneller enttarnen würde. Oh, ich hatte ihr schon viele Lügen aufgetischt: Zieh deinen Mantel an, es ist kalt draußen – es war nicht kalt gewesen, aber später am Tag würde es vielleicht kalt werden. Teddy will, dass du deine Karotten aufisst – woher wollte ich wissen, was im Hirn eines Plüschtiers vorging? Auf jeden Fall hatte ich früh angefangen mit den kleinen Notlügen. Hatte sie langsam daran gewöhnt wie an feste Nahrung. Aber das hier war eine echte Lüge. Ob sie es wohl gemerkt hatte? Wie groß war sie eigentlich schon? Erzog ich sie auch gut?
»Willst du ihn heiraten?«
Clemmie konnte man nichts vormachen. Vergiss die Erkältung, vorgeschoben oder nicht; komm direkt auf den Punkt. Nachdem ich einmal tief Luft geholt hatte, lachte ich nervös.
»Nein, natürlich nicht!«
»Oh.« Ihr Blick wanderte zu den Blumen zurück. »Als Beckys Mami geheiratet hat, durfte Becky Blumen streuen.«
Mein Herz machte einen Satz. »Und hat es Becky gefallen?«
»Ja, sie hatte ein rosa Kleid an und einen Kranz im Haar.«
»Und mag Becky ihren neuen Papa?«
Sie zuckte mit den Schultern, die näheren Details der Geschichte langweilten sie nur. »Wir haben im Erzählkreis Bilder angeschaut. Es war lang, ein richtiges Prinzessinnenkleid.«
»Wie schön.«
»Kann ich auch so eins haben?«
»Tja, mein Schatz, ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt heiraten werde. Das würde bedeuten, dass du einen neuen Papa haben würdest, verstehst du?«
»Wir können ihn ja mal fragen.«
»Äh, also, nein.« Ich kratzte mich am Hals. »Ich glaube, das tun wir lieber nicht.«
»Wenn du heiratest, kann ich dann so ein Kleid haben?« Sie rutschte von meinem Knie. Nachdem scheinbar nur noch eine geringe Möglichkeit bestand, dass sie bekleidungstechnisch vor ihren Kindergartenfreunden glänzen konnte, hatte sie das Interesse an der Sache verloren.
»Clemmie, denkst du manchmal an Daddy?«
Die Frau vom Jugendamt hatte gesagt, dass ich solche Fragen stellen sollte, was ich aber nicht tat, weil es meinem Instinkt widersprach. Mein Instinkt schrie: Beschützen! Nicht erwähnen! Also hatte ich es nicht erwähnt. Clemmie war wieder auf dem Fußboden mit ihrer Miniaturfamilie beschäftigt. Die Ironie der Situation entging mir nicht.
»Ich weiß nicht«, sagte sie langsam, beinahe vorsichtig. Zu vorsichtig für eine Vierjährige.
»Kannst du dich noch erinnern, wie er ausgesehen hat?«
»Er war ein bisschen schlecht gelaunt«, sagte sie schließlich in Richtung Fußboden.
Und das stimmte. Phil hatte oft schlechte Laune gehabt, hatte die Kinder zunehmend als nervig empfunden, vor allem, wenn er versucht hatte zu arbeiten.
Es gefiel mir nicht, wie sie in ihrem Gedächtnis kramen musste, um wenigstens dieses Bild hervorzuholen. Aber ich hatte ihr schließlich auch kein anderes geliefert.
Clemmie hockte sich auf die Fersen und sagte mit triumphierender Miene: »Und er hatte ein rosa Hemd.«
Ich lächelte. »Ja genau, das hatte er, Clemmie.«
Später, als sie mit Archie zusammen nach dem Mittagessen Teletubbies schaute, suchte ich Fotos von Phil heraus, auf denen er lächelte. Ja, natürlich hatte er manchmal gelächelt. Das für Archie war im Urlaub auf Mallorca aufgenommen worden und das für Clemmie an unserem Hochzeitstag. Er hatte zwar seine Fehler gehabt, doch er war ihr Vater und den hat man nur einmal. Clemmie konnte sich an ihn nur schlecht gelaunt erinnern, aber das würde bestimmt verblassen und dann hätte sie dieses lächelnde Foto zur Erinnerung. Ich rahmte die Bilder und stellte sie nicht sehr offensichtlich auf, oben auf der Kommode, sodass sie die Bilder irgendwann später bemerken würden, wenn sie ein wenig älter waren, sie würden dann annehmen, die Bilder wären schon immer dort gewesen. Ich wollte nicht, dass Clemmie sich an einen schlecht gelaunten Vater erinnerte. Ich wollte, dass ihr Leben perfekt war, und das ging so weit, dass ich diese Erinnerungen ausradieren und sie durch schöne ersetzen wollte, genau wie ich ihre dreckigen Klamotten nahm und sie durch schöne, saubere ersetzte. Und ich würde mehr über ihn sprechen, beschloss ich, während ich nach unten ging. Über glückliche Zeiten, die würde ich einfach erfinden. Schöne Picknicks, Frühlingsspaziergänge. Hier durfte ich wirklich einmal für meine Kinder lügen. Beim Beladen der Spülmaschine überlegte ich, ob ich wohl so eine Art Held aus ihm machen konnte, der insgeheim in der SAS gedient hatte und als Krisenhelfer in Afghanistan war, was erklären würde, warum er nicht oft hier gewesen war. Aber wenn Clemmie eines Tages vielleicht eine berühmte Schauspielerin war, dann würden Journalisten in ihrem Leben herumstochern, und sie würde herausfinden, dass ihr Vater nur ein Radfahrfreak mit einer Geliebten im Nachbardorf gewesen war. Vielleicht also doch lieber nicht. Lieber bei dem Lächeln auf den Fotos und den Frühlingsspaziergängen bleiben.
So viel zu ihren Erinnerungen. Aber was war mit ihrem Leben? Sollte ich Phil nicht durch jemand Besseren ersetzen, sodass Archie und sie es bald gar nicht mehr anders kannten? Sie waren so jung, jeder Stiefvater würde bald wie ein richtiger Vater für sie sein. Wie bei Becky. Sie nannte ihren neuen Dad Papa. Er war Landwirt und Linda, ihre Mutter, war so glücklich wie nie zuvor. Ich kannte Linda. Kannte die Familie, von der Clemmie erzählt hatte. Linda war nicht unbedingt der Typ, mit dem ich beim Abholen vom Kindergarten ins Gespräch kam – wasserstoffblond, sehr kurze Röcke, immer ein Kaugummi im Mund –, aber ich fand sie nett. Ihr Mann war eines schönen Ostersonntags einfach ausgezogen und hatte sich mit einem jüngeren Fotomodel eingelassen. Er hatte sich auch ein Motorrad zugelegt, samt Lederkluft und allem Drum und Dran. Zwei Monate später war er auf der A41 ums Leben gekommen, als er mit seinem Motorrad auf Blitzeis geraten war. Linda lebte jetzt auf einem Milchbauernhof mit ihrer kleinen Tochter Becky und Beckys neuem Papa. Das manische Kaugummikauen hatte aufgehört, wie ich festgestellt hatte. Die Haare waren etwas dunkler. Weil Beckys Papa vielleicht kein Wasserstoffblond brauchte? Jedenfalls war das ein Happy End. Etwas, das man nicht vermasseln und sich auch nicht durch die Lappen gehen lassen sollte.
Für den Rest der Woche war ich vollauf mit den Kleiderfragen meiner besten Freundin beschäftigt. Wie Jennie höchst besorgt mitgeteilt hatte, war sie seit Jahren auf keinem Ball mehr gewesen, hatte nichts anzuziehen und überhaupt, was zog man eigentlich heutzutage zu einem Ball an? Lang und fließend oder eher kurz und cocktailmäßig? Diese und andere brennende Fragen, die größtenteils mit Schuhen und Accessoires zu tun hatten, hielten uns auf Trab. Denn genau wie ich nicht geradeaus denken konnte, konnte Jennie sich nicht anziehen – etwas, das mir so leicht fiel wie mein Selbstvertrauen zu verlieren. Ihr Mangel an Geschmack verwunderte mich immer wieder.
»Wie wär’s damit?«, sagte sie und kam zum x-ten Mal in einem neuen unsäglichen Outfit durch meine Hintertür gestürmt. Diesmal hatte sie sich in eine paillettenbesetzte Scheußlichkeit gequetscht, die mir in Kombination mit den hochhackigen roten Schuhen beinahe den Atem verschlug.
»Beides: nein«, sagte ich bestimmt. »Und auf keinen Fall zusammen. Zu Schwarz kann man nur Schwarz tragen, Jennie. Bring die Schuhe zurück zu Angie und das Kleid zu Peggy. Zu ihr passt so was, weil sie exzentrisch ist und weil es an ihr schlabberig sitzt.«
»Während ich eher wie eine Nutte aussehe?«
Ich zuckte mit den Schultern und es gefiel mir gar nicht schlecht, zur Abwechslung mal die Oberhand über meine bestimmerische Freundin zu haben. Aber dann erbarmte ich mich, lud die Kinder ins Auto und ging mit ihr zum Shopping.
Am Ende trug sie ein graues, fließendes Teil, das ich bei Coast gefunden hatte: bodenlang, vorne hochgeschlossen, dafür hinten tief ausgeschnitten. Sie sah einfach umwerfend darin aus. Genau wie Angie in ihrem schwarzen Samtkleid, das sie aus einer Selfridges-Tüte geschüttelt und mitten in meiner Küche anprobiert hatte, und Peggy in dem Paillettenfummel, den sie Jennie großzügig angeboten hatte, der aber mit schwarzen Pumps und an ihrer mageren Figur hinreißend aussah.
»Wenn du nur auch dabei wärst«, sagten sie alle drei.
»Nein, wirklich, ich möchte nicht«, sagte ich und meinte es ernst. »Das ist nicht unbedingt etwas, wo man alleine hingeht, nicht wahr?«
»Nein, nein«, gaben sie im Chor zurück, dabei taten sowohl Angie als auch Peggy genau das.
»Das ist sowieso nicht so richtig dein Ding, oder?«, tröstete mich Angie.
»Ganz und gar nicht«, pflichtete ich ihr bei und verspürte einen Stich. Warum sollte das nicht mein Ding sein? »Ich fahre zu meinem Dad«, sagte ich rasch, um ihnen die Peinlichkeit zu ersparen. »Den hab ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich werde ihm was zum Abendessen kochen.«
»Oh, gute Idee«, sagten sie allesamt erleichtert und fühlten sich gleich viel besser. Zufrieden eilten sie davon.
Dad war allerdings keine große Hilfe, als ich beschloss, meinen Worten Taten folgen zu lassen. »Steak und Pommes«, erklärte ich ihm fröhlich, »und dabei schauen wir Viva Las Vegas. Ich bringe die Steaks mit.«
»Oh, tut mir leid, Poppy, aber ich gehe zu dem Jagdball.«
»Echt?« Jetzt war ich doch erstaunt.
»Ja, Mark hat mir eine Karte geschickt. Ist das nicht nett von ihm? Nur eine einzelne, aber die kosten hundert Pfund pro Stück, das ist doch total großzügig. Vor allem nach der Geschichte mit dem Hund. Gehst du denn nicht hin, Liebes? Der halbe Landkreis wird da sein.«
»Ja, ich wollte erst – er hat mir auch Karten geschickt – aber ich habe meine an Jennie weitergegeben.«
»Ach, verstehe. Nicht so dein Ding, was? Jedenfalls muss ich jetzt Schluss machen, ich muss noch die Pferde füttern, bevor ich mich in Schale werfe.«
Damit legte er auf und ich blieb irritiert zurück. Und diese Irritation steigerte sich noch, während ich die Kinder ins Bett brachte. Nicht mein Ding? Warum eigentlich nicht? Himmel noch mal, ich konnte doch genauso feiern wie alle anderen! Nur weil Phil und ich es nicht getan hatten – er trank keinen Alkohol und ging gerne früh ins Bett –, bedeutete das noch lange nicht, dass ich es nicht konnte. Verdammt, die hätten mich mal sehen sollen, damals in Clapham, wenn ich um drei Uhr früh barfuß, mit den High Heels in der Hand, die Treppe hinaufgeschlichen war. Als ich noch jung war. Aber ich war doch immer noch jung, oder etwa nicht? Wütend zog ich bei Archie den Vorhang zu. Durch den Spalt konnte ich das Licht im Schlafzimmer des alten Pfarrhauses sehen, wo Sylvia und Angus sich sicher gerade fertig machten: Angus beugte sich herab, um seine Fliege im Spiegel gerade zu rücken, während sich Sylvia an ihrem Frisiertisch die Diamantohrringe ansteckte. Wunderbar. Wie schön für sie. Ich schnappte mir den übervollen Windeleimer und marschierte nach unten. Aschenputtel am Feuer – mit einer heftigen Bewegung kippte ich die Windeln in den Müll – im Bademantel und in alten Schlappen. Prächtig.
Ich versuchte mir einzureden, dass ich am nächsten Morgen die besseren Karten haben würde, wenn alle anderen über ihren Kater klagten. Oh ja, das würden sie. Und zwar im Pub. Sie würden lachen und bei Bloody Marys den Abend noch einmal Revue passieren lassen. Hm. Alle würden sie heute Abend da sein. Mark, Sam – nein, nicht über Sam nachdenken. Ich hatte ihn seit Tagen erfolgreich ausgeblendet; hatte mir verkniffen, ihn mir im eleganten Abendanzug vorzustellen, sogar während ich Jennie dabei half, ein neues Hemd für Dan zu kaufen. Ich würde jetzt nicht klein beigeben. Stattdessen genehmigte ich mir einen großen Gin Tonic, redete mir ein, um neun käme ein guter Film und ich könnte ja vielleicht sogar bis zum Ende wach bleiben. Ein bisschen das Leben genießen.
Es kam daher vollkommen überraschend, als es bereits viel früher, um acht, an meiner Tür klingelte und ich beim Öffnen meinen Vater, einen Mantel über dem Smoking, auf den Stufen stehen sah. Er schien ein wenig verblüfft, mich im Bademantel anzutreffen, denn er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen von oben bis unten.
»Hast du meine Nachricht nicht gekriegt?«
»Was für eine Nachricht?«
»Ich hab dir auf die Mailbox von deinem Handy gesprochen. Wegen heute Abend. Mark hat angerufen, um zu sagen, dass Mary Granger die Kotzeritis hat und ob ich jemanden mitbringen will. Hast du sie nicht bekommen?«
»Nein!« Ich hätte ihn küssen können. Und schlagen. Typisch Dad, es nicht noch mal zu probieren. Einfach aufzutauchen und davon auszugehen, dass alles klar war.
»Ich kann nicht mitkommen«, sagte ich gereizt. »Ich hab doch die Kinder.«
»Kannst du nicht einen Babysitter holen?«
»Natürlich nicht, dafür ist es viel zu spät.«
»Was ist mit Jennies Tochter nebenan?«
»Die ist mit ihrem Freund unterwegs. Und die Kleinen sind auf einer Übernachtungsparty.«
»Oh.« Er machte ein ratloses Gesicht. Dann: »Und wenn wir sie mitnehmen?«
Normalerweise hätte ein solcher Vorschlag meines Vaters bei mir nur beißenden Spott hervorgerufen. Aber letztlich setzen sich doch die Gene durch und in vielerlei Hinsicht bin ich eben die Tochter meines Vaters und kann im Handumdrehen das entsprechende Verhalten an den Tag legen. Ich starrte ihn an.
»Okay.«
»Gut. Du ziehst dich um, kämmst dir die Haare, und ich trage sie zum Transporter.«
»Zum Transporter?«
»Na ja, das Auto ist doch schon seit Wochen kaputt, Poppy.«
Und da fuhr mein Vater einfach mit seinem Pferdetransporter und parkte das Ding zweifellos, ohne mit der Wimper zu zucken, auf dem Parkplatz vom Supermarkt, als wäre es ein Opel Cresta.
»Wir laden die Kinder in einen dunklen Lastwagen und lassen den dann auf einer matschigen Wiese stehen, wo sie halb erfroren und verängstigt aufwachen?«
»Nein, nein, wir nehmen sie mit ins Haus und finden ein Bett für sie.«
»Wir kommen bei einem festlichen Ball mit zwei schläfrigen Kindern an? Vergiss es, Dad. Viel Spaß.« Ich wollte ihm die Tür vor der Nase zumachen, aber er war bereits drinnen.
»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Poppy. Was glaubst du wohl, wie deine Mutter und ich jemals zu Partys gegangen sind? Wir waren nie organisiert genug für einen Babysitter. Wir hatten dich immer unter einen Arm geklemmt. Jetzt geh und zieh dein Kleid an und ich kümmere mich um die Kinder. Es ist doch nur ein Abend, verdammt noch mal, das wird sie schon nicht umbringen. Alle gehen da hin, willst du die Einzige sein, die nicht dabei ist?«
Er wusste genau, auf welche Knöpfe er bei mir drücken musste. Außerdem war er schon halb die Treppe hinauf.
Zwanzig Minuten später saßen wir alle im Transporter – nur zur Erinnerung, das war der ohne Sicherheitsgurte – und ratterten über das Weidegitter an der Einfahrt zu Mulverton Hall, allerdings bogen wir diesmal unterwegs nicht auf den Weg ab, der in Richtung der Wirtschaftsgebäude und auf eine matschige Weide führte, sondern fuhren weiter zum Haupthaus. Vor uns erstreckte sich wie ein See eine weitläufige dunkelgrüne Rasenfläche. Dad fuhr vorsichtig drum herum und folgte dann den Zeichen zum Parkplatz auf der Koppel daneben, hinter der Einfriedung des Parks. Ich hatte mein altes schwarzes Kleid an und meine hastig gewaschenen Haare hingen noch etwas feucht auf meinem Rücken; zwischen uns auf dem Vordersitz saßen aufrecht und hellwach zwei aufgedrehte, hocherfreute Kinder.
Ich-glaub’s-nicht-dass-ich-das-hier-tu-ich-glaub’s-nicht-dass-ich-das-hier-tu war mein alles bestimmender Gedanke, während ein überraschter Parkwächter – überrascht zunächst über den Transporter, dann über die Kinder – uns auf die Wiese winkte. Dad winkte fröhlich zurück und kurbelte das Fenster hinunter.
»Hallo, Roy.«
»Hallo, Peter!« Er warf einen Blick zu uns herein. »Hast ja die ganze Familie mitgebracht, wie ich sehe!«
»Na ja, die sollen doch auch ihren Spaß haben«, sagte Dad ungerührt.
Er rollte von Roy weg durch das Tor. Am Ende der Reihe der parkenden Autos schwenkte er gekonnt seinen Zwei-Tonnen-Brummi in Position. Neben uns hielt ein Mercedes und eine mit Diamanten behängte Frau in einem Fuchspelzmantel starrte verwundert vom Beifahrersitz zu uns empor. Mich verließ schlagartig der Mut.
»Dad …« Ich schluckte.
»Komm schon, Poppy, mach nicht so ein Gesicht, mein Schatz.« Er war bereits aus dem Führerhaus gesprungen und Clemmie rutschte über den Sitz in seine offenen Arme. Er ging ein wenig in die Hocke und stemmte sie dann auf seine Schultern. »Hoch mit dir!«
Aufgeregt schlang sie die Arme um den Hals ihres Großvaters und quietschte vergnügt. Dann knallte er die Fahrertür zu und stapfte davon. Mir blieb natürlich keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Mit Archie im Arm stolperte ich über die Wiese und folgte der Phalanx von brennenden Fackeln, welche die Auffahrt säumten und das weitläufige Gelände erhellten. Mein Herz flatterte panisch, aber sobald wir über den Kies knirschten, wusste ich, dass es nun kein Zurück mehr gab. Die honigfarbenen Mauern ragten vor uns in die Höhe und oben erstrahlte eine Reihe Fenster in hellem Licht. Dad tänzelte voraus und spielte den Clown, jetzt hüpfte er von einem Fuß auf den anderen, sodass Clemmie in ihrem rosa Bademantel lachend auf seinen Schultern hin und her hoppelte. Auf wie vielen Festen dieser Art war ich als Kind wohl gewesen?, überlegte ich. Hatte es mir in irgendeiner Weise geschadet? Die Mortimer-Nummer hatte Mum es immer genannt, wenn Dad die ausgetretenen Pfade der Konvention verließ, seinen eigenen Weg ging, was öfter als gelegentlich vorkam. Aber das hier war schon mehr als nur eine Party. An den Fenstern sah man die Umrisse von Leuten in ihren prächtigen Gewändern: nackte Schultern, glitzernde Juwelen, der ein oder andere drehte sich um und glotzte neugierig zu uns her. Ich betete, dass Dad nicht mit Clemmie die herrschaftliche, von steinernen Greifen bewachte Eingangstreppe hinaufspringen wollte und durch das Eingangsportal stürmen, wo Diener mit Tabletts voller Champagnergläser standen. Aber mein Vater war ja wirklich nicht blöd, und ehe ich mich’s versah, war er um die Ecke verschwunden. Verlegen eilte ich hinter ihm her und kam mir wie ein Einbrecher vor, aber Dad, der sich auf solchen alten Landsitzen auskannte – oder zumindest den Weg zu den Stallungen und zu einer Tasse Tee kannte –, ließ sich nicht beirren. In Windeseile hatte er eine Hintertür gefunden, die sich öffnen ließ, sodass er direkt hindurchmarschieren konnte.
Er ging absichtlich so schnell, dass ich ihn nicht einholen und zurückhalten konnte, und während ich ihm atemlos mit Archie in meinen Armen folgte, war er schon den halben Korridor entlanggelaufen. Gerahmte Bögen aus alten Ausgaben von Punch schmückten die Wände und kurz vor einer grünen Dienstbotentür bog Dad nach links in einen hell erleuchteten Raum ab, wobei er munter vor sich hin pfiff.
Ich folgte ihm zaghaft und fand mich in einer großen, in die Jahre gekommenen Küche mit einer sehr hohen Decke wieder. Cremefarbene Resopal-Hängeschränke mit verglasten Türen hingen an der einen Wand, auf dem Boden war Linoleum verlegt, fast wie bei meinem Dad, der einzige Hinweis auf den Status dieses Hauses war ein gigantischer Eichentisch, der in der Mitte thronte. Eine gut gepolsterte blonde Frau in einer weißen Schürze stand mit dem Rücken zu uns an der Spüle unter dem Fenster. Als sie sich überrascht umdrehte, erkannte ich sie sogleich. Es war Janice, die Rezeptionistin, vermutlich konnte sie mich so ohne jeden Kontext nicht gleich unterbringen und sie bekam ohnehin keine Chance dazu. Dad verlangte bereits ihre volle Aufmerksamkeit: Er umgarnte sie, flirtete geradezu mit ihr, erklärte, der Babysitter hätte uns im Stich gelassen, wackelte mit Clemmie, sodass sie am Ende der Geschichte, der sie mit großen Augen gefolgt war, ein strahlendes Lächeln zeigte und ihm versicherte, es sei überhaupt kein Problem und sie würde liebend gerne auf die Kleinen aufpassen. Sie würde sie im ehemaligen Kinderzimmer unterbringen, meinte sie, und ja, sie würde das Babyphon einstöpseln, das ich ihr nervös entgegenstreckte.
»Oh, hallo, ich dachte doch, dass wir uns kennen.« Begeistert strahlte sie Archie an.
Nein, wir sollten uns überhaupt keine Sorgen machen, fuhr sie fort. Wir sollten nur gehen und uns amüsieren. Anscheinend kannte sie meinen Dad von der Rennbahn her – wer kannte ihn nicht? War das in Warwick gewesen? Oder in Windsor? Nein, nein, Mr Hetherington hatte gewiss nichts dagegen, versicherte sie mir, als ich ihre Rennbahngeschichten unterbrach, um die Unterhaltung wieder auf die praktischeren Angelegenheiten zu richten. Aber sie redeten und redeten und dann, als sie sich gerade in Erinnerungen an das legendäre Rennen um halb sechs in Haydock letzten Sommer ergingen, bei dem Ransom Boy, ein krasser Außenseiter bei 100 zu 1, um eine Kopfeslänge gewonnen hatte, just in diesem Augenblick kam Mr Hetherington höchstpersönlich in einem flaschengrünen Frack samt Fliege, wahrscheinlich eine Jagduniform, in die Küche gestürmt.
Und er sah ganz und gar nicht begeistert aus, vielmehr wirkte er ziemlich düster. Aber es waren nicht die hochgezogenen Augenbrauen in seiner wütenden Miene, die mich beunruhigten. Was mich beunruhigte, war die Art, in der sich mein Magen zusammenkrampfte. Die Pulverisierung meines Brustkorbs durch etwas, das sich wie Nadeln anfühlte. Es war die schreckliche Ahnung, wie er so schneidig und in all seiner Pracht vor uns stand, dass das hier nicht nur eine unangemessene Schwärmerei war. Nein, es war etwas viel Ernsteres.