30
Es entstand ein kurzer, verblüffter Augenblick des Schweigens.
»Hallo Sam«, stieß ich mühsam hervor und rang mir ein Lächeln ab, während er mich anstarrte und diese exzentrische kleine Gesellschaft in sich aufnahm: diese Frau, die mit nassen Haaren als ungebetener Gast hier hereinplatzte mit ihrem alten Herrn und den Kindern in Schlafanzügen. Ich stotterte drauflos: »Äh, mein Vater hat mich eingeladen und …«
»Und der Babysitter hat sie sitzengelassen«, schwindelte Dad und trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt nach vorn. »Kaum zu glauben, wirklich! Im allerletzten Augenblick. Angeblich eine Blasenentzündung. Bitte tausend Mal um Entschuldigung, dass wir hier so mit der gesamten Familie hereinplatzen, aber wir hatten uns so auf den Abend gefreut. Peter Mortimer, der Vater von Poppy.«
»Sam Hetherington«, sagte Sam, der noch immer ziemlich verdattert dreinschaute und immer noch, aus unerfindlichen Gründen, selbst als er meinem Dad die Hand schüttelte, mich ansah.
»Janice hier hat uns versichert, die Kinder würden überhaupt keine Umstände machen. Sie sind aber auch unheimlich brav, wissen Sie, die weinen nie«, fuhr Dad fort. »Ich bitte dennoch um Verzeihung, das ist eine ziemliche Invasion.«
Sams Blick wanderte zu meinem Vater zurück. »Entschuldigung, was sagten Sie …?«
»Das ist eine ziemliche Zumutung, ich weiß, aber uns ist einfach kein anderer Ausweg eingefallen.«
Sam fasste sich. »Oh, ach so. Auf jeden Fall. Nein, überhaupt nicht. Spielt gar keine Rolle. Ja, also, Janice, was schlägst du vor?« Er machte rasch auf dem Absatz kehrt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Könnten die Kinder vielleicht ins blaue Gästezimmer gehen, was meinst du?«
»Ich dachte eher an das alte Kinderzimmer. Das liegt näher an der Hintertreppe, so kann ich sie besser hören. Einverstanden, meine Kleine?« Dad hatte Clemmie von seinen Schultern gehoben und Janice ging zu ihr und nahm sie an die Hand.
»Meine Enkelkinder«, sagte mein Vater stolz und legte jedem der Kinder eine Hand auf die Schulter, als wären sie die Ehrengäste. Ich wand mich. Übertreib’s nicht, Dad. Aber Sam spielte das Spiel mit.
»Es ist mir ein Vergnügen, euch beide hier zu begrüßen«, erklärte er Clemmie lächelnd.
Meine Tochter, durch und durch eine Mortimer, streckte die Hand aus, wie sie es bei ihrem Großvater gesehen hatte, und sagte feierlich: »Clementine Shilling.«
Sam ergriff hocherfreut ihre Hand und wir lachten alle. Ich hätte sie küssen können. »Guten Abend, Clementine. Ich hoffe, es wird dir hier gefallen.«
»Du kannst Clemmie zu mir sagen.«
Danach war alles ganz einfach, weil, wie Dad zu sagen pflegte, immer alles ganz einfach ist, wenn man das Getriebe mit einem Tröpfchen Humor und einem Schuss Charme ölt, oder wie in diesem Fall gleich mit ganzen Wagenladungen von beidem. Er und Sam unterhielten sich über Jagdrennen und Pferdeausstellungen, während Sam neues Eis holte – weswegen er ursprünglich gekommen war, da die Caterer, wie er erklärte, nicht genug mitgebracht hatten – was vielleicht seine düstere Miene erklärte, vielleicht aber auch nicht. Sie hatte sich jedenfalls deutlich aufgehellt. Und als er feststellte, dass er vor Jahren sogar schon einmal ein Pferd von meinem Dad gekauft hatte – und auch noch ein gutes, Gott sei Dank –, da hellte sie sich sogar noch weiter auf.
»Also dann, Poppy, wie schön«, wandte er sich mir zu, sein Gesicht jetzt ein einziges Lächeln. Aber ich fragte mich, ob es nicht seine kostspielige Erziehung war, die derartige Manieren hervorgebracht hatte. »Und dann sehen wir uns gleich, hoffe ich. Es ist übrigens rappelvoll da draußen, ich hoffe, Sie haben nichts gegen ein bisschen Gedränge, obwohl mir wohlinformierte Quellen versichern, das sei nicht Gedränge, sondern Stimmung.« Er schenkte mir noch ein strahlendes Lächeln. »Aber ich muss jetzt wirklich los, die Leute stehen rum mit warmen Drinks.« Und schon zog er mit einer Großpackung Eiswürfel los und sah dabei göttlich aus, dachte ich, während ich seinem breiten Rücken hinterherschaute.
Ich folgte Janice mit den Kindern den Flur entlang und die Hintertreppe hinauf. Unsere Schritte klapperten auf dem blanken Holz. Clemmie war hellwach und plapperte angeregt drauflos. Sie genoss ihren Status als Gast ungemein. Ihr Bruder gefiel sich auch zunehmend in dieser Rolle und sang, buchstäblich, für sein Abendessen, indem er in voller Lautstärke »Baa-baa Black Sheep« sang und im Rhythmus in meinen Armen schaukelte. Für die beiden war die Party in vollem Gange und mir wurde mit sinkendem Mut klar, dass ich sie jetzt nie zum Einschlafen kriegen würde. Ich hätte ebenso gut gar nicht erst zu kommen brauchen. Aber Janice war der Hit, selbst bei Archie, der sehr wählerisch ist. Als wir in dem Kinderzimmer ankamen, setzte sie sich aufs Bett und zeigte auf die verblasste Bordüre mit Bauernhoftieren an den Wänden und fragte Archie, wie diese Tiere machten. Es war offensichtlich, dass dies hier wirklich ein Kinderzimmer war, wenn auch ein altes.
»War das früher mal Sams Zimmer?«, fragte ich überrascht über Archies ohrenbetäubendes »Muh!« hinweg.
»Gut gemacht«, sagte sie zu ihm, bevor sie sich mir zuwandte. »War es mal und die Pächter haben das Zimmer nicht benutzt und sich deswegen auch nicht die Mühe gemacht, es zu streichen. Haben sowieso nicht viel gemacht, wie Sie sehen werden. Nun ja, das Haus gehörte schließlich nicht ihnen, da lohnt sich die Investition nicht. Und Sam kommt gar nicht dazu, der hat ganz andere Sorgen mit dem Dach, das einzustürzen droht und so weiter. Also dann, junger Mann«, gab sie sich wieder mit Archie ab und deckte ihn zu. Sogleich strampelte er sich wieder frei und lachte dabei aus vollem Halse. Mein Sohn amüsierte sich prächtig.
»Und Sie, arbeiten Sie schon lange hier?«, fragte ich weiter. Sei mal kurz still, Archie. Ich setzte mich neben Janice aufs Bett. »Haben Sie auch schon für Sams Eltern gearbeitet?« Jedes Detail, und sei es noch so klein, half mir weiter.
»Insgesamt sind es dreißig Jahre«, sagte sie und kitzelte Archie am Hals. Er quiekte wie ein kleines Ferkel und drückte das Kinn auf die Brust. »Und als mein Stan noch gelebt hat, waren wir Haushälterin und Gärtner für die Familie. Sehr nette Leute. Tja, sie ist jung gestorben, wissen Sie? Krebs. Und er ist auch nicht alt geworden. Ich sage immer, er ist an gebrochenem Herzen gestorben. Wir haben im Cottage gewohnt, Stan und ich. Aber das ist schon lange verkauft, wegen der Erbschaftssteuer und so. Ich wohne jetzt im Dorf. Ich habe auch für die Pächter gearbeitet. Nette Leute waren das. Nur saubermachen und ein bisschen Silber putzen, ansonsten hatten sie immer Au-pair-Mädchen. Und die meiste Zeit waren sie sowieso in London. Und mehr mache ich jetzt auch nicht für Sam, ein bisschen putzen, weil ich tagsüber natürlich in seinem Büro bin und für ihn tippe. Hab ich mir übrigens selbst beigebracht vor einer Weile, als er dort mehr Hilfe brauchte als hier. Aber nur vier Tage die Woche. Freitags bin ich immer hier, um den Laden am Laufen zu halten. Mädchen für alles, das bin ich.« Sie grinste, als Archie die Arme vertrauensvoll um ihren Hals schlang. »Tja, sonst würde er ja gar nicht zurechtkommen und er hat niemanden. Es gab aber Zeiten, da hatten wir Gärtner und Stalljungen und ein Mädchen aus dem Dorf und was sonst noch alles, aber das ist vorbei.« Ich bemerkte, dass die Wand hinter ihrem Kopf von Rissen übersät war, der Teppich unter unseren Füßen war abgewetzt. Die Zeiten waren sichtlich schwieriger geworden.
»Und kann man gut für ihn arbeiten?«
Sie hörte auf, in Archies Ohr zu pusten, wandte sich mir zu, wobei sie das Kinn hob und mich geradeheraus anblickte. »Es gibt keinen besseren Mann als ihn.«
Diese Bemerkung klang so nach 18. Jahrhundert und noch dazu hatte ich ihn eben erst in einem entsprechend altmodischen Aufzug gesehen. Warum konnte sie nicht in dieser Sprache bleiben, ihn aber als Kanaille bezeichnen? Als Spitzbuben? Ich spürte, wie etwas in mir, das ich sorgfältig aufgebaut hatte, ein wenig zu wanken begann.
»Das heißt, Sie waren auch hier, als er Hope geheiratet hat?«, bohrte ich neugierig nach.
»Allerdings«, kam die eher knappe Antwort.
»Und … es muss doch irgendwie komisch für ihn sein, glauben Sie nicht? Dass sie jetzt wieder hier ist mit ihrem neuen Mann?« Ich errötete angesichts meiner unverhohlenen Neugier.
Sie taxierte mich mit einem Blick. »Ich weiß nicht, wie er es macht. Aber er hängt so an Chad, der ein netter Junge ist, und fühlt so mit ihm. Deswegen sind sie hier, denke ich.«
Das ergab für mich keinen rechten Sinn, aber noch während ich überlegte und versuchte, eine andere Frage zu formulieren, die natürlich nicht in Form von »Und, liebt er sie noch immer?« daherkommen konnte, stand Janice auf. Sie nahm mich beim Arm, ziemlich energisch sogar, führte mich zur Tür und sagte mir, ich solle jetzt gehen und mich amüsieren, sie werde sich um die Kinder kümmern. Sie denke da an eine Runde »Ich sehe was, was du nicht siehst« und dann eine Geschichte? Und vielleicht noch ein bisschen warme Milch? Clemmie und Archie stimmten begeistert zu und hüpften mit strahlenden Augen in ihren Betten herum. Sie erweckten ganz den Eindruck, als wäre mindestens Weihnachten und es täte ihnen ganz und gar nicht leid, ihre Mutter gehen zu sehen, die bestimmt gleich das Licht ausgemacht hätte.
Und so ging ich nachdenklich nach unten in meinem alten schwarzen Kleid, dann durch den Flur, folgte dem Lärm auf die Vorderseite des Hauses zur Eingangshalle, wo wir eigentlich hätten ankommen sollen, und als ich um die Ecke bog und unter einem Bogen hindurchging, lag sie vor mir und war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Eine große, geschwungene Treppe wand sich majestätisch hinunter in eine Halle mit schwarz-weißem Kalksteinboden, zwei Marmorsäulen stützten eine Galerie an einem Ende und eine Reihe von hochnäsigen Ahnen blickte stirnrunzelnd von den Wänden. Die Halle war voller Leute, es waren so viele, dass einige von ihnen halb die Treppe hinauf standen. Alle schienen sich bestens zu amüsieren und redeten laut durcheinander, übertönten sich gegenseitig, während der Champagner in Strömen floss. Viele kannte ich, aber sie sahen in Samt und Seide und behängt mit kostbarem Schmuck, die Männer elegant im Smoking, so elegant und fremd aus, dass ich den einen oder anderen erst auf den zweiten Blick erkannte. Ich ließ alles einen Augenblick auf mich wirken und freute mich unglaublich, dass ich hier war. Wir waren offensichtlich sehr spät dran und es schien eine generelle Bewegung in Richtung des Speisezimmers zu geben. Ich war mir nicht so sicher, ob ich da alleine hineingehen wollte, und ließ meine Blicke auf der Suche nach Dad umherschweifen. Anstelle meines Vaters fand ich Jennie, die in ihrer grauen Seide, die dunklen Locken professionell in sanften Wellen aus dem Gesicht gekämmt, vom Fuße der Treppe her auf mich zugeeilt kam. Mit großen Augen und konsterniertem Blick drängte sie sich durch die Masse.
»Ich dachte, du würdest nicht kommen!«
»Nein, wollte ich auch nicht, aber dann hatte Dad noch eine Karte übrig und ich dachte: Ach, was soll’s? Du wirst es nicht glauben, Jennie, die Kinder sind oben bei der Haushälterin. Dad hat das mal wieder ganz locker hingekriegt. Ist das nicht typisch Mortimer?«
Normalerweise hätte sie sich köstlich darüber amüsiert, aber aus irgendeinem Grund tat sie das jetzt nicht. Nervös sagte sie: »Da ist Angie. Komm, wir gehen hin und sagen hallo.«
Sie packte mich am Arm, drehte mich um und wollte mich schon durch den überfüllten Raum führen. Doch sie tat das derart nachdrücklich und energisch, dass ich mich nun erst recht umdrehte und über meine Schulter blickte: die linke Schulter.
Pete stand, den Rücken zu mir, auf der Treppe. Eine Hand lag über seinem Kopf am Geländer, die andere hatte er in die Hüfte gestützt. Er beugte sich vor, redete vertraulich mit jemandem. Ich reckte den Hals. Mit der heiligen Hilda. Ich schüttelte Jennie ab. Sah genauer hin. Körpersprache ist faszinierend und diese hier war eindeutig. Die Art, wie er sich über sie beugte, ihr ins Ohr flüsterte, die Art, wie sie den Kopf zurückwarf und lachte, die Wangen gerötet. Sie trug ein mitternachtsblaues schulterfreies Kleid, das viel Dekolleté zeigte und alles andere als heilig aussah. Plötzlich bemerkte sie mich über seine Schulter hinweg. Sie wirkte überrascht, doch dann huschte ein triumphierender Ausdruck über ihr Gesicht. Einen Augenblick später wandte Pete sich um und folgte ihrem Blick. Er erschrak sichtlich. Ich ging zu den beiden hinüber.
»Hallo, Pete. Hallo, Hilda.«
»Oh, äh, hi, Poppy.« Pete strich sich nervös die blonde Mähne zurück und richtete sich auf. »Hatte gar nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.«
»Warum denn nicht?«
»Na ja, ich dachte, das wäre nicht so …«
»Oh, das hier ist durchaus mein Ding. Danke übrigens für die Blumen. Tut mir leid, dass ich neulich Abend nicht zu dir zum Abendessen kommen konnte. Ich hoffe, du hast jemanden als Ersatz gefunden, um all die leckeren Krabben zu essen?«
Hilda machte ein entsetztes Gesicht. Aha, ertappt. Wie interessant. Normalerweise war ich nicht so zickig, aber es fühlte sich überraschend gut an. Hildas Miene verfinsterte sich. Ich bedachte sie mit einem lieblichen Lächeln. Jetzt kannst du dir selbst eine Meinung bilden, nicht wahr? Es ist immer besser, informiert zu sein. Ich wandte mich an Pete, der aussah wie ein kleiner Junge, den man mit der Hand in der Süßigkeitendose ertappt hatte – oder mit heruntergelassenen Hosen. Aber seltsam, während ich ihn so ansah, wie er da stand und verlegen zu Boden blickte, wurde mir klar, dass ich keine weiteren bissigen Bemerkungen folgen lassen würde. Ich wollte ihn nicht noch mehr bloßstellen. Irgendwie bewunderte ich ihn sogar für seine Chuzpe. Vielleicht weil ich keine allzu nahe Bekanntschaft damit machen musste?
Ich ließ ihn ein Weilchen zappeln und lächelte dann schief. »Bonne chance, Pete«, sagte ich leise und merkte, dass ich es durchaus ernst meinte. Sein Blick suchte sofort den meinen und wir verständigten uns schweigend für einen Moment.
Er grinste. »Ja und dir auch, Poppy.«
Ich machte kehrt und ging davon. Mein Herz klopfte ein wenig, aber ich war nicht allzu sehr aus dem Konzept gebracht. Allerdings hätte ich nichts dagegen gehabt, rasch jemanden zu finden, mit dem ich mich unterhalten konnte. Jennie war verschwunden, aber zum Glück entdeckte ich Peggy in ihren schwarzen Pailletten neben dem Kamin. Sie schien in ein Gespräch mit Sylvia vertieft, hatte aber unsere kleine Szene genau verfolgt.
»Sylvia hat mir gerade erzählt«, meinte sie leise zu mir, als ich näher kam, »dass der Klavierlehrer vielleicht nicht ganz der ist, als der er erscheint.«
»Er hat gesagt, er würde meiner Enkelin Aramita Unterricht geben«, sagte Sylvia erbost. »Ich habe es ihr zum Geburtstag geschenkt und natürlich hatte ich nicht daran gedacht, ihn auf einen Preis festzulegen. Tja, meine Liebe, ich habe jetzt gerade eine Rechnung über hundertfünfzig Pfund für drei Unterrichtsstunden erhalten! Nicht zu fassen!«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, murmelte ich.
»Fünfzig Pfund pro Stunde! Für wen hält der sich? Elton John?«
»Andere sexuelle Orientierung«, sagte Peggy gerade, als Jennie aufgelöst zu uns stieß. »Und nicht annähernd so talentiert.«
»Tut mir leid, Poppy. Das hab ich verbockt«, murmelte Jennie.
»Kein Problem«, beruhigte ich sie. »Für meinen Geschmack ist er ohnehin ein bisschen zu grau.« Jennie zuckte zusammen, ich konnte förmlich sehen, wie sie sich schwor, mich nie wieder darüber zu belehren, dass das Leben nicht nur schwarz und weiß war.
»Grau?« Sylvia linste über den Rand ihrer Brille. »Nein, er sieht nicht grau aus. Aber er ist offensichtlich ein Abzocker. Lass bloß die Finger von dem, Poppy. Wir wollen doch nicht, dass du wieder so einen grässlichen Fehler machst.«
Das verschlug mir jetzt doch die Sprache. War ich öffentliches Eigentum? Mein Leben wurde selbst im alten Pfarrhaus besprochen? Beim Frühstück über dem Marmeladebrot? Plötzlich erschien mir London mit seiner Anonymität sehr reizvoll. Der Stadtteil Clapham vielleicht, wo ich viele glückliche Jahre verbracht hatte. Als ich mich in meinen Champagner vertiefte, stand Dad plötzlich neben mir.
»Alles okay, mein Schatz? Die Kinder im Bett?«
»Ja, danke, Dad.«
»Bist du froh, dass du mitgekommen bist?« Er streckte die Brust heraus und schien sehr mit sich zufrieden. »Und unser Gastgeber hat das doch ganz locker gesehen. Ein netter Mann, hab mich lange mit ihm unterhalten«, er wandte sich um und nickte in Sams Richtung.
Die Eingangshalle leerte sich langsam, da die Leute zum Essen hinübergingen, und ich sah ihn drüben an einem der hohen Fenster stehen, das von uralten Gobelin-Vorhängen umrahmt war, im Gespräch mit Hope. Auf ähnliche Weise, wie Pete mit der heiligen Hilda gesprochen hatte. Konzentriert beugte er sich über sie, aber nicht flirtend, eher beschützend. Sie hatte den Blick auf den Boden gerichtet und war sehr schön in ihrer langen weißen Tunika. Sie errötete. Er redete weiter sanft auf sie ein. Die Körpersprache eines verliebten Mannes. Die ich jetzt schon Stereo gesehen hatte.
Die Welle von Eifersucht, die mich durchflutete, warf mich fast um. Augenblicklich wurde mir klar, warum es mir so wichtig gewesen war, hierher zu kommen, aus welchem Grund ich mit nassen Haaren und nicht zueinander passenden Kniestrümpfen in einen schmuddeligen Laster gestiegen war. Pete mit Hilda zu sehen, hatte mich irritiert. Sam mit Hope zu sehen, löste Verzweiflung in mir aus. Plötzlich fühlte ich mich unendlich einsam.
Ich hatte Sam Hetherington aus meinen Gedanken verbannt, hatte ihn in eine Kiste mit schweren Schlössern gesteckt, die ich nur von Zeit zu Zeit öffnete, wenn ich wusste, dass ich es verkraften konnte. Ich hatte mich selbst davor behütet, mich in ihn zu verlieben. Jetzt war er herausgeplatzt wie ein Kastenteufel und wirkte nur umso liebenswerter, wie er da seine Verletzlichkeit zeigte, seine Seele für alle sichtbar offenlegte. Drüben an der Tür zum Speisezimmer sah ich Chad stehen, der die Szene mit gehetztem Blick beobachtete. Mir stockte der Atem. Schnell wandte ich mich ab und meinem Vater zu.
»Ja, bin ich.«
»Was denn, mein Schatz?«
Er hatte seine Frage vergessen, so lange hatte ich für die Antwort gebraucht.
»Ich bin wirklich froh, dass ich mitgekommen bin. Es wird Zeit, dass ich mir mal über ein paar Dinge klar werde.«
Und damit nahm ich meinen Vater am Arm und zog ihn mit ins Speisezimmer zum Essen.
Ein Meer von runden, mit weißen Tüchern und Blumengestecken geschmückten Tischen, die von kleinen, goldenen Stühlen umgeben waren, standen dicht an dicht in den Raum gequetscht, der zwar groß, aber doch nicht zur Abfütterung von zweihundert Menschen gedacht war. Eine Sitzordnung hing an einer Pinnwand an einer der Türen. Während um mich herum der Lärmpegel dramatisch anstieg, suchte und fand ich meinen Platz. Natürlich war ich an diesem Abend Mary Granger und hatte daher natürlich einen tauben Achtzigjährigen auf der einen und Schmuddelbob auf der anderen Seite, der sich wie ein Schneekönig über sein Los freute, während ich nur dachte: Beam me up, Scotty.
Bob verbrachte den ersten Gang damit, mir zu erklären, wie patent er war: Er konnte Regale aufhängen, Wasserleitungen reparieren und sogar kochen. Letztes Jahr hatte er das gesamte Weihnachtsessen für sich und seine Tante gekocht. Ich nickte und lächelte höflich, während ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, als müsste ich Wassermassen von meinem überquellenden Herzen abwehren. Ich entkam ihm während des Hauptgangs und lieferte mir mit dem alten Mann zu meiner Linken eine Brüll-Schlacht, während der eine Hand hinters Ohr legte und schrie: »Was? Was?« Dann wandte ich mich wieder ab und Bob machte mir einen Heiratsantrag. Fragte, ob ich ihn am Valentinstag heiraten wollte, das war ein Samstag, das hatte er schon überprüft. Er meinte, wir könnten erst mal bei ihm wohnen, bis wir etwas Größeres gefunden hätten. Und er mochte Kinder gern. Er drückte meinen Oberschenkel und ich schlug ihm auf die Hand. Während des Nachtischs legte er wieder die Hand auf meinen Oberschenkel und ich stand auf. Einige Leute drehten sich nach uns um. Ich setzte mich wieder und mir war klar, dass mein Gesicht glühte. Dann warnte ich ihn mit deutlichen Worten, sagte, dass ich ihm beim nächsten Mal eine kleben würde. Bob machte ein erstauntes Gesicht. Er fragte sich ganz offensichtlich, warum ich einen Mann schlagen wollte, der nun wirklich meine letzte und einzige Hoffnung war. Alles, was für Poppy Shilling noch auf dem Männermarkt übrig war.
Aus leicht ersichtlichen Gründen trank ich während des Essens eine ganz Menge Wein, und selbst mir fiel auf, dass ich mehr als gut getankt hatte, als ich etwas später in Richtung der Tanzfläche schwankte. Ich hatte mir Zeit gelassen und am Tisch gewartet, bis die meisten schon rübergegangen waren, einschließlich Sam und Hope, wie ich bemerkte. Schließlich folgte ich der Menge mit einem weiteren Glas in der Hand. In dem kleinen, dunklen Raum mit abgewetzten, ledergebundenen Büchern an den Wänden, vermutlich die Bibliothek, pulsierten der dröhnende Bass und die Lichtblitze des Stroboskops über dichtgedrängte, taumelnde Körper. Im aufblitzenden Licht sah ich Chad am Rande der Tanzfläche stehen. Er wirkte noch immer mitgenommen. Ich blickte in die andere Richtung, wo ich erwartete, Hope mit Sam tanzen zu sehen. Sie tanzte auch wirklich mit jemandem, aber es war ein blonder Typ. Ich konnte nur seinen Rücken sehen. Und es war keine enge Nummer, sie warf sich eher mit sexy Bewegungen herum, mit verstärkter Beckentätigkeit. Ich überlegte gerade, ob ich hingehen und mit Chad reden sollte, als ich eine Stimme an meinem Ohr hörte.
»Hallo, Poppy.«
Ich drehte mich um. Ein ungemein attraktiver älterer Mann mit silbergrauen Haaren über einer hohen Stirn und einem Glitzern in den blauen Augen lächelte auf mich herab. Er hielt mich am Arm fest, als ich gegen ihn zu kippen drohte »Tom! Hallo!«
»Alles okay mit dir?«
»Ja, danke.« Ich lächelte ihn an, während er mich stabilisierte. Ich freute mich maßlos, ihn zu sehen. »Ich hatte schon gehört, dass du kommst. Ziemlich gewagt, hier auf Angies Terrain, findest du nicht?« Alkohol löste in der Tat die Zunge.
Er lachte. »Möglich, aber jemand hat mir eine Karte geschickt und Peggy und die Mädels meinten, ich soll es wagen.«
»Die Mädels?«
»Clarissa und Felicity.«
Seine Töchter. Ich sah sie auf der anderen Seite des Raumes, von wo aus sie ihm wild gestikulierend Zeichen gaben.
»Ich glaube, du sollst ihre Mutter zum Tanzen auffordern.«
»Ich weiß«, sagte er und ich hatte Tom, den Charmeur, noch niemals nervös gesehen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wird sie mir ins Gesicht lachen? Sie hat mir vor ein paar Tagen eine ermutigende Nachricht auf dem AB hinterlassen, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie da nicht ganz nüchtern war und dass es ihr später leidgetan hat, deswegen habe ich nicht zurückgerufen. Ist sie noch immer wütend auf mich? Riskiere ich ein blaues Auge? Was meinst du?«
»Es gibt nur eine Art, das herauszufinden.«
Angie sah an diesem Abend wirklich hinreißend aus. Brillanten glitzerten an ihrem Hals und bis auf ihr schwarzes Samtkleid hinunter wie eine Handvoll Sterne am Nachthimmel. Ihre rotgoldenen Haare waren in losen Locken auf ihren Kopf getürmt. Sie stand auf der anderen Seite des Raumes und redete mit Jennie und mit … oh, Himmel, Simon. Natürlich war er ohne Emma hier, die den Gerüchten zufolge entweder bereits als Gast Ihrer Majestät einsaß oder dies bald tun würde. Ich sah, wie Tom seine Fliege zurechtrückte und hinüberging. Angie lächelte und sagte erwartungsgemäß und den Anweisungen ihrer Töchter Folge leistend ja. Ich erhaschte einen Blick auf Clarissa, die erleichtert lächelte. Was natürlich Jennie und Simon alleine übrigließ. Doch noch bevor Simon überhaupt einen Gedanken an alte Zeiten verschwenden konnte, kam Dan auch schon herbeigeschlendert. Er sah ausgesprochen gut aus in seinem Dinner-Jacket, das ich noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Still nahm er seine Frau am Arm und mit einem höflichen »Verzeihung« in Simons Richtung steuerte er sie zielsicher auf die Tanzfläche. Jennie sah zauberhaft aus in ihrem silbergrauen Kleid und ich seufzte. Wenn die Männer nur wüssten, wie einfach wir Frauen eigentlich waren, dachte ich. Alles, was wir wollten, war ein bisschen ritterliches Verhalten uns gegenüber und dass man uns das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Der Weg der Vergebung würde bei Angie und Tom natürlich etwas länger sein, überlegte ich und drehte mich nach den beiden um. Sie tanzten, nicht zu eng, aber es war gewiss ein Anfang. Und da man immer irgendwo anfangen muss, war ein öffentliches Zur-Schau-Stellen von Zuneigung vor allen Freunden und Nachbarn eine gute Idee. Ich sah, dass einige Leute sie bemerkt hatten und Angie erfreute Blicke zuwarfen.
Das Fest nahm schwungvoll seinen Lauf. Eine Band ersetzte die Disco und es gab eine offene Bar, eine hervorragende Idee, wenn man mich fragte, und ich bediente mich regelmäßig daran. Ich tanzte kurz mit Felicity und Clarissa, die sich aus unerfindlichen Gründen über mich kaputtlachten. Frankie und Hugo waren dem Fest ganz diplomatisch ferngeblieben, sodass Clarissa den Abend unbeschwert genießen konnte. Sie und ihre Schwester waren aber sehr süß mit mir und fanden einen Platz an der Wand, wo ich mich hinsetzen konnte, nachdem ich zu Brown Sugar mehr oder weniger die Tanzfläche geräumt hatte. Und so fühlte ich mich ganz wie eine alte Herzogin aus einem Roman von Jane Austen. Sie fragten mich immer wieder ziemlich besorgt, ob ich ein Glas Wasser haben wollte oder an die frische Luft gehen. Ich schlug beides aus.
Es war schon spät und ein paar Mädchen, die wie Zimmermädchen gekleidet waren, trugen Tabletts herum, die sie hoch über ihren Köpfen hielten und auf denen kleine blaue Gläser standen.
»Die sind tödlich«, warnte Peggy mich, die, meinen Vater im Schlepptau, auf dem Weg zur Tanzfläche war. Sie seufzte, als ich es hinunterkippte. Mein Gott, war das köstlich. Ich schnappte mir noch eines von einem vorbeikommenden Tablett und kippte auch das. Dann ging ich zur Toilette. Zweimal sogar. Dann beschäftigte ich mich mit dem unglaublich interessanten Riemen meiner Handtasche. Alle tanzten. Im Speisesaal befand sich buchstäblich nur noch eine Handvoll Leute – ich stand auf, um den Kopf durch die Tür zu stecken. Ein paar Leute – darunter auch Bob, der, oh Gott, direkt auf mich zukam. Ich machte kehrt und floh. Eilte zur Bibliothek zurück, um ihn abzuhängen, und drängelte mich dort auf die Tanzfläche.
»’tschuldigung, tut mir leid.« Ich tat, als würde ich nach jemandem suchen. Es herrschte drangvolle Enge. Würde irgendjemand bemerken, dass ich nicht wirklich mit jemandem tanzte? Vielleicht sollte ich mit Bob tanzen? Dann hätte ich wenigstens einen Partner. Ich machte kehrt und sah, wie er Yvonne aus dem Laden auf die Tanzfläche führte. Okay. Super. Yvonne hatte einen Damenbart.
Unsäglich betrunken schwankte ich dennoch zur Musik hin und her, doch die Handtasche über meiner Schulter stieß ständig gegen andere Leute, die beim ersten Mal noch amüsiert dreinblickten, beim zweiten Mal aber schon nicht mehr. Deswegen legte ich sie auf den Boden. Ah, ja, jetzt kapierte ich, was es damit auf sich hatte, warum Frauen das taten. Man konnte auf seine Tasche schauen, um seine Tasche herum tanzen, so tun, als wäre man in seine Tasche verliebt … So etwas … Ich schwankte, riss die Arme in die Höhe – »Youuuuu mye-eye, brown-eyed – uuups!«
Ein Mann hielt mich fest und sagte verärgert: »Herrgott noch mal!« Aber ich war nicht hingefallen, nur gestolpert. Plötzlich packte er mich bei den Schultern und ich drehte mich verärgert um.
»Hören Sie mal, ich tanze hier nur, okay?«, blaffte ich. Aber es war gar nicht derselbe Mann. Es war Sam. Und ich war in seinen Armen. Er tanzte mit mir. Sam Hetherington tanzte mit mir und nicht nur so ein Rumgehopse, nein, das war richtiger Engtanz. Ganz nah an seiner Brust. Ich war im siebten Himmel.
»Sam!«, rief ich ihm begeistert ins linke Ohr.
»Alles in Ordnung?«
»Perfekt!« Mein Atem ging stoßweise. »Absolut perfekt.« Ich schmiegte mich an seine Schulter. Wir wiegten uns im Takt der Musik oder zumindest tat er das; ich folgte. Und ich fühlte mich so viel besser, regelrecht getragen. Und plötzlich so voller Weisheit. Ich blickte zu ihm empor. Er war ein wenig verschwommen.
»Sam, ich weiß, dass Sie vermutlich nur mit mir tanzen, um Hope eifersüchtig zu machen, aber ich will, dass Sie wissen, dass es von mir aus völlig in Ordnung ist. Wirklich. Ich liebe es.«
Sein Gesichtsausdruck wechselte blitzartig von heiter zu verärgert. »Reden Sie nicht so einen Unsinn, Poppy.«
»Sie ist sehr schön«, sagte ich träumerisch und erhaschte einen Blick, wie sie in ihrer Tunika über die Tanzfläche gewirbelt wurde. Von Chad? Das konnte ich nicht erkennen. Ich hoffte es. »Und als sie hierher gezogen sind, Hope und Chad, dachten wir, nun ja, wir dachten, sie wären so vollkommen. Das perfekte Paar. Ein Musterbeispiel für uns alle. Aber nichts ist vollkommen, nicht wahr, Sam?« Meine Güte, diese Drinks waren stark gewesen. Selbst ich wusste nicht, was als Nächstes kommen würde. »Sobald man an der Oberfläche kratzt, tauchen jede Menge Risse auf.«
»Könnten wir vielleicht über ein anderes Thema sprechen?«, sagte er ziemlich angespannt in mein Ohr. Ich nickte weise. Ach ja. Er konnte es nicht ertragen. Aber die Sache ist die, wenn mein Finger erst einmal über dem Selbstzerstörungsknopf schwebt, dann fällt es mir entsetzlich schwer, ihn dort wieder wegzuziehen.
»Ich habe das schreckliche Gefühl, dass ich mich in dich verliebt habe, Sam«, sagte ich heiser gegen sein Schulterblatt. Ich lachte bitter auf. »Wie ungeschickt. Wo du doch noch immer in Hope verliebt bist. Hope – wie die Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Hoffnung stirbt …« Aus unerfindlichen Gründen kam mir das entsetzlich komisch vor und ich brach in hilfloses Kichern aus.
Er führte mich jetzt von der Tanzfläche, aber nachdem ich sozusagen ein Geständnis abgelegt hatte, wollte ich mich nicht so leicht ablenken lassen. »Sam?« Ich musste laut schreien, um den Lärm zu übertönen. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich habe gesagt, dass ich glaube, ich …«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Poppy«, sagte er bestimmt und parkte mich auf einem Stuhl. Meinem alten Stuhl. Hallo Stuhl. »Warten Sie hier, bis ich Ihren Vater geholt habe.«
»Bis ich Ihren Vater geholt habe«, wiederholte ich streng und wackelte strafend mit dem Zeigefinger. Dann nieste ich und musste mir die Nase putzen. Aber ich blieb gehorsam sitzen und kicherte nur gelegentlich vor mich hin, wenn Leute vorbeikamen. Sie lächelten belustigt auf mich herab.
»Danke für die Karten!«, rief ich Mark zu, der mit einem hübschen blonden Mädchen vorbeikam.
»Damit hab ich nichts zu tun, Poppy«, grinste er. »Aber schön, dass du hier bist. Gefällt es dir?«
»Super!« Ich zwinkerte ihm kräftig zu. Na klar. Er wollte natürlich vor seiner Freundin nicht zugeben, dass er einer anderen Frau Karten geschickt hatte. Immer mehr Leute kamen vorbei auf dem Weg zur Tanzfläche.
»Guten Abend«, begrüßte ich den einen oder anderen. Nein, ich würde nicht sitzen bleiben. Das war unhöflich. Ich erhob mich. Mit Mühe. »Und vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Eine ältere Dame blinzelte mich erstaunt an. »Ja, es ist ein schönes Fest, nicht wahr? Nein, keine Ursache. Komm mal wieder vorbei.« Das galt Pete. »Du auch, Hilda.«
»Mein Gott, Kind, was hast du denn genommen?« Dad war plötzlich besorgt neben mir. Dabei gehört Besorgnis eigentlich nicht ins Repertoire meines Vaters. Er ist kein großer Mann, aber mit vollem Körpereinsatz gelang es ihm, mich zur Tür zu befördern. Wir kamen an einer Kellnerin vorbei. »Hey, warte mal, Dad.« Ich drehte mich um. »Da ist so ein kleines, blaues Glas, ja, mit diesem leckeren …« Aber sie war schon weitergegangen.
»Den Schnaps, dieses Teufelszeug? Das hast du getrunken?«, sagte er entgeistert.
»Drei«, erklärte ich feierlich. »Hätte nichts gegen noch einen.« Ich wollte dem Glas hinterherlaufen, doch mein Vater war ehemaliger Profi-Jockey und seine Arme waren stark. Er schob mich mit aller Macht nach draußen.
»Also, ich werde jetzt Folgendes tun«, sagte er in dem geduldigen Tonfall, den man normalerweise nur gegenüber geistig Minderbemittelten anschlägt, »ich bringe dich zum Laster, okay? Dann gehe ich zurück und hole die Kinder und dann juckeln wir nach Hause, ja?«
»Prima«, sagte ich fröhlich, während er mich die hell erleuchtete Kieseinfahrt entlangschob. Die Nachtluft traf mich wie eine Keule und plötzlich wurde mir ganz unsagbar schwindelig und auch ein bisschen übel. Musste ich mich übergeben? Ich zählte bis zwanzig, und nachdem ich meine Schuhe ausgezogen hatte, um die Wiese zu überqueren, fand ich mich im dunklen Führerhaus eines Transporters mitten auf einer Weide mit den Schuhen auf dem Schoß wieder. Dad eilte davon.
Damit mir nicht schlecht wurde und die Welt aufhörte, sich im Kreis zu drehen, sang ich. Ich sang mit höchster Konzentration eine Strophe von My favourite things. Aber da gab es so viele Lieblingsdinge, die mir alle gar nicht mehr einfielen. Regentropfen auf Rosen, Schnurrhaare, Kätzchen, Teekessel … Mist. Na gut, dann eben Edelweiß. Und schon trällerte ich weiter. Neben mir sprang ein junges Paar in einen Land Rover. Sie kletterten auf den Rücksitz und fingen an sich zu küssen. Ach ja. Alle schienen heute Abend Glück in der Liebe zu haben. Alle außer mir. Ich sang für die Sterne, genau wie Maria für die Kinder sang, und irgendwann in Laufe der dritten Strophe tauchten meine eigenen Kinder auf. Genau wie die der Trapp-Familie, aber es waren nicht so viele, Gott sei Dank.
»Meine Süßen!«, begrüßte ich sie und breitete überschwänglich die Arme aus. Archie schlief tief und fest in eine Decke gewickelt, als Dad ihn mir durch die Fahrertür reichte. Dann ging meine eigene Tür auf und Clemmie war da, in Sams Armen. Sie machte große Augen.
»Warum hast du gesungen, Mami? Wir haben dich schon von ganz weit weg gehört.«
»Weil ich glücklich bin, mein Schatz! Oh, hallo«, raunte ich Sam zu. »Kannst dich gar nicht von mir fernhalten, was?«
»Halt die Klappe und rutsch rüber«, sagte mein Vater unnötig streng für seine Verhältnisse. »Hier, leg das über die Kinder.«
»Ein Sicherheitsgurt«, staunte ich. »Den hab ich auf dem Hinweg gar nicht bemerkt. Kommst du auch, mein Hübscher?« Ich zwinkerte Sam übertrieben zu.
»Das reicht jetzt, Liebes«, sagte mein Vater etwas sanfter. »Und sei jetzt mal so gut, seine Fliege loszulassen, ja?«
»Warum?«
»Weil er das nicht mag.«
Enttäuscht ließ ich los. Sams Kopf zog sich zurück, und ehe ich mich’s versah, wurde mir die Tür vor der Nase zugeknallt. »Spielverderber«, schmollte ich. Dann kurbelte ich das Fenster hinunter. Doch Dad saß bereits am Lenkrad und ließ den Motor an. »Ein wunderbares Fest!«, flötete ich und hängte mich aus dem Fenster, während wir rückwärts ausparkten.
Als wir in Richtung der Ausfahrt abbogen, leuchteten die Scheinwerfer unseres Transporters über die Ladefläche des Land Rovers neben uns. Nackte Gliedmaßen zitterten in dem gelben Lichtstrahl: zwei Menschen, jeweils die untere Hälfte nackt, küssten sich auf dem Rücksitz liegend. Ein Paar leuchtend weiße Pobacken, ein breiter Rücken, noch immer im Dinner-Jacket, der Hinterkopf eines blonden Mannes, der über einem dunklen schwebte. Plötzlich erfasste der Scheinwerfer das schöne, aber überraschte Gesicht von Hope. Während wir über die Wiese davonrumpelten und Sam inmitten seiner Ländereien stehenließen, wurde mir bewusst, dass ich zwar nicht die Pobacken, wohl aber den Land Rover erkannt hatte. Er bretterte regelmäßig durch unser Dorf und gehörte dem Leidenschaftlichen Luke.