31

Den folgenden Morgen erblickte ich als radikal veränderte Frau. Nicht mehr in Topform. Nicht mehr in harmonischem Zwiegesang mit einer österreichischen Familie auf der Flucht vor den Nazis. Nicht mehr im siebten Himmel. Diese Frau befand sich in der Hölle und anstelle von Musik dröhnte ein heftig pochender Schmerz in ihrem Kopf. Ich war nicht in der Lage, mich aus dem Bett zu erheben oder die Zunge vom Gaumen zu lösen, nur die Augen aufzustemmen, gelang mir ganz kurz, bevor ich sie lieber wieder schloss – noch nie hatte sich ein Mensch so elend gefühlt. Vom Gewicht meiner eigenen Gliedmaßen niedergestreckt, die ich nur mit Mühe in eine fötale Position bewegen konnte, blieb ich regungslos liegen wie tot. Und schlief wieder ein.

Etwas später weckte mich ein Geräusch von drohendem Unheil nebenan. Ein grollender Vulkan. Eine gewaltige Menge geschmolzener Lava, die jeden Augenblick emporschießen musste. Ah, jetzt war es so weit. Archie kreischte wütend auf und Clemmie kam hereingerannt.

»Mami, ich glaube, Grandpa hat Archie die Windel verkehrt rum angezogen, aber als ich versucht habe, es zu machen, hat er geschrien. Er lässt mich nicht.«

»Ich komme schon«, versprach ich und wuchtete mich mit heldenhaftem Einsatz aus dem Bett. Vorsichtig probierte ich, ob meine Füße mich tragen würden, schwankte kurz und schlurfte dann nach nebenan.

Archie stand in seinem Gitterbett und hielt die Stäbe umklammert. In der Tat trug er die Windel verkehrt herum und dazu ein T-Shirt, das offenbar Clemmie gehörte. Aber immerhin waren sie noch am Leben, wenigstens hatte mein Vater es probiert, dachte ich dankbar, während ich hörte, dass er unten Tee machte. Ich hob meinen kleinen Sohn aus seinem Bettchen und wäre dabei fast umgekippt. Musste mich an der Wand festhalten. Irgendwie organisierte ich eine saubere Windel und zusammen gingen wir nach unten, mit meinem Sohn, der darauf bestand, jede Stufe alleine zu gehen, an der einen Hand, die andere an meine pochende Stirn gelegt.

»Morgen, Dad«, nuschelte ich, während mein Vater Archie auffing, der auf ihn zugelaufen kam. Er setzte ihn in seinen Hochstuhl. »Könntest du das bitte etwas leiser drehen?« Ich machte eine Handbewegung in Richtung des laut dudelnden Radios.

Dad grinste und sah dabei schrecklich munter aus, sichtlich frisch geduscht. Er streckte den Arm zum Radio aus und ich ließ mich an den Tisch sinken und legte den Kopf auf die Hände.

»Guten Morgen, mein Schatz«, gluckste er. »Alles in Ordnung?«

Es kam nicht oft vor, dass mein Vater »am Morgen danach« die Oberhand hatte, er musste es also auskosten. Ich hielt den Kopf gesenkt und grunzte undeutlich.

»Und wie geht es dir so?«

»Wunderbar.«

Furchtbar. Es erschien alles vor mir in leuchtenden Farben. Technicolor sozusagen. Da waren kleine, blaue Gläschen. Bob, der mich während des Essens lüstern anglotzte. Chads verzweifelter Blick. Hope, die über die Tanzfläche wirbelte. Sam. Mit dem ich getanzt hatte, aber – oh Gott, was hatte ich gesagt? Ich setzte mich langsam auf. Legte die Hand vor den Mund, während mein Vater mir eine Tasse Tee und zwei Kopfschmerztabletten brachte.

»Dad, ich glaube, ich habe gestern Abend auf skandalöse Weise mit Sam Hetherington geflirtet.«

»Nein, nein, mein Schatz. Nicht so, dass es irgendjemandem aufgefallen wäre.«

»Wirklich?«

»Auf keinen Fall. Und sowieso, es spricht doch nichts gegen einen kleinen Flirt. Das hält die Welt in Gang.« Er setzte sich mir gegenüber und nippte an seinem Tee.

»Nein, es ist nur, ich glaube, ich bin vielleicht etwas zu weit gegangen « In meinem Hirn herrschte Nebel. Ich versuchte, ihn zu durchdringen. »Habe ihm meine unendliche Liebe erklärt oder so. Mein Gott, glaubst du, das habe ich echt getan?«

»So was nimmt doch keiner ernst bei einer Party. Hier, tu dir da Zucker rein für deinen Kreislauf. War aber ein schöner Abend gestern, findest du nicht?« Er wuschelte Clemmie durchs Haar, als sie an uns vorbeirannte, um nebenan Fernsehen zu schauen.

»Du glaubst also nicht, dass er es bemerkt hat?«, fragte ich besorgt und erinnerte mich … Oh Gott, hatte ich wirklich an seinem Ohrläppchen geknabbert, als wir getanzt hatten? Es kam mir so vor, als erinnerte ich mich daran, dass er mich mit einem »Nein, Poppy« beiseitegeschoben hatte. Hoffentlich nicht.

»Keinen Augenblick«, versicherte mir mein Vater. »Und solche Leute kriegen sowieso die ganze Zeit Aufmerksamkeit. Wie Brad Pitt oder so, die denken da gar nicht drüber nach.«

Brad Pitt. Für so weit außerhalb meiner Liga hielt mein Vater Sam also. Interessant. Ebenfalls interessant war, dass ich vor einigen Wochen, also eigentlich vor gar nicht so langer Zeit, das Gefühl gehabt hatte, er wäre nicht nur in meiner Reichweite, sondern sogar ziemlich nahe. Aber das hatte sich geändert, auf seinem Landsitz, in seinem flaschengrünen Frack, der geborene Gastgeber, ganz der gutaussehende »Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens«. Junggeselle stimmte nicht ganz. Er war geschieden. Von Hope. Und beim Gedanken an Hope kam mir eine befremdliche Erinnerung, die mit Pobacken zu tun hatte. Ich runzelte die Stirn und versuchte mich zu erinnern. Gegenüber am Küchentisch stellte mein Vater optimistisch einen Ständer mit ein paar Scheiben Toast vor mich hin.

»Dad, auf der Wiese, beim Wegfahren, kannst du dich da an einen Land Rover neben uns erinnern?«

»Ich war zu sehr damit beschäftigt zu verhindern, dass du aus dem Fenster fällst, um mich an einen Land Rover zu erinnern. Was meinst du, kommst du klar, wenn ich jetzt gehe?« Er schüttelte besorgt seine Armbanduhr aus dem Ärmel. »Ich muss zu den Pferden zurück.«

»Ja, ja, ich komme klar.« Ich wedelte lässig mit der Hand, völlig erschöpft von den Anstrengungen der Erinnerung. »Geh nur. Geh.«

»Die Kinder haben vor ein paar Stunden gefrühstückt und dann hab ich Archie wieder hingelegt, er hat also schon sein Schläfchen gemacht.«

Ich blinzelte. »Echt? Mein Gott, wie spät ist es?«

»Elf.«

»Meine Güte. Okay.«

Das war wirklich lieb von meinem Vater. Seine Pferde verknoteten sich in ihren Boxen bestimmt schon die Beine. »Danke, Dad.« Ich blickte auf, als er seine Schlüssel holte und seine Brieftasche. Dann sah ich ein wenig genauer hin. Sein Gang hatte so etwas Federndes an sich. Und die Schiebermütze, die er jetzt aufsetzte, saß in einem kecken Winkel. »Hast du dich gut amüsiert gestern?«, fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Ja, das habe ich wirklich.« Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal um. »Ist diese Peggy nicht eine ausgesprochen nette Frau?«

»Das ist sie«, sagte ich zurückhaltend. »Aber sie ist nicht auf der Suche, Dad.«

»Oh, ich weiß. Wir haben darüber gesprochen. Haben uns richtig gut unterhalten und uns prächtig verstanden, bis mir gesagt wurde, meine Tochter wäre … egal. Wie gesagt, sie ist eine sehr nette Frau.«

»Worüber habt ihr geredet?«, fragte ich neugierig.

»Hm? Ach, über deine Mutter. Dass ich nie über ihren Tod hinweggekommen bin. Nie eine andere gefunden oder vielmehr nie eine andere gesucht habe. Und über sie und Roger. Ich hatte sie immer für eine ziemlich verrückte, frivole Schnepfe gehalten, aber sie hat eine ganz nachdenkliche Seite. Und das Komische ist«, gedankenverloren blickte er die Hintertür an, »ich habe das Gefühl, dass sie genau dasselbe über mich gedacht hat. Dass ich ständig Witze reißen muss.« Ich blieb ganz still am Tisch sitzen. »Das ist unser Panzer, glaube ich. Eine Schutzschicht. Damit keiner an unsere verletzlichen Stellen drankommt. Jedenfalls «, er schüttelte den Kopf wie ein Pferd, das lästige Fliegen loswerden will. Dann schlüpfte er in seinen Mantel. »Wir dachten, wir gehen zur Jagd, zum Stelldichein am Freitagabend in Warwick. Nur so zum Spaß, weißt du«, fügte er rasch hinzu.

Ich nickte. »Guter Plan. Das wird ihr bestimmt gefallen.«

»Es ist manchmal so«, er blieb an der Tür stehen, »dass es langweilig ist, alles alleine zu machen, weißt du?« Er drehte sich zu mir um. »Wenn die ganze Welt für Paare gemacht ist. Restaurants, Partys, Kinos – das Leben. Es ist ermüdend. Manchmal ist es einfacher, zu zweit zu sein.«

Er verabschiedete sich. Nachdem er gegangen war, stellte ich fest, dass ich genau das am vergangenen Abend herausgefunden hatte. Dass es einfacher war, zu zweit zu sein, wenn man nicht auffallen wollte. Mein Dad war schon seit Jahren allein, Peggy ebenfalls, und mir war die Mühe nie bewusst gewesen, die das kostete. Sie machten beide ihre Sache sehr gut, trugen nach außen hin ein fröhliches Gesicht zur Schau, aber es war eine Aufgabe, kostete Kraft, dieses sehr bewusst gewählte öffentliche Erscheinungsbild aufrechtzuerhalten. Jahrelang waren sie beide am Abend alleine ins Bett gegangen und ich bin sicher, dass man sich daran gewöhnte, dass es mit der Zeit leichter wurde. Aber die öffentliche Seite wurde bestimmt nicht einfacher. Und wenn man dabei nicht langsam verschwinden und unsichtbar werden wollte, wie es bei manchen Leuten der Fall war, gehörte schon eine Menge Rückgrat dazu. Dass man unterhaltsam war. Und interessant. Und angenehme Gesellschaft. So wie Dad und Peggy. Und ich jetzt hoffentlich auch, selbst wenn ich noch viel zu lernen hatte. Respekt, Poppy.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich es laut ausgesprochen hatte, aber mein Sohn, der mich von seinem Hochstuhl aus beobachtete, wiederholte es mit ernster Miene: »Refpekt«.

Ich lächelte und beugte mich vor, um das zerdrückte Stückchen Toast zu nehmen, das er mir hinhielt. In diesem Augenblick ging meine Hintertür auf und Angie streckte den Kopf herein.

»Hu-hu«, flüsterte sie und legte fragend den Kopf schief.

Ich legte Archies matschiges Brot auf den Tisch. »Komm rein.«

»Alles okay mit dir?« Sie schloss leise die Tür und schlich theatralisch auf Zehenspitzen durch den Raum, setzte sich dann betont vorsichtig an den Tisch und passte auf, dass die Kette ihrer Handtasche kein Geräusch machte. Sie war mordsmäßig aufgetakelt, wie ich bemerkte, trug ein rosa Kostümchen und viel Schmuck.

»Alles gut, danke, bin nur ein bisschen müde.«

»Meine Güte. Das überrascht mich nicht. Du hast gestern Abend ja genug gekippt, um eine kleine Flotte darauf schwimmen zu lassen. Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so besoffen war. Darf ich?« Sie griff nach einer Scheibe Toast.

»Bitte sehr«, sagte ich trocken, fest entschlossen, ihr nicht zu sagen, dass ich beim Geruch der Orangenmarmelade garantiert würgen musste.

»Und es gibt nichts Schlimmeres«, sagte sie nachdrücklich und butterte eifrig drauflos, »als wenn einem am nächsten Tag jeder aus dem Weg geht und man vom ganzen Dorf schief angesehen wird, deswegen wollte ich schnell vorbeikommen und sagen, dass es überhaupt nichts macht. Wir fanden es sogar alle ganz toll, dass du dich auch mal aus der Reserve hast locken lassen. Besonders als du auf die Bühne gegangen bist und dir das Mikro geschnappt hast.«

Ich blickte sie entgeistert an. »Nein.«

»Mhm«, sie nickte mit vollem Mund. »Du hast allen gedankt, dass sie gekommen sind. Und dann gefragt, ob wir Climb Every Mountain hören wollen, aber Sam hat dich von der Bühne gezerrt.«

»Oh Gott«, flüsterte ich beschämt und ließ die Stirn auf die Hände sinken. Daran konnte ich mich gar nicht erinnern. Komisch. Große Erinnerungslücken auf der einen Seite und wilde Halluzinationen bezüglich Pobacken auf der anderen. Was war in diesen Gläsern gewesen? Was war dieser Schnaps für ein Teufelszeug? Das gehörte verboten.

»Und ganz gleich, was du tust, du darfst nicht denken, dass das ganze Dorf über dich lacht wegen diesem Mann.«

»Tun sie das?«, japste ich und riss den Kopf in die Höhe.

»Nein, natürlich nicht. Das wollte ich dir doch gerade sagen. Deswegen bin ich hier. Ich wusste, dass du dich schlecht fühlen würdest – und natürlich hab ich das ja auch selbst schon hinter mir, hab mich in der Hinsicht ziemlich blamiert –, deswegen wollte ich dir sagen, dass du dir überhaupt keine Sorgen zu machen brauchst.«

»Ja, aber du hast ihn in deiner Küche in die Ecke getrieben und dir eine Rose zwischen die Zähne gesteckt«, sagte ich aufmüpfig. »So was hab ich nicht getan.«

»Nun ja, dafür hast du ihn im unteren Klo in die Ecke getrieben.«

»Nein!«

»Wir dachten, du wärst da drin ohnmächtig geworden und Sam wollte nach dir sehen. Du hast ihn reingezerrt und die Tür abgeschlossen. Er konnte dich gerade noch davon abhalten, den Schlüssel zu verschlucken.«

Entsetzt stand ich auf. Starrte aus dem Fenster in den Garten hinaus. Dann drehte ich mich wieder zu ihr um. »Oh Gott, ich hatte überlegt nach Clapham zu ziehen, aber das ist definitiv nicht weit genug«, flüsterte ich. »Es muss schon Sidney sein.«

»Da will Simon jetzt offenbar hin«, sagte sie leichthin, als würden wir gerade besprechen, ob wir noch schnell bei Ikea vorbeifahren sollten. »Jennie hat sich gestern Abend lange mit ihm unterhalten. Man hat ihm dort einen Job angeboten und er will noch mal ganz von vorne anfangen. Und sich scheiden lassen.«

Angie hatte ganz offensichtlich heute Morgen schon die Runde im Dorf gemacht.

»Ich werde mal Flüge raussuchen«, nuschelte ich und tappte zum Computer hinüber.

»Ach, sei nicht albern, jeder blamiert sich mal. Das ist doch nur erfrischend. Ich kann Leute nicht ausstehen, die das nicht tun. Bigotte Deppen. Und er ist ja auch wirklich sehr attraktiv, Poppy, das ist nicht deine Schuld.«

»Wessen Schuld ist es dann?«

»Die von Gott«, sagte sie nach einer Weile bestimmt. »Warum macht er auch solche Männer! Tom ist zurück«, sagte sie, wo wir schon beim Thema attraktive Männer waren. Sie errötete. »Oder zumindest war er das letzte Nacht. Ob er jetzt immer noch da ist, ist eine andere Frage. Vielleicht hätte ich nicht so einfach nachgeben sollen.« Sie sah mich besorgt an.

Aha. Das steckte also dahinter. Weil sie sich für ihr eigenes Verhalten schämte, war sie vorbeigekommen, um mich an meines zu erinnern. Aber warum sollte sie sich dafür schämen, dass sie mit ihrem Mann geschlafen hatte?

Das sagte ich ihr und sie packte mich über den Tisch hinweg am Handgelenk. »Findest du wirklich? Ich kam mir heute Morgen so billig vor, so leicht zu haben, deswegen hab ich mich davongemacht, um dich und Jennie zu besuchen. Ihm habe ich erzählt, ich wäre zum Mittagessen verabredet.«

Daher also das rosa Kostüm. »Du hast ihn zurückgelassen?«

»Na ja, soll er sich doch erst mal ein bisschen langweilen ohne mich und dann in sein anderes Haus zurückfahren, um dort hoffentlich festzustellen, wie sehr er mich vermisst.«

Ich seufzte. »Angie, er wäre doch nicht zurückgekommen, wenn er es nicht ernst meinen würde.«

»Glaubst du?«

»Natürlich. Himmel noch mal, geh jetzt nach Hause. Er ist derjenige, der sich blamiert hat, nicht du. Wenn du schnell machst, ist er vielleicht noch da, und an eurer Stelle würde ich mich mit einer Kanne Kaffee und ein paar Keksen an den Küchentisch setzen und ein paar Dinge glattbügeln. Und dann einen Urlaub buchen.«

Schweigend betrachtete sie ihre Hände. Nach einer Weile stand sie langsam auf und schob sich die Kette ihrer Chanel-Handtasche über die Schulter. »Vielleicht hast du Recht. Und weißt du was? Du bist manchmal richtig weise, Poppy.«

»Es ist immer einfach, weise zu sein, wenn es um das Leben von anderen geht«, bemerkte ich düster.

»Wie wahr, wie wahr«, pflichtete sie mir bei. Dann zögerte sie. »Und es tut mir leid, dass ich hergekommen bin, um «

»Dich an meinem Unglück zu weiden.«

»Du hast ihn nicht wirklich im Klo eingeschlossen.«

»Nicht?« Ich atmete erleichtert auf.

»Nee. Ihn nur den Flur entlanggejagt. Du weißt ja, wie solche Sachen aufgeblasen werden.« Sie grinste.

Ich versuchte, zurückzugrinsen, aber es wollte mir nicht ganz gelingen. Angie hauchte mir einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor sie sich im Eiltempo durch die Hintertür davonmachte.

Später am Tag wagte ich mich in den Dorfladen, um Brot zu kaufen. Der eine oder andere grinste mir unterwegs vielsagend zu. Ich lächelte dünn zurück. Irgendjemand summte sogar Edelweiß hinter mir in der Schlange bei der Post. Ob das wohl eine familiäre Sache war? Genau wie mein Vater sich für Elvis hielt, wenn er zu viel getrunken hatte, wurde ich zu Julie Andrews. Das wäre ein gefundenes Fressen für einen Psychologen. Der würde vermutlich ein Kloster empfehlen. Und wäre ein Nonnenhabit nicht sowieso praktisch? Um sich darin zu verstecken? Ich schlich auf Zehenspitzen nach Hause.

Drei Tage später erhielt ich eine E-Mail von Janice:

Liebe Poppy,

ich hoffe, Ihnen und den Kindern geht es gut. Es hat mir viel Spaß gemacht, auf sie aufzupassen. Und ich hoffe, dass es Ihnen inzwischen schon wieder besser geht.

Ich zuckte zusammen und meine Zehen krallten sich in meine Turnschuhe.

Sam hat darum gebeten, dass Sie noch einmal vorbeikommen und ein paar Dokumente unterschreiben. Er ist diese Woche unterwegs, muss aber dazu scheinbar auch nicht hier sein. Meinen Sie, Sie könnten morgen mal vorbeischauen?

Unterwegs. Rasch stand ich vom Computer auf. Ja natürlich war er das, meilenweit entfernt, wenn er recht bei Sinnen war. Was für Dokumente?, überlegte ich. Mein Blick wanderte über den Bildschirm hinweg zu dem feuchten Fleck an der Wand, der sich inzwischen ausgebreitet hatte und von dem die Farbe abblätterte. Ich zupfte daran und ein ganzes Stück löste sich. Das konnte ich von meinem Erbe in Ordnung bringen lassen. Ich konnte eine ganz neue Wand bauen lassen. Nicht dass mir dieser Gedanke besonders reizvoll erschienen wäre.

Am nächsten Morgen nahm Jennie mir die Kinder ab und ich fuhr in die Stadt. Die ersten Schneeflocken des Jahres wirbelten auf meine Windschutzscheibe herunter und schmolzen leise dahin. November. Bald war Weihnachten, mein erstes alleine, wie mir bewusst wurde. Ich wischte den Schnee mit den Scheibenwischern beiseite und wünschte, ich könnte auch andere Dinge einfach so beiseitewischen und ganz neu anfangen. Schweren Herzens parkte ich den Wagen, zog den Kopf ein unter dem aufkommenden Schneesturm und schleppte mich, während mir ein kalter Wind in den Nacken fuhr, in meinem alten braunen Mantel die Hauptstraße entlang. Ich schob die vertraute Tür auf, seltsamerweise bewirkte dieser Ort, dass sich Melancholie über meine Seele legte und sich ein Kloß in meinem Hals breitmachte, während ich die Treppe hinaufstieg. Ob ich wohl ein Taschentuch brauchen würde, wenn ich schließlich oben beim Empfang angekommen war? Stattdessen setzte ich ein Lächeln auf und überreichte Janice den Blumenstrauß, den ich für sie gekauft hatte.

»Oh, das wäre aber nicht nötig gewesen.« Sie nahm die Blumen lächelnd entgegen.

»Sie waren so nett und ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt.« Dad hatte das sicher übernommen, als er die Treppe hinaufgerannt war, um die Kinder aus den Betten zu holen, aber dennoch.

»Ich war furchtbar betrunken, wie Sie vermutlich gehört haben.« Schonungslose Offenheit war angesagt, hatte ich beschlossen.

»Ich habe gehört, dass Sie ordentlich gefeiert haben.« Sie grinste.

»Ganz ehrlich, ich trinke sonst nie so viel. Mein Mann hat überhaupt nichts getrunken und so war es immer nur mal ein Schlückchen, wenn ich mit meinen Freundinnen unterwegs war, was nicht allzu oft vorkam.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber was immer da bei diesem Jagdball serviert wurde, ist mir gehörig zu Kopf gestiegen.«

»Oh, ich könnte das Zeug gar nicht erst trinken und schon gar nicht vier oder fünf, wie Sie es offenbar getan haben. Gehen Sie rein, meine Liebe, er wartet schon auf Sie.«

Mir blieb der Mund offen stehen, nicht wegen der vier oder fünf, sondern »Er wartet auf mich? Ich dachte, er wäre unterwegs?«

»War er auch, aber er ist zurück.«

Janices Lächeln wurde immer breiter. Mit ausgebreiteten Armen scheuchte sie mich durch den Raum zu seiner Tür. Und so stand ich, ehe ich mich’s versah, in seinem Zimmer, während die Tür hinter mir zuging. Ich weiß noch, dass ich wünschte, ich hätte nicht meinen alten Mantel und die ollen Stiefel an und dass meine Haare nicht so feucht an meinem Kopf klebten.

Sam saß nicht in Anzug und Krawatte an seinem Schreibtisch, sondern stand am Fenster mit dem Rücken zu mir. Er trug einen dunkelroten Pulli und Jeans und sah so unglaublich jung und gut aus, selbst von hinten. Mein Herz schlug schneller.

»Hallo.« Er wandte sich um, lächelte.

»Hallo. Sie sollten doch gar nicht da sein.«

»Ich weiß. Aber ich wusste nicht, wie ich Sie sonst treffen sollte. Und da ich Ihr Rechtsanwalt bin, dachte ich, ein paar Unterlagen, die in meiner Abwesenheit unterzeichnet werden müssten, wären genau der richtige Vorwand. Ich war mir nicht sicher, ob Sie so einfach gekommen wären, wenn Sie gewusst hätten, dass ich hier bin. Ich dachte, es wäre Ihnen vielleicht peinlich.«

»Es gibt gar keine Unterlagen?«

»Keine Unterlagen. Oder zumindest – noch nicht. Vielleicht später im Zusammenhang mit meiner Entlassung.« Er zuckte mit den Schultern. »Das hängt ganz von Ihnen ab.«

»Sie entlassen? Warum sollte ich das tun?«

»Oh … da gibt es eine ganze Reihe von Gründen.« Er schien einen Augenblick zu zögern. Wirkte überraschend unsicher. Mit gesenktem Blick ging er zu seinem Schreibtisch hinüber, umrundete ihn, wobei er die Finger über das grüne Leder streifen ließ. Als er den Blick schließlich hob, lag etwas darin, das ich nicht ganz zuordnen konnte. Er betrachtete mich eine ganze Weile prüfend. Dann massierte er sein Schmierpapier mit einer nervösen Fingerspitze.

»Ich hatte ganz vergessen, wie … wunderbar du bist, Poppy.«

Ich fühlte, wie mir der Atem aus den Lungen entwich. Damit hatte ich nun ganz und gar nicht gerechnet. Ich wartete, jeder Nerv, jede Sehne waren gespannt. Doch er ging nur weiter um seinen Schreibtisch herum und setzte sich hin, während ich auf der anderen Seite stehen blieb. Ich war baff. War es nach einem solchen Satz, wie überraschend er auch gekommen sein mochte, nicht quasi zwingend angesagt, dass man aufeinander zutaumelte und sich in die Arme fiel? Hatte ich mich verhört? Hatte er vielleicht gesagt: » wie verwundbar Sie sind, Poppy«? Und ipso facto ein Loser? Nein, ich war sicher, dass er das nicht gesagt hatte. Dennoch konnte ich nicht vor seinem Schreibtisch stehen bleiben wie eine Viertklässlerin und so nahm ich mit klopfendem Herzen auf meinem üblichen Stuhl Platz. Er studierte, wie es schien, seine Schreibtischunterlage und trommelte leicht mit den Fingern darauf herum. Es war, als wären wir meilenweit voneinander entfernt und nicht nur geographisch gesehen; als wäre nicht nur der riesige lederbezogene Schreibtisch zwischen uns.

»Tut mir leid wegen neulich Abend«, platzte ich heraus, als ich es nicht mehr aushielt. »Dass ich mich so betrunken habe und dich den Flur hinuntergejagt und gesungen habe. Ich kann mich nicht an viel erinnern, um ehrlich zu sein. Ich trinke sonst nicht sehr viel und habe es offenbar übertrieben.«

Er blickte auf und lächelte, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und musterte mich gründlich, noch immer mit den Lachfältchen um die Augen. »Ich fand es schön.«

»Wirklich?«

»Ja, ich hatte gehofft, es wäre ein Fall von in vino veritas. Ein Anzeichen für deine Gefühle. Es entspricht jedenfalls meinen Gefühlen, obwohl ich die natürlich nicht zeigen konnte.«

»Natürlich«, flüsterte ich und dachte dabei: Warum nicht? Gab es da noch eine Frau?, überlegte ich fieberhaft. Nicht nur die eine? Würde Nummer zwei im nächsten Augenblick aus dem Wandschrank neben der Tür springen, von Kopf bis Fuß in Chanel?

»Poppy, ich habe mein Leben ziemlich in den Sand gesetzt«, sagte er leise und plötzlich wurde mir alles klar: Da musste gar keine zweite Frau sein. Eine war genug. Hope war der Grund für das alles. »Ich habe sehr jung geheiratet, war total verliebt und alles ist ganz furchtbar schiefgegangen. Ich war sehr verletzt.«

Ich nickte. »Und du liebst sie immer noch.«

»Oh nein.« Er machte ein erstauntes Gesicht. »Ich liebe dich.«

Alle Luft entwich aus meinem Körper. Bald würde ich völlig geplättet am Boden liegen, und zwar buchstäblich. Und es drängte mich, zu ihm hinter seinen Schreibtisch zu gehen. »Sam«, wagte ich mich vor. »Müssen wir hier so sitzen und das besprechen … als wären wir in einer Vorstandssitzung?« Meine Blicke wanderten zu seinem Sessel in der Ecke hinüber, der schmal war, nicht gerade ein Sofa – das, wie wir ja wussten, ins Revier seines Seniorpartners gehörte –, außerdem mit Papieren übersät, aber die könnte ich ja rasch beiseiteräumen. Mit einer Handbewegung, um genau zu sein.

»Ja, natürlich müssen wir das«, sagte er kurz angebunden, geradezu streng. »Hör mich erst an, Poppy.«

Ich nickte. Das war seltsam. Aufregend. Eigentlich wunderbar. Aber seltsam.

Er blickte auf seine Schreibtischunterlage, dann zu mir her, diesmal plötzlich in defensiver Haltung. »Hope hatte eine Affäre, nachdem wir erst ungefähr zehn Monate verheiratet waren. Ich habe es herausgefunden und war natürlich am Boden zerstört, aber ich redete mir ein, sie wäre ja noch so jung. Und es tat ihr so leid und sie versicherte mir, dass es nie wieder vorkommen würde, und so habe ich ihr verziehen. Dann, weniger als ein Jahr später, hatte sie wieder eine Affäre. Mit einem anderen. Er wohnte nebenan.«

»Mein Gott.« Trotz des Aufruhrs in meinem Inneren war ich fasziniert.

»Und da habe ich sie verlassen. Wusste, dass es aussichtslos war. Und dann hat sie sich mit Chad eingelassen.«

»Noch während ihr verheiratet wart?«

»Nein, nein, da waren wir schon geschieden. Das hätte Chad mir nicht angetan.«

»Wusste er von den anderen Männern?«

»Ja. Ich hatte mich ihm zu der Zeit anvertraut, schließlich war er mein bester Freund, ist mein bester Freund. Er wusste alles, schon weil ich mich oft genug an seiner Schulter ausgeweint hatte. Aber Männer ticken so, Poppy. Wir besitzen eine erstaunliche Arroganz, wenn es um Frauen geht. Wir glauben immer, dass wir derjenige sind, bei dem alles anders ist, für den sie sich ändern.«

»Nicht nur Männer.« Ich dachte an Phil. Wie ich selbst gehofft hatte, er würde sich ändern.

»Und Hope ist … faszinierend. Sehr schön, sehr charmant, sehr einnehmend. Wenn sie es auf dich abgesehen hat, wenn du in ihrem Bann stehst … Nun, ich bin noch einmal davongekommen. Chad hatte nicht so viel Glück.«

»Sie hat eine Affäre mit Luke, dem Hufschmied«, erklärte ich, als mir plötzlich alles klar wurde. »Ich hab die beiden zusammen gesehen in seinem Jeep auf dem Feld.«

»Ich hab die beiden auch gesehen. Das geht schon seit einer ganzen Weile so.«

Und darum mussten Angies Annäherungsversuche fehlschlagen, dachte ich mir jetzt: Luke hatte bereits eine Anlaufstelle, wo er hingehen konnte, wenn er alle Pferde des Dorfes beschlagen hatte. Und natürlich hatten er und Hope sich beim Buchclub kennengelernt. Ich konnte mich erinnern, dass Hope seine Erscheinung wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte.

»Weiß Chad Bescheid?«

»Ich bin sicher, dass er etwas ahnt. Aber ich habe es ihm nicht gesagt. Ich habe allerdings Hope gesagt, dass ich es tun werde, wenn sie sich nicht bessert.«

Meine Gedanken flogen zurück zum Fest – wie Hope errötend vor Sam gestanden hatte, den Blick auf den Boden gerichtet, um dann zu ihm hinaufzublinzeln, während sie zweifellos versichert hatte, sie werde sich bessern.

»Das wird sowieso nichts. Solche Menschen gibt es einfach, viele davon sind Männer, aber es gibt auch überraschend viele Frauen. Und es tut mir unglaublich leid für Chad. Ich habe es geschafft, da rauszukommen, aber ich glaube nicht, dass es Chad jemals gelingen wird. Und Hope kann nicht verwinden, dass ich mich von ihr gelöst habe. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, das wäre der Grund, warum sie hier leben, aber irgendwo bin ich der Überzeugung, dass Hope ihn nach England und in diese Gegend gelockt hat, weil sie wusste, dass ich irgendwann hierher zurückkehren würde. Sie hätte es gerne, wenn wir auf ewig eine Dreiecksbeziehung hätten, die uns alle langsam zugrunde richtet. Aber das Spiel spiele ich nicht mit. Ich kann ihr nicht ganz aus dem Weg gehen, weil ich meinen Freund so gern habe, aber ich verachte sie mittlerweile. Und dazu habe ich eine Weile gebraucht. Lange Zeit konnte ich nicht aufhören, sie zu lieben, und war verletzt.«

Ich schluckte und kam mir plötzlich sehr braunbemantelt vor und gänzlich unfaszinierend.

»Und warum erzählst du mir das alles?«

»Weil es das erste Mal ist, dass ich überhaupt wieder etwas empfinde. Als du zum ersten Mal hier reingeplatzt kamst, Poppy, mit deinem kleinen Sohn im Arm, da hat sich etwas in mir gerührt. Etwas in mir hat sich entspannt und gelockert und jedes Mal, wenn ich dich sehe, spüre ich dieselbe wachsende Freude, dasselbe überwältigende Glücksgefühl, und immer, wenn du gehst, frage ich mich, wann ich dich wohl wiedersehen werde. Dich, mit deinem süßen Lächeln und deiner leicht chaotischen Art, dich durchs Leben treiben zu lassen.«

Er schien es wirklich ernst zu meinen, und obwohl ich mehr als erstaunt war, stand ich doch kurz davor, mit einem einzigen Satz über den Schreibtisch zu springen. Der war doch sicher nicht mehr als einen guten Meter breit und ich hatte in der Schule Weitsprung gemacht. Aber ich riss mich zusammen.

»Und du hattest keine Ahnung davon?«, fragte er.

»Nicht die geringste!«

»Zu sehr mit diesem Orgelspieler beschäftigt«, bemerkte er bitter.

»Pete! Woher weißt du denn von dem?«

»Oh … ich weiß so ziemlich alles über dich, Poppy, das ist mein Problem. Mein Handicap.« Er massierte sich die Schläfen, wirkte beinahe verzweifelt.

Ich war baff vor Staunen. »Aber … du hast es mir in keiner Weise gezeigt oder angedeutet!«, sagte ich, nachdem ich endlich meine Stimme wiedergefunden hatte.

»Ich habe dir die Karten geschickt.«

»Welche Karten?«

»Für den Ball.«

»Das warst du?«

»Ja, ich hab sie in deinen Briefkasten gesteckt.«

»Aber … ich dachte, das wäre Mark gewesen! Warum hast du nichts gesagt?«

»Wie konnte ich etwas sagen? Kapierst du nicht, wie unmöglich das gewesen wäre?«

»Wie meinst du das?«

»Du bist meine Klientin, Poppy«, sagte er geduldig. »Es gibt bestimmte professionelle Verhaltensregeln. Und die schließen jede Annäherung aus. Ich weiß alles über dich.«

»Nun ja, in gewissen Grenzen.«

»Ich weiß, wie reich du bist.«

Das kam als kleiner Schock. »Ja«, sagte ich nach einer Weile. »Ja, das stimmt wohl. Aber «

»Und jeder weiß, dass mein Haus zerfällt und dringend eine kräftige Finanzspritze braucht. Nicht dass ich das jetzt noch unbedingt will«, sagte er barsch, ja beinahe abwehrend. »Vielleicht verkaufe ich es, damit ich nicht so gebunden bin, und gehe dann weg.« Er stand von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster, die Hände in den Taschen vergraben, mit dem Rücken zu mir. Mein Herz fing an zu rasen.

»Du willst weggehen?«, wiederholte ich.

»Für eine Weile. Ich könnte malen, jedenfalls etwas anderes machen. Nicht mehr der Großgrundbesitzer sein, der Jagdherr, nicht mehr den Fußstapfen meines Vaters folgen, ohne sie jemals ausfüllen zu können. Italien vielleicht. Ich habe gehört, das Licht dort soll wunderbar sein.«

»Ich wusste gar nicht, dass du malen kannst.«

Er wandte sich um. Lächelte. »Und ich wusste nicht, dass du singen kannst.« Ich errötete. »Ziemlich gut sogar. Weiß gar nicht, warum ich überhaupt eine Band engagiert habe.«

»Das ist eine familiäre Schwäche«, erklärte ich ihm und stand von meinem Stuhl auf. Nein, ich würde hier nicht so sitzen bleiben. Konnte nicht mehr stillhalten. »Wir singen, wenn wir zu tief ins Glas geschaut haben.«

»Darauf freue ich mich schon.«

»Also … gibt es etwas, auf das wir uns freuen können?« Vorsichtig ging ich durch den Raum, tastete mich vor. Er hielt die Augen fest auf mich gerichtet und bewegte sich ebenfalls, aber langsam; so als ob wir unmerklich von einem unsichtbaren Faden aufeinander zu gezogen wurden. Er hielt einen Augenblick inne.

»Du müsstest mich natürlich erst feuern.«

»Natürlich«, stimmte ich zu und blieb ebenfalls stehen.

»Und dann wäre da noch das Geld.«

»Ich will das Geld nicht.«

»Aber du hast es nun mal.«

»Ich könnte es weggeben.«

»Das könntest du, daran hatte ich auch schon gedacht.«

Hatte er das? »An irgendeinen wohltätigen Zweck«, schlug ich ins Blaue hinein vor. »Save the Children?«

»Nein, eher an deine eigenen Kinder. Du könntest es auf ein Treuhandkonto tun, bis sie älter sind.«

»Oh, ja! Super Idee. Und … Italien. Ich bin natürlich ein hoffnungsloser Fall, was Fremdsprachen anbetrifft, aber ich liebe die Sonne. Und Pasta und «

»Nein«, er lächelte, »es muss nicht Italien sein. Von mir aus auch Wigan, das ist mir ganz egal. Oder wir bleiben hier, wenn es dir hier so gut gefällt.«

Wir standen jetzt ganz nahe beieinander und ich spürte ein großes Verlangen nach ihm. Er streckte die Arme aus und nahm mich bei den Händen.

»Ich will hier nicht bleiben.« Und noch während ich das sagte, wusste ich, dass es wirklich so war. Wusste, dass ich fort wollte. Von dem Haus, das ich mit Phil gehabt hatte, von dem Dorf, von dem Klatsch, von allen, die alles über meine Angelegenheiten wussten. Nicht von meinen Freundinnen, die würde ich schmerzlich vermissen. Und Dad ebenfalls. Aber sie würden ja immer noch da sein, wenn ich mit Sam und den Kindern zu Besuch kam. Vielleicht mit noch mehr Kindern. Diese Gedankensprünge mochten meinen Verstand erschüttern, nicht jedoch mein Herz; das gar nicht verwundert war angesichts meines Wagemuts. Denn irgendwie wusste ich, nachdem ich es einmal so entsetzlich falsch gemacht hatte – nachdem wir beide es so falsch gemacht hatten –, dass wir es jetzt umso richtiger machen würden. Und ich wusste, dass Sam das ebenfalls wusste. Während er meine Hände losließ und die Arme ausbreitete und ich mich hineinwarf, sah ich das Leuchten in seinen Augen; fühlte die Freude in unser beider Herzen, als seine Lippen sich auf meine legten. Als wir uns schließlich, nachdem er mich wirklich ziemlich gründlich geküsst hatte, voneinander lösten, einander mit klopfenden Herzen und stockendem Atem in den Armen hielten und uns mit glänzenden Augen ansahen, flüsterte er: »Du hast noch etwas vergessen.«

»Nein, habe ich nicht.« Ich lächelte und fragte mich dabei, ob mein Gesicht Risse bekommen würde, so lange hatte ich schon nicht mehr gelächelt, so eingerostet kam mir meine Wangenmuskulatur vor. »Und ich werde so bald wie möglich etwas Aussagekräftigeres unterzeichnen. Aber in der Zwischenzeit«, ich verschränkte die Hände hinter seinem Hals und zog seine Lippen wieder auf meine, »dürfen Sie sich als gefeuert betrachten, Mr Hetherington.«