3

Die Beerdigung fand eine Woche später statt und war tatsächlich furchtbar. Viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt oder Jennie es vorhergesagt hatte, wenn auch aus anderen Gründen. Dass der Tag so strahlend war und der Himmel so blau, machte alles nur noch eindrücklicher, ließ den Anlass noch deutlicher hervortreten. Uralte Eiben warfen lange, dramatische Schatten über den Kirchhof und die Dorfbewohner, viele mit Kränzen in der Hand, erschienen als scharfe Silhouetten, wie sie einer nach dem anderen oder in stillen Grüppchen ihre Häuser verließen, um dem durchdringenden, unnachgiebigen Ruf der Glocken zu folgen. Drinnen erfüllte der trübsinnige Geruch von feuchtem Stein, Politur und Kerzenwachs die Luft. Unsere winzige Kirche war voll, genau wie Jennie es vorhergesagt hatte, die respektvolle Stille wurde nur durch gelegentliches gedämpftes Flüstern oder das Rascheln von Röcken unterbrochen, als die Leute sich in die Bänke setzten und mitfühlend zu mir in die erste Reihe blickten. Eine Woche war vergangen und ich fühlte mich vollkommen ausgelaugt und erschöpft. Ein kleiner Teil von mir war darüber erleichtert. Wie furchtbar wäre es gewesen, hier zu stehen, bei der Beerdigung meines Mannes, Der Herr ist mein Hirte zu singen und dabei keinen Kloß im Hals zu haben? Nicht bis zehn zählen und mir die Fingernägel in die Hand drücken zu müssen, damit ich nicht lauthals in Tränen ausbrach, während die Orgel traurige Melodien spielte, alle sich erhoben und der Sarg durchs Kirchenschiff getragen wurde?

Drei von Phils Radfahr-Kumpels waren die Sargträger – große, dünne und ausgemergelt wirkende Männer, genau das, was mein Dad als Spargeltarzan bezeichnen würde. Der vierte war mein Vater selbst, ein kleiner Mann mit mittlerweile gebeugtem Rücken, sodass der Sarg, wie ich zu meinem Schrecken feststellte, auf seiner Seite gefährlich kippte. Die Trauergemeinde hielt kollektiv den Atem an, während der Sarg sich besorgniserregend nach vorne geneigt durch die Kirche bewegte und Dads Knie unter jedem Schritt vor Anstrengung einzuknicken schienen. Die Radfahrer mussten mehr als einmal stehenbleiben, damit er nachfassen konnte, aber schließlich war der Altar erreicht. Als der Sarg abgesenkt wurde, schloss ich die Augen. Zugegeben, es gab ein kleines Gerumpel und ein ersticktes »Fuck« von Dad, aber das hatte wohl nur ich gehört. Als mein Vater sich aufrichtete, warf er einen Blick in die Runde und konnte sich nicht verkneifen, Augenkontakt mit mir aufzunehmen, als wollte er sagen, dass er seine Sache doch recht gut gemacht hatte, wenn man die Umstände bedachte.

Ich erwiderte seinen Blick mit einem kleinen Lächeln, während er die Brust vorstreckte und einen Augenblick respektvoll stehenblieb. Die anderen Sargträger hatten sich bereits verzogen. Das reicht jetzt, Dad, dachte ich nervös, während die Sekunden verstrichen. Mein Vater ist zwar klein, 1,70 auf Socken, aber er wirkt ungeheuer wichtig, wie das bei kleinen Männern ja oft der Fall ist. In seiner Jugend hatte er, wenn er nicht Pferderennen geritten oder zu diesem Zweck im ganzen Land umhergefahren war, viel Laientheater gespielt und etwas an seinem Gebaren wirkte, als ob er sich jederzeit einen Umhang über die Schultern werfen, Yoricks Schädel in die Höhe halten und seinen Text deklamieren könnte. Nachdem er seinen Auftritt zur Genüge ausgekostet hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und kam mit gesenktem Kopf herüber, um sich neben mich zu setzen, und man merkte deutlich, welches Vergnügen ihm diese spezielle Vorstellung bereitet hatte.

Nachdem wir dann das erste Lied gesungen hatten, setzte Mike, der Pfarrer, beherzt zum Nachruf an. Beherzt deswegen, weil er Phil nie kennengelernt hatte, sich also auf ziemlich unsicherem Gelände bewegte. Ich hatte beschlossen, die Sache ihm zu überlassen, obwohl er besorgt nachgefragt hatte: »Wirklich, Mrs Shilling? Sind Sie sicher, dass das niemand anderes machen kann?«

»Ganz sicher.«

Und jetzt erzählte er uns, was für ein toller Kerl Phil gewesen war, was für eine Stütze des Gemeinwesens, was für ein Verlust für die Dorfgemeinschaft sein Tod war. Das war natürlich alles Quatsch, weil Phil nie am Dorfleben teilgenommen hatte, ja diese Kirche nur ein einziges Mal von innen gesehen hatte, und zwar bei unserer Hochzeit. Doch dann sprach der Pfarrer darüber, was für ein wunderbarer Vater er gewesen war und welch ein Verlust sein Tod für seine Kinder sei, und da stiegen mir die Tränen in die Augen. Er war kein wunderbarer Vater gewesen, aber jeder Vater hinterlässt eine Lücke. Man hat nur einen und meine Kinder würden nie mehr mit ihm Weihnachten feiern oder Urlaub machen. Nicht dass sie unbedingt durch die Pyrenäen radeln wollten, während jemand sie die ganze Zeit anschrie, sie sollten sich beeilen … Aber er würde an ihren achtzehnten oder einundzwanzigsten Geburtstagen keine Rede halten. Soweit ich wusste, hatte Phil ohnehin nur eine einzige Rede in seinem Leben gehalten, und zwar als Trauzeuge eines Radfahr-Freundes, und die hatte sechsundvierzig Minuten gedauert und war so todlangweilig gewesen, dass alle irgendwann anfingen zu husten und rasch aufs Klo oder an die Bar zu huschen und irgendwann der Brautvater, ein schlichter, bodenständiger Mann, aufgestanden war und in bestimmtem Ton gesagt hatte: »Lass gut sein, mein Junge.« Ich hätte es selbst nicht besser sagen können.

Ich seufzte. Dennoch. Meine armen Kleinen. Clemmie vor allem. Archie war mit seinen zwanzig Monaten noch zu klein, es zu begreifen, aber Clemmie hatte mir ganz vernünftig zugehört, als ich ihr die schlimme Nachricht am folgenden Morgen erzählt hatte. Ich hatte mich mit ihr hingesetzt, bevor sie in den Kindergarten ging, und ihr vorsichtig erklärt, was genau geschehen war. Sie hatte die braunen Augen riesengroß aufgerissen in ihrem blassen kleinen Gesicht, da sie vor allem am Ton meiner Stimme, gar nicht so sehr an dem, was ich sagte, merkte, dass etwas Schlimmes geschehen war.

»Und atmet er noch?«

»Nein, mein Schatz. Er ist tot.«

»So wie Pervers?«

»Ja, genau wie Pervers.«

Das war ein Schafbock auf der Weide hinter unserem Haus, der letzten Monat plötzlich steif und kalt dagelegen hatte und der so hieß, weil er vor dem Frühstück erst einmal jedes einzelne Schaf auf der Weide zu besteigen pflegte, woran Phil Anstoß genommen hatte, während er sein Müsli löffelte.

»Das ist pervers!«, hatte er dann immer ausgerufen und so dachte Clemmie, das wäre der Name des Tiers.

»Wo ist Daddy jetzt?«

»Er ist … also « Ich zögerte. In der Leichenhalle klang so furchtbar. »Im Beerdigungsinstitut. Das ist ein Ort, wo tote Leute hinkommen, bevor sie beerdigt werden.«

»Nicht in den Himmel?«

»Ach so, ja, natürlich. Ja, seine Seele kommt in den Himmel. Das ist ziemlich kompliziert, mein Schatz, aber der Punkt ist, dass du ihn nicht wiedersehen wirst. Verstehst du das?«

Sie nickte. »Kommt Pervers auch in den Himmel?«

»Ja, bestimmt.«

»Auch wenn er so viele Freundinnen hatte?«

»Ja, ich wüsste nicht, was dagegen spricht.«

Sie aß den Rest ihres Müslis schweigend und stand dann vom Tisch auf – ganz ohne Tränen, was mich beunruhigte. Aber schließlich war sie ja erst vier; vermutlich hatte sie das Gesagte gar nicht begriffen. Und es war ja auch so, dass Phil unter der Woche nie nach Hause kam, solange die Kinder noch wach waren, und an den Wochenenden fuhr er den ganzen Tag Fahrrad, also hatte sie ihn bestimmt weniger oft gesehen als den Schafbock auf der Weide hinter unserem Haus, wo meine Kinder fast jeden Tag spielten, auf Bäume kletterten und in Pfützen herumplantschten.

Aber als ich sie aus dem Kindergarten abholte, kam Miss Hawkins zu mir hergeeilt, nachdem sie mich entdeckt hatte.

»Kann ich Sie kurz sprechen, Mrs Shilling?«

»Natürlich.«

»Mein Beileid.«

»Danke.«

»Ich dachte nur, Sie sollten wissen, dass Clemmie sagt, ihr Daddy wäre von einem Flugzeug erschlagen worden.«

»Stimmt ja irgendwie auch.«

»Und dass er tot und im Himmel ist.«

»Ja.«

»Und dass alle in den Himmel kommen, selbst wenn sie jede Menge Freundinnen hatten und pervers sind.«

Ich blinzelte.

»Aha. Danke … Miss Hawkins.«

Sie eilte davon, bevor ich die Sache klarstellen konnte. Ich seufzte. Nun, sei’s drum, dachte ich, während ich ihrer sich entfernenden Rückenansicht hinterherschaute. Sollte ihn doch das ganze Dorf für einen Schürzenjäger halten. Nichts konnte weiter weg von der Wahrheit sein als das. Wenn es dabei nicht gerade um Zeugung ging, war Sex für ihn eher eine lästige Pflicht gewesen. Etwas, was ein Workaholic mal eben abhakt, ehe er sich wieder an seinen Blackberry hängte. Seit Archies Geburt war mit Sex nicht viel gewesen, wofür ich, wie Jennie mir düster anvertraute, meinem Schicksal dankbar sein sollte. Dan hatte nicht mal bis zur Nachuntersuchung sechs Wochen nach Jamies Geburt warten können, und als sie dann wie zum TÜV aufgebockt dalag, hatte sie dem netten jungen Arzt, der ihr züchtig erklärte, sie dürfte sich jetzt wieder ihrem Mann hingeben, nicht sagen mögen, dass der sich schon seit Wochen bediente.

Aber nein, Phil war nicht gerade ein Held im Schlafzimmer gewesen, die Vorstellung, er könnte sich anderweitig vergnügt haben, schien fast so weit hergeholt wie sein ehrenamtliches Engagement als »Stütze der Kirche«, womit der Pfarrer nun glücklicherweise zum Ende kam, da sein Material ja ziemlich dünn war. Er räusperte sich und forderte uns auf, uns zu erheben und das letzte Lied zu singen, Nummer einhundertzweiundsiebzig: Jerusalem. Dankbar standen alle auf.

Ich hatte mich schon immer gefragt, ob die Füße unseres Herrn, wie es in diesem Lied heißt, wirklich in alter Zeit einmal über Englands grünende Hügel gegangen sein könnten, und war zu dem Schluss gelangt, dass es einfach nicht sein konnte. Ich grübelte immer noch über diese Frage nach, als wir wenige Augenblicke später aus der Kirche traten. Blake, der Dichter des Liedes, hatte das sicher nur im übertragenen Sinne gemeint und keinesfalls buchstäblich, und doch wurde es Hunderte von Jahren später im ganzen Land mit patriotischem Elan als Gemeindelied gedröhnt. Ob Blake sich wohl darüber amüsiert hätte, dass sein Text mit solcher Inbrunst gesungen wurde, überlegte ich und hatte schon fast das Tor zur Straße erreicht, wo ich die Augen zusammenkniff gegen die tief stehende Sonne, die derart blendete, dass man fast nichts sehen konnte.

»Mrs Shilling!«

Eine Stimme schnitt durch meine Gedanken. Geistesabwesend drehte ich mich am Tor um.

»Mrs Shilling?« Die Stimme hatte einen ungläubigen Unterton.

Oben am anderen Ende des Weges, auf dem grasbewachsenen, sanft hügeligen Gelände links von der Kirche, das auch Friedhof genannt wurde, wartete mit weit aufgerissenen Augen der Pfarrer mit geöffnetem Gesangbuch und wehendem Talar, umgeben vom Rest der Trauergemeinde. Sie schienen alle um ein großes, klaffendes Loch im Boden herumzustehen, das … Mist! Ich hatte vergessen, meinen Ehemann zu beerdigen.

Der Schock natürlich, trösteten mich Jennie und Angie rasch, als ich an ihre Seite geeilt kam. Ich nickte stumpf. Entsetzt und mit schwitzigen Händen beugte ich den Kopf, in dem tatsächlich ein großes Durcheinander herrschte, sodass ich, als mir etwas Erde gereicht wurde, die ich auf den Sarg werfen sollte, dies vor lauter Nervosität auch sofort tat und Angie, ganz in schwarzen Nerz gehüllt, meinen Arm berühren und flüstern musste: »Ruhig, Brauner. Warte, bis der Pfarrer zu der Erde-zu-Erde-Stelle kommt. Wir wollen die Sache doch nicht zu sehr überstürzen, hm?« Sie reichte mir noch etwas Erde in ihrer in feinstes Wildleder gehüllten Hand.

Eine halbe Ewigkeit später – es war schrecklich, zu sehen, wie er da in dieser furchtbaren Kiste in der Erde lag, so endgültig – stand ich dann wieder am Friedhofstor, diesmal mit dem Pfarrer. Ich wusste doch, dass es Teil des Plans gewesen war, ich war nur etwas vorschnell dort hingeeilt. Einer nach dem anderen defilierten die Dorfbewohner an mir vorbei, um mir ihr Beileid auszusprechen, meine Hand zu drücken und tröstende Worte zu nuscheln. Yvonne, die Besitzerin des Dorfladens – der Phil, bloß weil sie ihn gebeten hatte, sein Fahrrad nicht gegen ihr Schaufenster zu lehnen, mitten ins Gesicht gesagt hatte, sie wäre eine Wichtigtuerin, die meinte sich überall einmischen zu müssen –, sagte, wie sehr sie sein strahlendes Lächeln vermissen werde. Sylvia Jardine, die in dem stattlichen alten Pfarrhaus wohnte und sich deswegen schon fast für ein Mitglied des Landadels hielt, sagte mit lauter, durchdringender Stimme, dass Phil immer so schön die Glocken zum Gottesdienst geläutet hätte, was ein Missverständnis aufgrund des aktuellen Gemeindebriefes war, in dem sich jemand darüber beklagt hatte, dass Phil um sechs Uhr früh seine Fahrradglocke betätigt hatte, während er ungeduldig darauf wartete, bis Bob Groves seine Kühe durchs Dorf getrieben hatte. Dan, Jennies Mann, nahm mich in den Arm und flüsterte: »Das machst du super, Mädel«, was mir die Tränen in die Augen trieb. Und Frankie, in schwarzem Minikleid und mit passendem Nagellack, die mit ihren sechzehn Jahren noch nie auf einer Beerdigung gewesen und aus Neugier gekommen war – später einmal vertraute sie mir an, dass es ihrer Meinung nach nicht annähernd genug Tränen oder schwarze Schleier gegeben hätte –, drückte mir fest die Hand und sagte, das Ganze würde mich bestimmt »megaanpissen«.

Glücklicherweise galten viele der Beileidsbekundungen den Kindern, die mir zu jung für die ganze Zeremonie erschienen waren und die ich bei Peggy von gegenüber gelassen hatte. Peggy, die kurz mit den Kindern vorbeigekommen und ganz hinten in eine Bank geschlüpft war, hatte mir zuvor, während sie an der vierten Zigarette des Vormittags zog, mit heiserer Stimme erklärt, dass sie nicht viel mit Beerdigungen am Hut habe, und überhaupt habe sie ihn nie gemocht. Ich lächelte in mich hinein. Wenigstens eine Stimme der Wahrheit ertönte in unserem Tal. Ich hatte Peggy wirklich gern.

Sie konnte nicht unbedingt als Vorbild für mich dienen – sie war verwitwet und kinderlos und eine exzentrische Erscheinung in ihren langen, fließenden Mänteln und perlenbestickten Schals, auf die sie ständig Zigarettenasche fallen ließ – das einzige Mal, als ich Peggy kochen gesehen hatte, hatte ich fasziniert beobachtet, wie zwei Zentimeter Asche von ihrer Zigarette direkt in die Bolognese gefallen waren, und sie hatte seelenruhig umgerührt und etwas von Ballaststoffen gemurmelt. Peggy verfügte über eine gewisse objektive Weisheit – objektiv vielleicht deswegen, weil sie keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Rest der Welt hatte, wodurch sie unparteiisch sein konnte – und eine grandiose Abneigung gegen allen Klimbim. Wer Lust hatte, mit ihr im Hinterzimmer des Rose & Crown zu sitzen und Backgammon zu spielen, größere Mengen von Wodka zu vernichten und ihrer leisen, vornehmen Stimme und ihrem heiseren Lachen zu lauschen, der konnte viel lernen. Ich mochte ihre erfrischende Herangehensweise an das Leben. Das Gedicht When I am an old woman I shall wear purple könnte für Peggy geschrieben worden sein, obwohl ich vermutete, dass sie schon immer Lila getragen hatte.

Während wir alle von der Kirche weg und über den Dorfanger marschierten, um bei mir zu Hause Kaffee zu trinken und Sandwiches zu essen, reihte sich mein Vater neben mir ein und hakte sich unter.

»Gut gemacht, mein Mädchen.«

»Danke, Dad.«

Taktvoll beließ er es dabei. Auch wenn ich anfangs nicht gleich zu ihm gelaufen war, um mich über Phil zu beklagen, hatte ich doch ein enges Verhältnis zu meinem Dad und er hatte in der letzten Zeit durchaus mitbekommen, dass es zwischen meinem Mann und mir Probleme gab.

»Und mir tut es leid, dass du das Rennen von Tick-a-Tape verpasst hast.«

Das war das Pferd meines Vaters, vielmehr besaß er in einer Eigentümergemeinschaft gewissermaßen ein Bein dieses Pferdes, von dem er bislang nicht ein einziges Rennen versäumt hatte, und heute lief Tick-a-Tape das Rennen seines Lebens, ein Hindernisrennen in Kempton.

»Sei nicht albern, das ist doch nur ein Rennen. Da werden noch mehr kommen. Himmel noch mal, schließlich war er mein Schwiegersohn.«

Abstinenzler, von erbittertem Ehrgeiz getrieben und allergisch gegen Pferde: Alles, was Dad nicht war. Schweigend gingen wir weiter.

»Hast du genügend Bier besorgt, Liebes?« Inzwischen folgten wir der Prozession den Weg hinauf und ins Haus.

»Also, ich dachte eigentlich an Kaffee und vielleicht ein paar Flaschen Sherry.«

Dad hielt entgeistert inne. »Okay. Mach dir keine Gedanken. Ich fahr schnell rüber zum Getränkemarkt und hol noch ein bisschen was. Nur sicherheitshalber. Bin gleich zurück.«

Er machte kehrt und eilte über die Straße zu seinem dreckverkrusteten Pick-up, um nach Leighton Buzzard zu fahren, und ganz sicher würde er gleich zurück sein, da er mit Lichtgeschwindigkeit Auto fuhr. Das war eines der Dinge, an denen meine Mutter schier verzweifelt war.

Mum. Was sie jetzt wohl denken würde, überlegte ich, während ich kurz gen Himmel blickte, bevor ich die Schwelle überschritt. Was würde sie über diese ihre Restfamilie denken – ihren verwitweten Ehemann, ihre einzige Tochter, die jetzt selbst Witwe war? Mum hatte Phil nie kennengelernt, da ihr eigenes Auto, das sie so überlegt und vorsichtig fuhr, wie sie ihr ganzes Leben lebte, in einen Massenunfall auf der M4 verwickelt gewesen war, lange bevor er die Bühne betreten hatte. Dieser schreckliche zweite Weihnachtsfeiertag, als ich elf war und sie sich verpflichtet gefühlt hatte, Tante Pam zu besuchen, die ganz alleine war, und dann zurückzukommen und uns kalten Truthahn und Rote Bete zum Abendessen zu servieren; wie immer hatte sie zu viel in einen einzigen Tag gepackt und sich beinahe zerrissen.

Die Kontrolllampe in Dads Leben und in meinem war für lange Zeit fast erloschen gewesen, aber nach und nach hatten wir gemeinsam und mit zitternden Händen die Sicherung wieder eingeschraubt. Meinen Dad würde sie wohl noch erkennen, dachte ich, während ich mich umdrehte, um ihm hinterherzusehen, wie er in seiner nur allzu vertrauten Art davonraste und mit einer Hand das Autoradio auf den Sender mit dem Pferderennen einstellte, aber würde sie mich wiedererkennen? Ihre bislang so willensstarke Tochter, die sich dann jahrelang mit einer schlechten Ehe abgefunden hatte? Sicher hätte sie anderes von mir erwartet. Aber schließlich kannte sie ja die Nachwirkungen ihres eigenen Todes nicht; wusste nicht, dass ich ein ganz anderer Mensch geworden war, dass ich eine sehr ängstliche Seite hatte und keinesfalls diejenige hatte sein wollen, die ohne Mutter und Ehemann auskommen musste, die als Letzte zurückblieb. Oder vielleicht wusste sie das auch. Vielleicht war ich schon die ganze Zeit so gewesen und sie würde mich sowieso wiedererkennen.

Mein winziges Wohnzimmer war überfüllt mit Leuten, von denen ich mir sicher war, einige noch nie zuvor gesehen zu haben. In Gedanken noch immer bei meiner Mutter, begrüßte ich sie herzlich, so wie sie es getan hätte, bevor ich in die Küche ging, wo vertrautere Menschen damit beschäftigt waren, Sandwiches von Frischhaltefolie zu befreien oder Tee zu kochen. Jennie und Angie drehten sich zu mir um, als ich hereinkam, und lächelten mir zaghaft zu.

Vielleicht hatte sie ihn schon kennengelernt, dachte ich erschrocken, während ich zum Kühlschrank ging. Im Licht der offenstehenden Tür verharrte ich, mein Herz klopfte. War meine Mutter vielleicht gerade eben dabei, dort oben auf irgendeiner Wolke Phil die Hand zu schütteln? Hitze stieg mir den Hals hinauf. Ich konnte ihr liebenswertes, großzügiges Lächeln sehen und wie sie sich bemühte, freundlich und nett zu ihm zu sein, aber im Stillen vielleicht dachte: Himmel, wer ist das denn? Was ist denn bloß mit Ben geschehen?

»Alles okay mit dir, Poppy?« Jennie stand direkt neben mir und musterte mein Gesicht. Ich hatte anscheinend die Milchflasche fallen gelassen. Sie überschwemmte den Terrakottaboden mit einem großen weißen See. Jemand anderes, Angie, hockte in einem eleganten Etuikleid und High Heels auf dem Boden und wischte alles rasch auf. Ich sah, wie sie sich einen besorgten Blick zuwarfen.

»Tut mir leid.«

Peggy brachte meine Kinder. Kreischend rannten sie herum und turnten zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, völlig überdreht, weil so viele Leute in unserem Haus waren. Peggy kam hereingesegelt und positionierte sich auf einem Hocker neben dem Herd, ihrem üblichen Platz. Man konnte noch immer erkennen, dass sie einmal schön gewesen war, sie war bei den gesträhnten blonden Haaren geblieben und hatte sich die überschlanke Figur bewahrt. Heute trug sie Leggins, Stiefeletten, einen langen, schwarzen Rollkragenpullover und jede Menge Hippie-Schmuck. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und beobachtete mich genau, wobei ein kleines Lächeln von ominöser Respektlosigkeit um ihren Mund spielte.

»Alle mal wieder ganz geschäftig, wie ich sehe«, bemerkte sie mit einem Unterton, als könnte sie sich das Lachen nur mit Mühe verkneifen.

»Ist doch nett von ihnen«, ich ignorierte den Unterton. So sehr ich Peggy auch bewunderte, war ich mir nicht so sicher, ob dies der rechte Augenblick für ihre erfrischenden Lebensansichten war.

»Bei so einem Trauerfall benehmen sich die Leute, als könntest du weder sehen noch hören«, erklärte Peggy mir. »Es ist, als hättest du selbst einen Unfall gehabt.«

Ich ging zum Kühlschrank, um neue Milch zu holen. Ich füllte sie in einen Krug, aber Jennie blickte skeptisch drein. »Ich hab dran gerochen«, sagte ich zu ihr. »Die ist okay, da hat sich nur die Sahne ein bisschen abgesetzt.«

»Es gefällt ihnen, dass sie was zu tun haben«, murmelte Peggy. »Dann haben sie das Gefühl, dass sie gebraucht werden, und es lenkt sie von dir ab.«

Jennie holte eine frische Milchflasche aus dem Kühlschrank, goss die erste geschäftig weg und füllte dann den Krug erneut.

»Und überhaupt«, schloss Peggy, »wissen sie einfach nicht, was sie zu dir sagen sollen.«

»Das weiß auf Beerdigungen keiner«, bemerkte Jennie.

»Besonders auf einer wie dieser«, ergänzte Peggy düster.

Ich war froh, als Angies Töchter hereinplatzten. Die Mädchen sahen ein wenig zerzaust und einfach hinreißend aus mit ihren langen Haaren und superkurzen Röcken.

»Hi, Poppy. Oh Gott, das mit Phil tut mir ja so leid.« Clarissa schlang die Arme um mich.

»Und es tut mir leid, dass wir nicht zur Beerdigung kommen konnten, der Zug hat buchstäblich Stunden gebraucht.« Felicity umarmte mich ebenfalls.

Die beiden waren liebe, nette Mädchen mit weichem Haar und wunderbaren Manieren, die dank Vollzeitmutter und teurem Internat genau wussten, was sie sagen sollten, wie sie sich zu verhalten hatten. Ich erwiderte ihre Umarmung und wünschte mir dasselbe für Clemmie eines Tages, hoffte, dass ich es ihr vermitteln konnte.

»Offenbar hat er es nicht geschafft, sie früher hierher zu kriegen«, sagte Angie säuerlich, als sie mit der leeren Würstchenplatte zurückkam. Sie knallte den Teller auf die Arbeitsplatte und umarmte ihre Töchter. »Oh nein, es ist wirklich zu viel verlangt, mal rechtzeitig aufzustehen und sie zum Bahnhof zu bringen. Zu viel Aufwand.«

Ihre Töchter blickten betreten drein, selbst ihre perfekten Manieren reichten nicht für eine Antwort auf diese Bemerkung, die gegen ihren Vater, Angies Ex-Mann Tom, gerichtet war. Tom war ein wahnsinnig netter, witziger Charmeur, der vor einem Jahr den Reizen von Angies Stallmädchen erlegen war. Ja, die beiden waren mittlerweile in einem netten kleinen Häuschen in Dorset installiert, wo Angies Töchter offenbar gerade herkamen. Schweigend verdrückten sie sich.

Durch Toms plötzlichen Abgang war diese perfekte, beneidenswerte Familie auseinandergebrochen und Angie war nicht mehr die schöne, ein wenig verwöhnte Gattin, die in Knightsbridge zum Shopping ging, im Sommer Tennis auf ihrem eigenen Tennisplatz spielte und im Winter mit ihren Pferden zur Jagd ritt, sondern eine der vielen verlassenen Ehefrauen, die nicht mit so etwas gerechnet hatten. Bis dahin hatte sie immer jemanden gehabt, der sich um ihren Haushalt, den Garten und die Pferde kümmerte – und, wie sich herausstellte, eben auch um ihren Mann –, aber auch wenn der eine oder andere sie für verwöhnt gehalten hatte, so etwas hätte ihr wirklich keiner gewünscht. Der Schock hatte sie über Nacht altern lassen und man hatte ihr die einundvierzig Jahre wirklich angesehen. Aber Angie war eine Kämpferin und in letzter Zeit war sie besser angezogen denn je, noch sorgfältiger zurechtgemacht – selbst wenn sie nur schnell im Dorfladen Brot holen wollte –, allerdings musste man sich nicht allzu große Mühe geben, um den Schmerz zu sehen, der über diesen klaren blauen Augen lag, oder die Anspannung um die vollen, glänzenden Lippen. Ihre Töchter wirkten so selbstsicher und charmant wie immer, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Erschütterungen ihnen nicht auch zugesetzt hatten, und Angie bestätigte mir traurig, dass es so war: Sie weinten öfter, wenn sie sonntagabends aus der Schule anriefen, und hingen viel mehr an ihr. Und diese Erschütterungen würden auch Clemmie und Archie bald erreichen, dachte ich voller Panik, wenn sie die Abwesenheit ihres eigenen Vaters zu spüren begannen.

»Du hast doch nichts dagegen, dass sie gekommen sind, oder?«, fragte Angie mich besorgt.

Ich starrte sie verständnislos an.

»Ich hab sie doch nur den einen Tag, weil Tom sich mal wieder wichtiggemacht und gesagt hat, dass er sie sehen will. Sie müssen schon nach dem Mittagessen wieder in die Schule zurück.«

»Natürlich nicht«, beschwichtigte ich sie, »ich freue mich, dass ihr da seid. Und meine Kinder werden begeistert sein.«

Ich sah, wie die kleine Clemmie strahlte, als sie die beiden bemerkte. Sie hängte sich sofort an Clarissas Beine. Angies Stieftochter Frankie hingegen kaute auf ihrem Daumennagel herum und wirkte eher zurückhaltend. Ich wandte mich um und zwang mich weiterzumachen.

»So, und was muss jetzt als Nächstes nach drüben?«

»Nichts«, knurrte Peggy. »Es läuft wie am Schnürchen. Alle sind beschäftigt.«

»Ja, mit Ausnahme von dir, also könntest du das hier bitte mal nach drüben bringen?« Angie drückte ihr einen Teller mit Würstchen in die Hand. »Nervt sie dich?«, fragte sie, als Peggy von ihrem Hocker gerutscht und mit einem schiefen Grinsen außer Hörweite verschwunden war.

Ich zuckte mit den Schultern. »Du kennst doch Peggy.«

»Allerdings. Null Sozialkompetenz. Als Tom weg war, hat sie gesagt, ich hätte ihm Tatiana auf dem Silbertablett serviert«, meinte sie grimmig.

Ich sagte nichts mehr, weil genau das natürlich wir alle gedacht hatten. Als Angie dieses lächelnde, blonde, vollbusige Mädchen aus Auckland angeheuert hatte, um ihren Pferdestall auszumisten und in dem Häuschen daneben zu wohnen, hatten wir uns alle gefragt, auf welchem Planeten sie eigentlich lebte, und hatten dann entgeistert zugesehen, wie Angie in aller Seelenruhe montags zum Yoga und donnerstags zum Bridge gegangen war, während sich die Vorhänge in Tatianas Schlafzimmer schlossen, fast noch bevor Angies Wagen die Auffahrt verlassen hatte. Peggy hatte übrigens nichts davon mitbekommen, denn sonst hätte sie es Angie sofort erzählt, und bis Jennie und ich über zahllosen Tassen Kaffee das Thema hin und her diskutiert und uns gerade durchgerungen hatten, ihr davon zu berichten – da war es schon zu spät. Angie blieb in ihrem wunderschönen barocken Herrenhaus am Rande des Dorfes sitzen, mitsamt Glockenturm und Tennisplatz und Giebeln, während Tom sich von nun an mit seiner willigen Neuseeländerin in einem Dorf mit dem entsetzlich sexy klingenden Namen Tussle-under-Winkwood vergnügte. Zu unser aller Genugtuung wurde ihr aber, nachdem das Paar den weiten Weg nach Neuseeland gereist war, um ihren Eltern die gute Nachricht zu überbringen, bei der Rückkehr die Einreise verweigert. Aber natürlich fand sie einen Weg, sich wieder hereinzuschleichen, genau wie in Angies Haus und in das Herz ihres Mannes.

»Weißt du, was Peggy zu mir gesagt hat, als sie das von Phil gehört hatte?« Angie hielt inne und drehte sich um, um ihr Hinterteil am Herd zu wärmen.

»Ich wette, du wünschst, es wäre Tom?«, riet Jennie.

»Genau.«

»Und, hat sie recht?«, fragte ich und überlegte, wo ich wohl das Tortenmesser hingelegt hatte, falls ich je eines besessen hatte. Sie schüttelte die flammend rotgoldenen Haare zurück. »Dann wäre alles viel einfacher«, seufzte sie. »Keine Stiefmutter, die kaum älter ist als meine Töchter, kein Hin und Her zwischen zwei Elternhäusern. Ich beneide dich zutiefst. Und sieh nur, wie viel Mitgefühl du von allen Seiten bekommst.« Sie machte eine wedelnde Handbewegung in Richtung der Versammlung im Nachbarzimmer, der Blumen und der Karten. »Alle denken: Ja klar, das hat sie sich doch selbst eingebrockt.«

»Das ist nicht wahr«, murmelte Jennie, obwohl sie genau wusste, dass es stimmte.

»Und, mal ganz ehrlich: Wenn ich meinen Mann nicht selbst haben kann«, fuhr Angie fort, »dann sehe ich ganz gewiss nicht ein, warum eine andere ihn haben sollte.«

»Ich fände es gar nicht so schlecht«, warf Jennie leichthin ein, »wenn Dan woanders wohnen und mich nur an den Wochenenden besuchen würde. Jemand anderes könnte seine dreckigen Unterhosen waschen, die Versicherungsmeldungen und die Rechnungen sortieren.«

»Das glaubt dir doch sowieso keiner, Jennie«, sagte ich.

»Ihr traut mir das nicht zu«, erwiderte sie und ihre dunklen Augen blitzten auf. »Glaubt ja nicht, dass ich nicht eines Morgens – zum Beispiel wenn wieder so eine Troy-Geschichte passiert – aufwache und sage: ›Genug!‹«

Damit bezog sie sich auf letzte Weihnachten, als Dan auf dem Heimweg von einem ausgedehnten feuchtfröhlichen Mittagessen sein Auto an eine Leitplanke auf der A41 gesetzt hatte. Da ihm bereits schwante, dass er zu betrunken war, um den Abschleppdienst anzurufen, hatte er sein Gefährt auf dem Randstreifen stehengelassen und war einfach zu Fuß weitergegangen. Doch der nächste Streifenwagen – ein Hundeführer, wie es der Zufall wollte, mitsamt seinem Schäferhund Troy – fand Dans verlassenes Fahrzeug. Innerhalb kürzester Zeit waren sie ausgestiegen und verfolgten Dan querfeldein. Dan, der wusste, dass sein Haus buchstäblich hinter dem nächsten Hügel lag, nahm den Spazierweg Richtung Dorf, wo sich zufälligerweise gerade an diesem Abend im Mondschein das gesamte Dorf am Weihnachtsbaum auf dem Dorfanger versammelt hatte, um Weihnachtslieder zu singen. Und plötzlich tauchte Dan im schwankenden Licht der Taschenlampe seines Verfolgers auf, wie er im Nadelstreifenanzug und mit wehender Aktentasche und einem Schäferhund auf den Fersen Hals über Kopf den Hügel hinunter auf uns zugerannt kam. Als der Hundeführer rief: »Fass, Troy!«, tat Troy wie geheißen, und vor den Augen seiner Kinder, die mit großen Augen vom Dorfanger her zusahen, wurde Dan am Hosenbein umgerissen und festgehalten bis ein Polizeiwagen zur Verstärkung auftauchte, in dessen Laderaum er dann ohne viel Federlesens verfrachtet wurde.

»Glaubt ja nicht, ich würde ihn nicht verlassen, wenn sich so ein Schauspiel jemals wieder vor den Augen der Kinder ereignet«, bebte Jennie. »Jeder Mensch hat seine Grenzen.«

Wir standen jetzt alle drei an den Herd gelehnt da – ein durchaus vertrauter Anblick in dieser Küche –, obwohl wir hier jetzt eigentlich gar nicht hingehörten, ich am allerwenigsten.

»Ich hab meine Pflicht getan«, verkündete Peggy, die zu uns in die Küche zurückkam. Sie stellte den leeren Teller ab, nahm ihren Platz auf dem Hocker wieder ein und zündete sich eine Zigarette an.

»Mit wem redet er da?«, fragte Jennie nach einer Weile und reckte den Hals. Wir sahen Dan, der sich abmühte, eine harte Nuss zu knacken.

»Phils Schwester«, erklärte ich. »Wenn ich euch sage, dass sie seit 2006 nicht mehr gelacht hat, dann wisst ihr, was er sich da vorgenommen hat.«

Die säuerliche Cecilia, einen verwirrten Ausdruck auf ihrem reizlosen, ungeschminkten Gesicht, war die Adressatin von Dans Charme-Offensive, einer einstudierten Abfolge von witzigen Anekdoten, wie er sie üblicherweise auf hübsche Sekretärinnen losließ, die sich dann immer kichernd in die Ecke warfen.

»Ich glaube, ich muss ihr mal zu Hilfe kommen«, seufzte Jennie und stellte ihr Glas ab.

»Nicht«, sagte Peggy und hielt sie am Arm fest. » Das wird ihr guttun. Sie ist eine Nervensäge, hab mich vorhin zwei Minuten mit ihr unterhalten. Und dein Dan gibt sich doch so viel Mühe.«

»Und das da ist dann vermutlich die Mutter«, murmelte Angie, als eine ältere, aber attraktivere Version von Cecilia ins Blickfeld geriet.

»Gebt mir Deckung!«, flüsterte ich und versteckte mich hinter Peggy. »Ich habe meine Pflicht getan. Stundenlang am Telefon letzte Woche und ein ganzer Tag in Kent mit den beiden. Mehr ist nicht drin.«

»Recht hast du«, pflichtete Peggy mir bei. »Aber dein Dad gehört nicht zu denen, die sich von so einem Schrumpelmund abschrecken lassen, was?«

Wir sahen zu, wie mein Dad, der nach seiner Rückkehr von der Einkaufstour in seiner jovialen Art Gin Tonics ausgeschenkt hatte, sich nun mit der Feststellung zu Marjorie gesellte, sie seien sich schon mal irgendwo begegnet, was natürlich stimmte: bei unserer Hochzeit.

»Margaret, nicht wahr?«, dröhnte er. Für einen kleinen Mann hatte mein Dad eine sehr laute Stimme.

»Marjorie«, sagte sie sichtlich irritiert.

»Genau. Waren Sie nicht vor einiger Zeit beim Gold Cup? In derselben Box wie die McLeans?«

»Nein, war ich nicht«, sagte sie pikiert.

Er überlegte. »Haben wir nicht bei den Fosbury-Westons einmal zusammen getanzt?«

Jetzt war ihr Mund fast ganz verschwunden. »Haben wir nicht. Ich bin Philips Mutter.«

Es war ein herrlicher Anblick, wie die Erinnerung auf Dad einstürzte. Der Hochzeitsempfang im Country Club hier um die Ecke, wo er sie herzlich von der obersten Stufe dieses herrschaftlichen Hauses herab begrüßt hatte, als sie in Unmengen von lila Seide gepresst und mit einem Fascinator auf dem Kopf angerauscht kam. Ein Fascinator ist ein komischer kleiner Hut und auf diesem hier thronte ein Pfau, aber als er sie ungestüm an sich drückte, hatte sich die Federkrone des Pfaus irgendwie in seinem von der Floristin mit einem Tüll-Sträußchen geschmückten Knopfloch verfangen, sodass ihr Kopf an seiner Brust festsaß. Es folgte ein erbitterter Kampf. Marjorie schweigend, während Dad brüllend vor Lachen eine Stufe hinunterstieg – was nicht hilfreich war, sondern Marjorie in die Knie zwang. »Sie kann gar nicht genug von mir kriegen!«, hatte er gejohlt.

»Mein Fascinator!«, hatte Marjorie gejapst und an ihrem Hut gezerrt, der an ihrem Kopf festgenagelt schien.

»Oh, vielen Dank«, hatte Dad gescherzt und mit den Augenbrauen gewackelt.

Schließlich war Cecilia mit einer Nagelschere herbeigeeilt, um die beiden zu trennen, und Marjorie war keuchend zurückgewichen, wobei sie die Hände seitlich zu Fäusten geballt hielt.

Nachdem ihre Identität nun geklärt war, blickte Dad hilfesuchend zu Dan, aber Dan mühte sich schon seit gut zehn Minuten mit diesen beiden ab und hatte hilflos zugesehen, wie mein Vater ihnen ins Netz gegangen war.

»Nette … Party, nicht wahr?«, sagte Dad vor lauter Verzweiflung.

»Ja, wirklich«, pflichtete Dan ihm bei.

Marjorie und Cecilia machten entsetzte Gesichter.

»Ich meine … den Umständen entsprechend«, fügte Dad mit einer matten Handbewegung hinzu.

Dan starrte dumpf in sein Bierglas, mein Vater auf seine Füße.

Wir vier, die da an den Herd gelehnt standen, betrachteten dieses kleine Schauspiel mit Interesse.

»Schaut sie euch genau an, Mädels«, sagte Jennie. »Das ist es, was für uns noch im Männer-Pool geblieben ist: zwei Männer, die noch immer nicht den kurzen Hosen entwachsen sind. Nichts gegen deinen Dad, Poppy.«

»Kein Problem«, sagte ich.

»Aber würdet ihr einen von den anderen haben wollen?«, murmelte Angie.

Wir nahmen einen Schluck Wein und ließen die Blicke nachdenklich über die Versammlung schweifen.

»Also Angus Jardine würde ich nicht von der Bettkante schubsen«, meinte Peggy schließlich.

Das war natürlich nur Theater, aber wir staunten alle pflichtschuldigst. Angus Jardine war der silberhaarige, eloquente Ehemann von Sylvia, der ungekrönten Königin des Dorfes, die Phils Einsatz beim Glockenläuten so gelobt hatte. Er war im Ruhestand, nachdem er früher ein hohes Tier in der Londoner City bei Warburg & Co gewesen war. Jetzt lebte er zufrieden und zurückgezogen in seinem ehemaligen Pfarrhaus am Fluss. Er war eindeutig nicht unsere Liga.

»Peggy, du Luder!«, schalt Angie.

»Ich hab ja nur von meiner Bettkante gesprochen. Wenn ich ihn erst mal hätte, dann würde ich ihn ziemlich sicher gar nicht mehr haben wollen. Es heißt, dass er unglaublich geizig ist. Wenn er dir einen Schluck Whisky anbietet, dann ist es auch buchstäblich nur ein Schluck. Du musst dich gar nicht so aufspielen, oder willst du mir etwa erzählen, dass du nicht insgeheim in den Leidenschaftlichen Luke verknallt bist?«, erwiderte Peggy.

»Kann schon sein«, gab Angie zu, »aber er ist ja nicht hier, oder? Es ging um die Männer hier im Haus.«

»Ach, die eine oder andere Ausnahme ist schon erlaubt«, erklärte Peggy ihr. »Und du, Jennie?«

»Du meinst rein theoretisch?«

»Natürlich rein theoretisch. Das hier ist eine Trauerfeier. Wir dachten nicht, dass du auf der Stelle jemanden bespringst.«

Jennie zögerte. Einen Augenblick zu lange, fand ich. Überrascht drehte ich mich zu ihr um. »Nee«, sagte sie und steckte die Nase in ihr Weinglas. »Ihr kennt mich doch. Das mit den Männern hab ich aufgegeben. Punktum.«

»Und du, Poppy?«, fragte Peggy ganz locker.

Ich blinzelte verblüfft. »Ach, seid doch nicht albern«, stotterte ich und schnappte mir einen Teller mit Würstchen. »Ich hab gerade meinen Ehemann begraben.«

»Eben«, hörte ich im Weggehen Peggy leise sagen.