4

Der Tod bringt es mit sich, dass sich die Spreu vom Weizen trennt. Manche Leute hielten jetzt Abstand, und falls sie mir doch begegneten, eilten sie mit gesenktem Kopf vorbei. Meistens waren das Männer. Andere hingegen konnten nicht widerstehen, das Thema bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Sprache zu bringen, draußen vor dem Dorfladen zum Beispiel oder am Tor zum Kindergarten. Das waren meistens Frauen. Anteilnehmende Hände lagen auf meinem Arm: »Wie geht es dir? Alles okay, Poppy, kommst du klar?« Sie blickten mir dabei tief in die Augen. Und dann waren da noch die, die nicht viele Umstände machten, sondern einfach Lasagne für mich kochten, die Kinder abholten, mich wieder in die Spur bringen und wirklich helfen wollten. Meistens waren das Freundinnen. Und in erster Linie Jennie.

Ein paar Wochen nach der Beerdigung kam sie mit einem Schwung kalter Luft durch meine Hintertür gestürmt und ließ sie hinter sich zuknallen. »Okay, Geld«, verkündete sie bestimmt und stellte einen blauen Kochtopf zur Seite.

»Geld?«, fragte ich abwesend und wandte mich nach ihr um. Ich saß noch immer im Morgenrock am Küchentisch und starrte Löcher in die Luft, während Archie seinen Vormittagsschlaf hielt. So hielt ich es oft in letzter Zeit.

»Hast du schon darüber nachgedacht?«

»Nicht wirklich«, sagte ich trübe.

»Hatte er welches?«, fragte sie ungeduldig, schaltete hinter sich den Wasserkocher ein und setzte sich mir gegenüber, ohne den Mantel auszuziehen. »Ging es euch gut oder war es immer so haarscharf wie bei mir und Dan? Kurz vor dem Hungertuch?«

Dan war selbständig und schien jetzt, da die Rezession sich so richtig festgefressen hatte, immer seltener nach London zu fahren. Vielleicht tranken die Leute weniger Wein? Ich hatte bisher nie nachgefragt.

»Nein, ich glaube, es ging uns ganz gut. Ich meine, da war immer genug auf meinem Konto, und ich bin immer gut ausgekommen mit meinem «

»Haushaltsgeld«, beendete Jennie den Satz trocken.

Jennie hatte sich schon immer über Phils Regelung mokiert, nach der er monatlich eine gewisse Summe auf ein Konto für mich einzahlte, von dem ich dann alle Haushaltsausgaben bestreiten konnte.

»Aber was ist, wenn du einen neuen Mantel willst oder so?«, hatte sie gesagt.

Jennie und Dan hatten ein gemeinsames Konto, von dem sie sich beide bedienten. Sofern überhaupt etwas drauf war, wie Jennie sarkastisch bemerkte.

»Na ja, entweder spare ich jede Woche ein bisschen oder ich frage ihn und er sagt ja«, hatte ich geantwortet, während sie die Augen verdrehte.

»Ja, aber schon der Gedanke, dass du erst fragen musst. Das ist ja wie in den Fünfzigern.«

»Es ist schließlich sein Geld«, sagte ich. »Du verdienst wenigstens selbst ein bisschen was, Jennie.« Jennie war Köchin und organisierte Dinnerpartys. »Er verdient bei uns jeden einzelnen Penny.«

»Tja, ich will jetzt gar nicht näher erörtern, dass du schließlich deinen Beruf aufgegeben hast, um seine Kinder großzuziehen«, meinte sie dann, »oder dass meine Kinder eben schon in der Schule sind, weswegen ich überhaupt arbeiten kann, und du hast noch ein Kleinkind zu Hause und kannst nicht.« Ich war froh, dass sie es nicht weiter erörtern wollte. Im Gegenzug erwähnte ich nicht, dass Phil mein monatliches Taschengeld als mein Gehalt bezeichnete. Ich konnte ihren Schrei des Entsetzens förmlich hören.

Aber heute würde ich anscheinend nicht damit durchkommen, allzu viel im Dunkeln zu belassen. Jennie hatte diesen entschlossenen Gesichtsausdruck, der bedeutete, dass sie vorhatte, den Dingen auf den Grund zu gehen.

»Hatte er eine Lebensversicherung?«

»Keine Ahnung.«

»Poppy, hat dir die ganze Geschichte wirklich alles Hirnschmalz aus der Rübe geblasen?«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, selbst die tieftraurigste Witwe könnte sich in einem lichten Augenblick doch mal fragen, ob für ihre Küken gesorgt ist. Und übrigens, wolltest du dich heute eigentlich noch mal anziehen?«

Ich blickte auf meinen Bademantel hinunter. »Meinst du, ich sollte?«

»Allerdings meine ich das; gestern hast du’s nämlich nicht getan. Wer hat Clemmie heute Morgen in den Kindergarten gebracht?«

»Die Mutter von Alice hat sie abgeholt. Das tut sie schon seit einer Weile.«

»Okay. Gut. Aber … putz dir wenigstens die Zähne, ja?«, sagte sie verlegen.

Ich zuckte mit den Schultern. Das war viel verlangt. Und dazu noch die ganzen Fragen.

Sie schluckte, leckte sich die Lippen, war sichtbar um Geduld bemüht. »Okay, Poppy, noch mal zurück auf null. Geld. Wo hat Phil seine Unterlagen aufbewahrt?«

»Da drin.« Ich deutete hinter mich, durch die offene Küchentür ins Wohnzimmer, wo unter dem Erkerfenster ein Sekretär aus Walnussholz stand.

»Hättest du was dagegen, wenn ich …?«

»Nur zu.«

Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und warf ihn aufs Sofa, bevor sie quer durchs Wohnzimmer eilte, um dann die nächste halbe Stunde sehr geschäftig herumzukramen. Ich sah zu, wie sie seine Ordner durchblätterte, die, typisch Phil, sehr systematisch und übersichtlich waren, die ich aber bislang nicht hatte anrühren können, obwohl ich schon ein paar Mal zum Schreibtisch gegangen war und draufgestarrt hatte. Ich wandte mich wieder um und setzte die Betrachtung meines winzigen Gartens fort, mitsamt der Schafe auf der Weide dahinter. Jetzt waren es nur noch weibliche Schafe, die dort friedlich grasten. Ob sie wohl froh waren, dass Pervers endlich fort war? Oder war jeder Mann, wie anstrengend er auch sein mochte, besser als keiner? Auf mich machten sie eigentlich einen ziemlich zufriedenen Eindruck, wie sie dort draußen vor sich hin kauten.

Hinter mir konnte ich das Rascheln von Papier hören, während Jennie sich immer tiefer in die Dokumente grub. Ich saß weiter nur da. Als ich einmal kurz hinüberschaute, entdeckte ich Angie, die von der Straße aus durchs Wohnzimmerfenster hereinlinste und ihre perfekt gezupften Augenbrauen unter dem Pelzhütchen hochzog. Jennie signalisierte rasch, dass alles gut war. Angie nickte und ging vorüber. Abgesehen vom Ticken der Uhr und dem gelegentlichen Schnaufen meines Lieblings Archie durchs Babyphon war es ganz still im Haus.

Schließlich kam sie zu mir in die Küche zurückgerauscht und hielt einige Papiere vor sich hin.

»Also. Die gute Nachricht ist, dass er anscheinend eine Lebensversicherung hatte, aber ich habe keine Ahnung, wie hoch die ist. Außerdem scheint er einen Rechtsanwalt gehabt zu haben, der dir sicher mehr sagen kann.«

»Oh, gut.« Ich blickte an ihr vorbei. Komisch. Dieser feuchte Fleck auf der Küchenwand war mir früher noch nie aufgefallen. Vielleicht musste ich da mal ein Bild hinhängen.

»Kein Testament – wenigstens konnte ich keins finden –, aber das ist ganz normal. Das liegt vermutlich bei dem Anwalt.«

»Aha.«

»Soll ich einen Termin für dich machen?«, fragte sie ungeduldig.

»Ist das notwendig?«

»Ja, ich glaube schon. Da gibt es viel zu besprechen. Irgendwann diese Woche?«

»Hat das nicht Zeit?«

»Nein, hat es nicht. Ich nehme dir an dem Tag die Kinder ab.«

Sie hatte bereits ihr Handy gezückt und eine Nummer gewählt, die sie von dem Briefkopf in ihrer Hand ablas. Warum konnte ich den Termin eigentlich nicht selbst ausmachen, fragte ich mich. Vielleicht weil sie glaubte, dass ich es nicht tun würde. Und, würde ich? Schwer zu sagen. Der fieberhafte Adrenalinschub, der mich noch vor ein paar Wochen beinahe manisch angetrieben hatte, wie ein wirbelnder Derwisch die Beerdigung zu organisieren, einen Zettel im Dorfladen aufzuhängen, dass jeder zur Trauerfeier willkommen war, und von einer Sache zur anderen zu eilen – so wie ich auch vom Grab meines Mannes fortgeeilt war –, war jetzt verflogen. In mir hatte sich etwas anderes breitgemacht. Kälte. Ich fror und fühlte mich wie taub. Schon seit über einer Woche. Es war, als müsste ich für immer und ewig nur noch hier sitzen, den ganzen Tag, um meine Kräfte zu schonen. Wenn die Kinder da waren, ging es ganz gut, dann zwang ich mich, unbeschwert zu sein, aber am Abend und am Vormittag, wenn Archie schlief, dann saß ich hier auf diesem Stuhl.

»Gut, dann ist das also geregelt. Morgen um vier. Okay?« Jennie wollte gerade ihr Handy wieder einstecken, doch in diesem Augenblick klingelte es. »Hallo « Sie drehte sich zur Seite, um ihr Gesicht zu verbergen. »Ja, hab ich gemacht«, sagte sie leise, als wäre sie eine Geheimagentin. »Leider immer noch ziemlich mies.«

»Wer war das?«, fragte ich abwesend.

»Äh, Peggy. Wollte wissen, ob ich, äh … noch einkaufen gehe. Soll ich den Termin in deinen Kalender schreiben?«

»Wenn’s sein muss.«

Offenbar. Im Handumdrehen hatte sie ein Blatt weiter geblättert, wobei sie etwas murmelte von wegen, ich sei eine Woche im Rückstand, den Termin mit Bleistift eingetragen und dick unterstrichen.

»Alles okay?«

»Alles bestens.«

»Ich hab eine Fleischpastete für dich in den Kühlschrank gestellt. Falls du dir ganz sicher bist, dass du nicht lieber mit uns essen möchtest.«

»Ganz sicher.«

Jennie hatte mich so gut wie jeden Abend eingeladen, ebenso wie Angie und Peggy. In den ersten paar Wochen war ich oft bei Jennie gewesen und hatte das Babyphon mit rüber genommen, aber in letzter Zeit war ich ganz zufrieden auf meinem Küchenstuhl.

»Allerdings ist mir dabei aufgefallen, dass da noch eine steht.«

»Was denn?«

»Eine Fleischpastete.«

Ach so. Die hatte sie am Wochenende da reingestellt. Und ich hatte vergessen, sie den Kindern zu geben.

Ich seufzte. »Ich mag Cracker, Jennie. Und Clemmie auch. Aber danke. Das ist wirklich lieb von dir, ich weiß das zu schätzen.«

Sie blickte mich mit einem unruhigen, besorgten Blick an, den ich in letzter Zeit oft an ihr gesehen hatte. Ich zog den Bademantel noch enger um mich und strich mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Hoffentlich war bei ihr alles in Ordnung. War Dan schon wieder angehalten worden, weil er zu schnell gefahren war? Er hatte seinen Führerschein gerade erst wiederbekommen. Ich musste sie unbedingt mal danach fragen. Mich erkundigen. Aber irgendwie fiel es mir in letzter Zeit immer so schwer, überhaupt Worte zu finden. Wo kamen die sonst her, all diese Worte? Wenn ich andere Frauen sah, die auf der Straße standen und ein Schwätzchen hielten, fragte ich mich unweigerlich, worüber reden die? Es war zu mühsam. Genau wie Haare waschen. Oder einkaufen. Gott, es war so unendlich weit bis zum Dorfladen. Mir war gar nicht klar gewesen, wie weit draußen wir wohnten. Wie gut Jennie es hatte, die einfach ein Stückchen näher dran war. Mindestens fünf Meter.

»Und dann dachte ich, dass wir nachher zusammen zum Kindergarten gehen.«

»Du hast doch gar keine Kinder mehr im Kindergarten.«

Jennies Kinder waren älter: Jamie war zwölf und Hannah sieben, beide gingen in die Schule hier am Ort, die erst um halb vier zu Ende war.

»Ich weiß, aber Leila könnte einen Spaziergang gebrauchen und ich trau mich nicht mehr in den Wald mit ihr.«

Leila wilderte, ein Vergehen, auf das ein Bußgeld von fünfzig Pfund stand, der Förster hatte außerdem gedroht, beim nächsten Mal scharf zu schießen. »Darf ich zusehen?«, war Jennies Erwiderung gewesen. Ich war Zeugin dieses Zusammenstoßes gewesen, nachdem Jennie wie üblich so dumm gewesen war, den Hund von der Leine zu lassen, um anschließend wie üblich die nächste halbe Stunde durchs Unterholz zu stolpern und »Leila! Leila, du Mistvieh, komm her!« zu zischen. Nicht zu laut, versteht sich, um den Förster nicht zu alarmieren. Wir waren schon eine Weile umhergestolpert, als wir plötzlich in der Ferne ein unheimliches Donnern von Hufen vernahmen. Um den richtigen Serengeti-Effekt zu erzielen, muss man sich dazu noch die Rehe in wilder Flucht vorstellen, das Weiße in ihren Augen, die Staubwolken – während wir uns gerade noch rechtzeitig gegen einen Baum drücken und Archies Buggy zu uns herziehen konnten – und hinter den Rehen eine Irish-Terrier-Hündin, die uns mit einem begeisterten Seitenblick bedachte, bevor sie mit hechelnder Zunge fröhlich an uns vorüberjagte. Natürlich kam wenige Augenblicke später der Förster mit seinem Land Rover durch das Farnkraut gebraust, puterrot im Gesicht vor Wut, und natürlich bekam Jennie auf der Stelle ein Bußgeld aufgebrummt und war vernünftigerweise seither nicht mehr dort gewesen.

Aber dennoch war der Weg zum Kindergarten, zwei Minuten den Hügel hinauf, kaum ausreichend als Spaziergang für Leila. Denn man darf sich keinesfalls durch das Wort Terrier in die Irre führen lassen. Wenn »Irish« davor steht, ist das Tier eher ein kleines Pferd.

Ich seufzte. »Okay«, sagte ich gehorsam, wie ich es in letzter Zeit so oft tat.

»Und später hast du vielleicht Lust, mit mir zur Chorprobe zu gehen.«

»Wirklich? Warum?«, fragte ich.

»Weil wir heute Abend das Gloria singen und dir das gefallen wird.«

»Aber ich singe doch gar nicht.«

»Jeder kann singen. Und überhaupt: Ich hab neben dir in der Kirche gestanden und du kannst wunderbar den Ton halten. Frankie wird für dich babysitten.«

»Na gut«, sagte ich matt. Singen. Ich wusste ja nicht einmal mehr, wie man redete.

Und siehe da, als ich mich ungefähr eine Stunde später mit Archie auf den Weg machen wollte, tauchte Jennie wundersamerweise mit einer zerrenden Leila vor ihrer Tür auf – ich hätte übrigens schwören können, dass sich auf der anderen Straßenseite Peggys Vorhang bewegte –, und wir marschierten den Hügel hinauf. Wir holten Clemmie ab und gingen dann wieder den Hügel hinunter, was ungefähr fünfzehn Minuten dauerte, ein bisschen länger als normal, da Jennie noch ganz kurz mit Miss Hawkins sprechen wollte, aber lange nicht genug für Leila, die eine gute Stunde brauchte.

Als Jennie sich von uns verabschiedete, beugte sie sich hinunter, um mit Clemmie zu sprechen.

»Das ist ein hübsches Kleid, Clemmie.«

»Ich weiß. Da ist ein Kaninchen vorne drauf.«

»Genau. Und außerdem ein bisschen Bratensoße. Du hast es gestern schon getragen, nicht wahr, mein Schätzchen?«

»Ja, jeden Tag. Sechs. Ich hab gezählt. Mummy sagt, ich darf das.«

»Gut, gut.« Sie richtete sich wieder auf. Hatte wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck. Ich musste sie unbedingt mal nach Dan fragen.

»Dann also bis um sieben, ja?«

»Hm?«

»Chorprobe. Ich schicke Frankie rüber, aber wir müssen uns dort treffen, weil ich Jamie vorher noch zu den Pfadfindern bringen muss.«

»Alles klar.«

Gehorchen. Widerspruchslos. Das war das Beste.

Die Kinder und ich waren mit dem Abendessen fertig, als Frankie erschien. Sie war ein mürrisches, dünnes Mädchen mit einem müden Gesicht, was durch das schwere, dunkle Augen-Make-up und die langen, blondierten Haare seltsam kontrastiert wurde. Sie ging auf die örtliche Gesamtschule, wo alle so oder so ähnlich aussahen. Während sie sich am Küchentisch auf einen Stuhl sacken ließ und düster an ihrem schwarzen Nagellack herumkratzte, fragte ich mich, wohin nur die sensible, niedliche Achtjährige verschwunden war. Aber Archie schien ihr mürrischer Charme zu gefallen, er grinste und schlug begeistert auf den Tisch.

»Hi, Arch.« Sie nahm den ihr angebotenen angesabberten Keksmatsch und seine Augen weiteten sich vor Freude. »Cracker und Limo. Lecker. So was hat es bei uns noch nie zum Abendessen gegeben.«

Die Kinder strahlten vor Stolz.

»Gestern hatten wir Pommes«, prahlte Clemmie.

»Du Glückliche, Clem. Das mit fünfmal täglich Obst und Gemüse ist doch Quatsch, was?« Sie wandte sich mir zu. »Jennie hat gesagt, du gehst heute mit ihr zur Chorprobe. Ist das nicht ein bisschen traurig? Als Nächstes organisierst du noch den Blumenschmuck in der Kirche mit ihr.«

»Deine Mum ist sehr fleißig, Frankie«, erklärte ich ihr. »Und irgendjemand muss es ja machen.«

»Warum?«, fragte sie provokant. »Würde gar keinem auffallen, wenn da keine Blumen in der Kirche wären.«

»Manchen Leuten bestimmt.«

»Leuten wie Jennie. Das heißt also, dass sie es eigentlich nur für sich macht.«

Ich merkte, dass ihr der Spruch gefiel. Vermutlich speicherte sie ihn gerade ab, um ihn ihrer Stiefmutter später an den Kopf zu knallen, wenn Jennie müde nach Hause kam. Normalerweise hätte ich sie verteidigt und Frankie erklärt, dass, wenn alle so dächten, es keine Dorfgemeinschaft mehr gäbe, aber ich brachte einfach die Energie nicht auf.

»Das ist wie mit dem Staubwischen«, sagte sie weiter. »Sie bildet sich ein, dass du es nicht mehr tust und dass du auch nicht staubsaugst, aber was spielt das für eine Rolle? Ist doch scheißegal, wenn sich der Staub ansammelt, oder? Wer hat das noch mal gesagt, dass es nur bis zu einem bestimmten Punkt mehr wird und dann nicht mehr?«

»Quentin Crisp«, sagte ich und war in Gedanken ganz woanders. Warum redeten wir über Staub? Ach so, wie in Asche zu Asche.

»Siehst du?«, sagte sie bewundernd. »Du weißt solche Sachen. Weil du liest, was Jennie nicht tut. Wer war das überhaupt?«

»Der letzte echte Dandy. Jedenfalls hat er sich so gesehen. Möchtest du einen Cracker, Frankie?«

»Nein danke. Aber du solltest jetzt lieber gehen. Sie wird rumstressen, wenn du da nicht auftauchst. Willst du dir vorher noch die Haare kämmen?«

»Nein danke. Und du?«

»Nicht wirklich. Soll ich die von Clemmie kämmen?«

»Klar.«

Meine Tochter rannte los, um ihre Barbie-Haarbürste zu holen. Ihre Bewunderung für Frankie war so groß, dass sie in den ersten fünf Minuten ihres Besuches kaum sprechen konnte. Ich erhob mich schwerfällig und ging an die Hintertür, um meinen Mantel zu holen.

»Die Schule ist bald vorbei«, sagte Frankie plötzlich ohne jeden Zusammenhang. »Ferien. Kann’s kaum erwarten.«

»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. Eigentlich waren die Ferien noch eine ganze Weile hin, aber für eine Sechzehnjährige waren sie wie eine Oase in der Wüste, eine Unterbrechung der täglichen Fron, die sich am Horizont abzeichnete: morgens lange ausschlafen und abends Party machen. Was natürlich nie ganz der Realität entsprach: Strömender Regen und endlose Langeweile und dazwischen der eine oder andere tiefschürfende Austausch mit einer ähnlich gelangweilten Freundin bei McDonald’s, aber die Vorfreude war gut. Das galt auch für Ehe und Kinder. Die Vorfreude und das Planen machten eindeutig immer am meisten Spaß. Das musste ich mir merken. Mehr planen, weniger tun.

»Und, was hast du so vor in diesen Ferien?«, zwang ich mich zu ein bisschen Small Talk. Sollte doch keiner behaupten, ich könnte keine zwei zusammenhängenden Wörter sagen, was ich gerade erst bei Yvonne gehört zu haben meinte, die genau das über mich zu Mrs Pritchard gesagt hatte, während ich dabei war, ihren Laden mit einem Liter Milch zu verlassen.

»Ich dachte, ich könnte mich vielleicht schwängern lassen.«

Ich schlüpfte gerade ungeschickt in meinen Mantel und hatte ihr den Rücken zugewandt. Ich drehte mich um.

»Warum nicht? So hat meine Mum es auch gemacht.«

»Jennie hat doch nicht «

»Nein, meine richtige Mutter. Sie war sechzehn.«

»Oh.«

Wir starrten uns an. Sie zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Du bist also doch gar nicht so daneben, nicht wahr? Nicht völlig durchgeknallt.«

Ah. Schocktaktik. »Guter Versuch, Frankie.«

»Aber das könnte ich doch wirklich tun«, verteidigte sie sich.

»Denkst du an jemand Bestimmtes?«

»Nein«, sagte sie mürrisch und mutlos, sobald ihr diese Schwachstelle ihres Plans bewusst wurde. »Da wäre Jason Crowley in der Schule, aber der würde nie mit mir zusammenziehen. Da krieg ich höchstens eine schnelle Nummer. Und darum geht es ja«, sagte sie und ihre dunklen Augen blitzten.

»Worum, um die schnelle Nummer?«

»Nein, ums Ausziehen, hier wegkommen.« Sie machte eine Kopfbewegung nach nebenan. »Oder da wäre noch Mr Hennessy, mein Bio-Lehrer; er ist echt cool, aber er hat eine Frau und Kinder, was nicht ideal ist.«

»Nein … nicht ideal.« Wo wollte ich noch mal hin? Ich starrte die Tür an. Ach ja, in die Kirche.

»Alleinerziehende Mütter haben aber Vorrang bei Sozialwohnungen«, erklärte sie mir. »Man überspringt die Warteliste.«

Ich seufzte. »Frankie «

»Aber er ist sowieso nicht scharf auf mich. Mr Denis, der Physikheini, schon, aber der ist scharf auf alle. Oder ich könnte mir vielleicht auch den Typ schnappen, den sie für dich vorgesehen haben. Ich komme einfach mit zur Chorprobe.«

»Was?«

»Nichts.«

Sie stand auf, als Clemmie mit ihrer Bürste zurückkam mitsamt dem Spiegel von meinem Frisiertisch, unter dessen Gewicht sie fast zusammenbrach.

»Oh, das wird ja ein richtiger Frisiersalon!« Frankie nahm ihr den Spiegel ab und hievte ihn auf den Tisch. »Was darf’s denn sein, Madam, eine Hochsteckfrisur oder sollen wir alles kurz schneiden?«

»Alles kurz!«, jubelte Clemmie und sprang vor Aufregung auf und ab.

Frankie grinste. »Nee, das könnte deiner Mum auffallen. Wobei«, sie verzog das Gesicht und warf mir einen Blick zu, »in ihrem Zustand vielleicht auch nicht. Hier, gib mir die.« Sie nahm ihr die Bürste ab. »Wir haben uns für die Hochsteckfrisur entschieden, ja? Und hinterher rücken wir mal Archies Haaren zu Leibe.«

Die Haarpracht meines Sohnes war noch dünn, aber das, was er hatte, war lang, plusterig und wuchs vor allem am Rand des Kopfes entlang. Archie strahlte und streckte ihr in seiner Faust noch ein vollgesabbertes, matschiges Stück Cracker entgegen. Sie nahm es und legte es sich auf die gepiercte Zunge.

»Wetten, dass ich es tue?«

Clemmie nickte. Frankie schluckte. Die Kinder brüllten vor Lachen und freuten sich.

»Unterschätze diese Harpyien nicht«, sagte sie, als ich mich umdrehte, um zur Hintertür hinauszugehen. »Wenn die erst mal die Köpfe zusammenstecken, bist du dem Untergang geweiht. Glaub mir, ich hab da Erfahrung. Oh, und vielleicht möchtest du noch deinen Bademantel unter dem Mantel ausziehen. Wenn sie das sehen, brauchen sie Riechsalz.« Ich blickte an mir herab und sah fünf Zentimeter hellblauen Frotteestoff unten aus meinem dunkelblauen Blazer hervorlugen. »Aber vielleicht auch nicht. Mir persönlich gefällt ja der Lagenlook. Aber unsere Jennie ist in letzter Zeit so schrecklich bieder geworden. Sie hat es nicht so mit Quentin Crisps Ansichten.«

Ich nahm ihren Rat an, streifte den Bademantel ab, zog den Mantel wieder an und setzte einen Fuß vor den anderen, auf meinem Weg die Straße hinunter zur Chorprobe. In einem kleinen Winkel meines Denkens war ich mir schwammig dessen bewusst, dass Frankie mich im Weggehen forschend gemustert hatte und ich einen verrückten Augenblick lang versucht gewesen war, kehrtzumachen und mich ihr anzuvertrauen. Fast wäre ich wieder hineingegangen, hätte die Tür hinter mir zugemacht und ihr mein Herz ausgeschüttet. Aber ich hatte es nicht getan. Natürlich nicht. Nicht nur, weil ich mich schämen würde – und das würde ich garantiert –, vor allem weil ich keine Kontrolle mehr darüber haben würde, wenn es erst einmal draußen war. Dan würde davon erfahren. Anschließend würde irgendjemand im Pub es hören und so würde es weitergehen, bis meine Kinder in der Schule deswegen gehänselt wurden. Entschlossen ballte ich meine Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Es musste ein Geheimnis bleiben. Mein Geheimnis. Keiner durfte je erfahren, dass ich ihrem Vater, meinem Ehemann, nicht genügt hatte – emotional. Dass er ein Leben mit einer anderen Frau gehabt hatte. Dass sie mir vor zehn Uhr einen Besuch abgestattet hatte. Dass sie hier gewesen war zu seiner Beerdigung, ohne dass ich davon gewusst hatte. Die Kinder durften nie erfahren, dass ihr Vater unglücklich mit mir gewesen war, sogar verzweifelt. Es war meine Schande und mit der musste ich alleine fertig werden. Tränen strömten mir die Wangen hinunter und benetzten mein Gesicht, während ich weiterging.