6

Sie hieß Emma. Emma Harding. Ich erinnerte mich daran, wie sie mit ihrem Auto die Dorfstraße entlanggefahren war. Erinnerte mich an ihren kleinen schwarzen Mini. Ein cooles Auto. Eines, das mir, obwohl ich eigentlich mit Autos gar nicht viel am Hut hatte, gefallen hatte. Ich hatte es ganz genau gesehen, weil ich in dem Augenblick gerade das Fensterbrett abstaubte und eine Lampe hochhob. Es blieb vor meinem Haus stehen. Und heraus stieg Emma, hübsch, zierlich, blond, ihre schulterlangen Haare wippten, als sie sich umwandte, um die Autotür hinter sich zuzumachen. Ein weißes, gesmoktes Top, Jeans, perlenbesetzte Pantoletten. Nicht zu vergessen der zarte, glitzernde Schal um ihren Hals, in Hellblau und Silber. Ich sah zu, wie sie den Weg heraufkam, und war überrascht, dass sie offenbar mein Haus ansteuerte. Sie sah mich durchs Fenster, blieb stehen und winkte unsicher. Ich ging zur Tür. Ich konnte mich noch an ihr Lächeln erinnern. Schüchtern. Nervös. Es tue ihr leid, dass sie hier so unangemeldet vorbeikomme, sagte sie und fummelte dabei am Riemen ihrer Schultertasche herum. Sie wisse ja, dass es eine schwere Zeit für mich sei.

Ich runzelte die Stirn. »Verzeihung, kenne ich …?«

»Ich heiße Emma Harding. Ich war eine Freundin von Phil. Eine gute Freundin.«

Ich dachte mir nichts dabei. Sie folgte mir ins Wohnzimmer, und als ich mich umwandte, begegnete ich schließlich ihrem Blick, dem eines verängstigten Kaninchens. Ich bedeutete ihr, auf dem kackbraunen Sofa Platz zu nehmen, und setzte mich ihr gegenüber, noch immer den Staubwedel in der Hand. Und in dem Augenblick wusste ich, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Bei der Beerdigung, in einem schwarzen Wollkostüm, ziemlich elegant. Sie hatte viel geweint. Den Kopf gesenkt gehalten, ein Taschentuch an den Mund gepresst. Jemand hatte beschützend den Arm um sie gelegt, einer von Phils Radfahr-Freunden. Vielleicht seine Frau, hatte ich gedacht und mich ein bisschen geschämt, weil ich nicht weinte. Jedenfalls nicht so.

Sie fing mit leiser, brüchiger Stimme an zu sprechen und rang dabei die Hände. Sie und Phil hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Sie hatten versucht, nicht »Also, Sie wissen schon.« Hatten dem gegenseitigen Verlangen sehr lange Zeit widerstanden, die Anziehung verleugnet, aber bei einer Konferenz in Manchester »Tja, also«, da war es dann nicht mehr zu kontrollieren gewesen, schließlich waren sie ja weit weg von zu Hause. In den letzten vier Jahren hatten sie sich dann richtig ineinander verliebt. Und natürlich war da immer das Radfahren, das machten sie am Wochenende. Fast jedes Wochenende. Und sie, Emma, wusste ja, wie falsch es war, aber sie war nicht verheiratet und betrog keinen. Und Phil war doch so einsam. So traurig.

Emma blickte mich nervös an. Aus einem bleichen Gesicht. Verängstigt. Die Finger in ihrem Glitzerschal waren in ständiger Bewegung.

»Und warum erzählen Sie mir das?«, brachte ich mühsam hervor, nachdem ich meine Stimme gefunden hatte, die sich tief in meinem Brustkorb versteckt hatte, dort in Deckung gegangen war.

»Weil ich weiß, dass Phil für mich vorgesorgt hat. Ich weiß, dass er mir in seinem Testament etwas hinterlassen hat, weil wir schon so lange zusammen waren, und ich möchte, dass Sie wissen«, hier fing ihre Stimme an zu zittern, »ich möchte, dass Sie wissen, dass ich nichts davon haben will.«

Ich starrte geradeaus auf den Spielplatz des Kindergartens, wo ich jetzt mit Archie stand und auf Clemmie wartete. Meine Augen fühlten sich vom Schlafmangel trocken und verklebt an. Zugleich erinnerte ich mich an ihre Augen: Voll Traurigkeit waren sie gewesen. Voll echter Trauer. Ich dagegen hatte vor mich hin gesummt, während ich an diesem Vormittag das Fensterbrett abgestaubt hatte. Nur ein klein wenig, aber dennoch.

»Mrs Shilling?« Miss Hawkins stand plötzlich neben mir und hielt mir ihr besorgtes Gesicht entgegen. »Mrs Shilling, haben Sie kurz Zeit?«

Clemmie stand neben ihr und hielt sich an ihrem Rock fest. Sie schaute zu Boden und lutschte am Daumen, was sie tagsüber schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte. Glücklicherweise saß Archie in seinem Buggy und weinte, weinte schon seit einer ganzen Weile.

»Ich wollte noch mal mit Ihnen über neulich reden«, sagte Miss Hawkins und musste ihre Stimme erheben, um Archies Geheul zu übertönen. »Als Sie vergessen haben, Clemmie abzuholen.«

»Tut mir leid, Miss Hawkins, ich muss jetzt wirklich mit Archie nach Hause. Er will sein Fläschchen.«

So ein langer Satz, aber irgendwie schaffte ich es, ihn zu Ende zu bringen. Dann nahm ich schweigend Clemmies Hand, die sich nicht instinktiv nach meiner ausgestreckt hatte, und wir marschierten den Hügel hinunter, während sich, wie ich wusste, Miss Hawkins’ Blicke in meinen Rücken bohrten. Archie schluchzte noch immer, aber er weinte überhaupt viel in letzter Zeit. Manchmal den ganzen Vormittag lang. Vielleicht fehlte ihm seine sonnige Mutter und er fragte sich, wer diese introvertierte, zerstreute Frau war, die vorgab seine Mutter zu sein.

Als ich unten angekommen um die Ecke bog, tauchte mein Haus auf. Ein vertrauter roter Pick-up parkte vor der Tür. Der war noch nicht da gewesen, als ich vor ein paar Minuten in Richtung Kindergarten aufgebrochen war. Es kam vor, dass er einfach so ohne Vorwarnung auftauchte, aber normalerweise erst nach einem Zeitraum von ein paar Monaten, und ich hatte Dad doch erst kürzlich bei der Beerdigung gesehen. Außerdem hatten wir seitdem des Öfteren miteinander telefoniert. Dad und ich standen uns nahe, aber wir waren beide eher Einzelgänger und ich hätte geglaubt, dass wir fürs Erste genug in Familie gemacht hatten. Er stieg gerade aus dem Pick-up – dem, wie ich bemerkte, noch immer der Kühlergrill fehlte, den er vor ein paar Jahren in einer Hecke verloren hatte – in seiner Arbeitskleidung, also in Reithosen, Stiefel und einem uralten karierten Hemd. Er drehte sich zu uns um und blickte uns, die Hände in die Hüften gestemmt, entgegen.

»Hallo, mein Schatz.« Besorgt musterte er mich aus seinen strahlend blauen Augen.

»Hallo, Dad. Was machst du denn hier?«

»Grandpa!« Clemmie strahlte und ließ meine Hand los, um zu ihm zu laufen. Lächelnd hob er sie in seine Arme.

»So gefällst du mir, meine Kleine! Hey, sieh dich nur an. Hast du gemalt?«

»Nein, wir haben gestern Abend Ketchup gegessen.«

»Wirklich, du meine Güte. Na, da brauchst du wohl mal einen Waschlappen. Du hast es auch überall auf deinem Kaninchenkleid.« Er stupste sie auf die Brust.

»Ja, und ich darf es jeden Tag tragen. Aber morgen will ich es nicht mehr anziehen.«

»Kluge Entscheidung, Clemmie.« Er setzte sie ab.

Archie hatte aufgehört zu weinen und lächelte und strampelte heftig mit den Beinen in Richtung seines Großvaters. Dad beugte sich hinunter, um ihn an den Knien zu kitzeln, und linste derweil zu mir empor.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?«

»Bestens, danke«, sagte ich, als er sich wieder aufrichtete, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Kommst du mit rein?«

»Tja, das hatte ich vor.«

Ich wandte mich um und öffnete das Tor und er folgte mir den Weg zum Haus hinauf. »Was machst du hier überhaupt?«, fragte ich über die Schulter zurück. »Du hast doch momentan ziemlich viel zu tun.«

Dad handelte mit Pferden, insbesondere Jagdpferden, und zu Beginn der Saison ging es hoch her. Er verbrachte jeden freien Augenblick damit, seine Tiere fit zu machen, und führte sie dann entweder potentiellen Käufern vor oder er verpachtete sie für Fuchsjagden, auf die er seine Kunden oft begleitete, wenn sie nervös waren.

Er kratzte sich am Kopf. »Ach … ich war gerade in der Gegend. Nicht weit von hier gibt es eine Irish-Draught-Zucht, die ich mir mal ansehen wollte. Scheinbar ganz passables Erbmaterial.«

»Aha. Wo denn genau?« Ich schloss uns die Tür auf.

»Ähm « Sein verzweifelter Blick blieb an dem Schild eines Immobilienmaklers auf der anderen Straßenseite hängen. »Dunstable?«

»Dunstable ist aber ziemlich städtisch, Dad. Bei irgendjemandem auf dem Hinterhof, oder wie?«

»So in etwa.«

Wir gingen hinein.

»Alles in Ordnung, Poppy?«

»Das hast du mich schon mal gefragt«, sagte ich, während er an mir vorbei quer durchs Zimmer ging, um geschäftig die Vorhänge in dem abgedunkelten Raum zu öffnen und dann, obwohl er eher nicht der häusliche Typ ist, auf dem Rückweg gleich die Ketchup-verschmierten Teller vom Teppich aufzulesen und mit besorgter Miene in die Küche zu tragen.

Ich machte ihm eine Tasse Tee, leider war die Milch aus, die Kinder turnten aufgeregt auf ihm herum. Ich hatte den Verdacht, dass er nicht nur wegen einer Tasse Tee gekommen war, und so stellte ich auf dem kleinen Küchenfernseher Bob der Baumeister an, um meinen Nachwuchs mal für fünf Minuten ruhigzustellen, und gab ihnen je einen Schokoriegel. Dad musterte sie nervös.

»Mittagessen?«

»Na ja, du weißt schon, manchmal muss das eben reichen.«

Meine Güte, er sah wirklich besorgt aus. Ich hoffte nur, dass er keine geschäftlichen Schwierigkeiten hatte. Dad behauptete immer, dass die Wirtschaftskrise die Welt des Pferdehandels nicht erreicht hatte, aber vielleicht sagte er das nur, um mich zu beruhigen, und die Wirklichkeit sah ganz anders aus? Oder war er von einem seiner ungestümen Vierjährigen gestürzt? Ich machte mir Sorgen, weil er in seinem Alter immer noch Pferde zuritt, aber das Problem war, dass sowohl Dad als auch ich so eigensinnig waren, dass wir nicht anfangen konnten, uns gegenseitig Vorschriften zu machen. Aber jetzt gingen wir erst mal zurück ins Wohnzimmer, setzten uns nebeneinander auf das Sofa und tranken unseren Tee.

»Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich dich nach der Beerdigung so alleine sitzengelassen habe«, sagte er schließlich.

Ich runzelte die Stirn. So tiefschürfend waren seine Kommentare sonst nie. »Du hast mich doch nicht sitzengelassen. Du bist nur nach Hause gefahren.«

»Ich weiß, aber «, er zuckte hilflos die Schulter. »Du weißt schon. Ich hätte dir ein bisschen helfen können. Hätte das hier«, er wies auf die Wäscheberge auf den Stühlen und das Spielzeug, das den gesamten Tisch bedeckte, »verhindern sollen. Aber trotz allem «, er schluckte, »ich hab immer an dich gedacht. Und jetzt bin ich ja da. Besser spät als nie, schätze ich. Und Jennie und ich haben überlegt, ob ich nicht … oder ob du nicht « Er zögerte und ich musterte ihn überrascht. Er und Jennie? Er hatte Jennie doch seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. »Also, hör mal, mein Schatz«, sagte er und holte tief Luft, offenbar um etwas ziemlich Bedeutendes vorzubringen, »was ich mir überlegt habe, ist, ob du nicht für eine Weile zu mir kommen möchtest.«

Ich runzelte die Stirn. »Was, in deinen Saustall?« Dads Haus war unfassbar chaotisch: Bis unter den Dachstuhl voll mit halb geputztem Zaumzeug und Sattelseife, überall kroch die Feuchtigkeit hoch und es stank nach einer Mischung aus Pferden und Hunden, Klauenöl, Socken und Whisky. Dads Haus war eine extrem gut abgehangene Junggesellenhöhle und vollkommen ungeeignet für Kinder, die es natürlich toll fanden dort, aber dennoch.

»Das ist lieb von dir, Dad«, sagte ich erstaunt. »Aber, nein danke.«

»Oder ich könnte hierher kommen.«

Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Dad konnte seinen Stall keine fünf Minuten alleinlassen, geschweige denn eine ganze Nacht. Schon allein die Tatsache, dass er auf eine Tasse Tee vorbeigekommen war, war bemerkenswert. Plötzlich wurde mir kalt vor Schreck.

»Oh Gott, Dad, ist alles zusammengebrochen? Dein Geschäft? Alles den Bach runter?«

»Nein! Nein, es läuft prächtig, könnte nicht besser sein. Erst letzte Woche hab ich drei Vielseitigkeitspferde verkauft, eines an den Stall von Mark Todd. Nein, es ist nur … Ich mache mir Sorgen um dich.« Unbeholfen legte er den Arm um mich.

»Um mich?«

»Ich bin für dich da, mein Kind, wenn du mich brauchst.«

Ich nickte, wie vom Donner gerührt.

»Und ich liebe dich, mein Schatz. Das darfst du nie vergessen.« Er seufzte und zog seinen Arm weg. »Aber wenn du sicher bist, dass du zurechtkommst « Er tätschelte mir vorsichtig den Rücken und wir saßen eine Weile schweigend da. »Äh … soll ich den Kindern Mittagessen machen?«

»Die hatten doch schon was«, sagte ich ungläubig, weil ich mir sicher war, dass ich ihm das gerade erst gesagt hatte. Hatten wir uns nicht eben erst über dieses Thema unterhalten? Buchstäblich vor wenigen Augenblicken? Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Hatte er Alzheimer?

Dad stand auf und trug seine Tasse in die Küche. Dann verbrachte er die nächsten zehn Minuten damit, einen wackeligen Turm von Geschirr abzuwaschen, das bereits in der Spüle stand. Als er nach dieser für ihn eher ungewöhnlichen Tätigkeit wieder ins Wohnzimmer kam, wirkte er niedergeschlagen. Er verabschiedete sich bald und ging los. Ich sah ihm von der offenen Tür aus hinterher, wie er den Gartenweg hinuntermarschierte. Beinahe wäre er mit einer stattlichen Frau mittleren Alters zusammengestoßen, die einen eng gegürteten grasgrünen Mantel und eine Brille trug und eine gewichtige Ausstrahlung hatte.

»Oh, hallo.« Sie linste an Dad vorbei, um mich anzusprechen, wobei ihr Lächeln nicht sehr überzeugend wirkte.

»Hallo.«

»Mein Name ist Trisha Newson, ich bin von der Fürsorge.«

Ich starrte sie unverwandt an. Dad war ziemlich blass geworden.

»Könnte ich Sie kurz sprechen?«, murmelte er und zog sie mit sich hinter meine kleine Buchenhecke. Ich stand in der Tür und überlegte. Plötzlich wurde es mir klar: Mrs Harper von nebenan. Sie fuhr jeden Monat ins Chiltern Hospital wegen ihrer Venen.

»Nebenan«, rief ich über die Hecke. »Mrs Harper wohnt nebenan.«

Sie schienen mich allerdings nicht zu hören und so zuckte ich nur mit den Schultern und schloss die Tür. Bob der Baumeister war in der Küche in vollem Gange und ich wusste, dass diese DVD noch eine ganze Stunde laufen würde, außerdem wusste Clemmie, wie man danach eine neue einlegen konnte, also ging ich nach oben, um mich ein wenig ins Bett zu legen.

An diesem Nachmittag stattete ich widerstrebend Phils Anwalt einen Besuch ab. Ich hatte gehofft, Jennie hätte es vielleicht vergessen, aber auf meine Nachbarin war Verlass und sie kam rechtzeitig meinen Gartenweg heraufgeeilt. Ich hatte überlegt, ob ich einfach nicht da sein oder mich im Keller verstecken und alle Vorhänge zuziehen könnte oder mich schlichtweg weigern, mit ihr zu gehen, aber ich musste mir resigniert eingestehen, dass dies nur unangenehme Fragen nach sich ziehen würde, und so fügte ich mich. Allerdings fühlte ich mich dabei so, als wäre ich auf dem direkten Weg zu meiner Hinrichtung. Jetzt würde doch bestimmt das Testament eröffnet werden. Und alles vernichten, was noch von meinem Leben übrig war.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Jennie, während wir die Kinder anzogen. »Vielleicht gibt es da eine Empfangsdame, bei der wir die Kinder lassen können.«

»Auf gar keinen Fall«, erklärte ich derart bestimmt, dass wir, glaube ich, beide überrascht waren. Ich richtete mich auf, nachdem ich Clemmies Schuhe zugemacht hatte, und starrte sie mit blitzenden Augen an.

»Okay, Poppy«, sagte sie sanft, »wie du es willst, wird es gemacht. Ich werde draußen warten.«

Ihr war anzusehen, dass sie dachte, ich hätte schon seit langem nicht mehr so viel Gefühl gezeigt.

Nichtsdestotrotz bestand sie darauf, mich in die Stadt zu fahren, weil ich, wie sie meinte, das Büro niemals allein finden würde, dabei befand es sich direkt neben dem Rathaus mitten auf der High Street. Aber anscheinend musste ich eine bestimmte Bluse und einen bestimmten Rock tragen, mir das Gesicht waschen und die Haare kämmen und schließlich bis direkt vor die Tür gebracht werden. Ständig kommandierte sie mich neuerdings herum.

Im Gegensatz zu mir hatte der Mann, den zu treffen man mich geheißen hatte, keine ihn herumkommandierende beste Freundin, denn er hatte nicht nur vergessen, sich die Haare zu kämmen, er hatte auch Kekskrümel überall auf seinem Hemd.

Ich hatte ein paar Stockwerke die Treppen hinauf gemusst, um zu seinem Büro zu gelangen, und obwohl Jennie bei den Kindern im Auto bleiben wollte, hatte Archie sich in einer plötzlichen Abweichung vom Drehbuch geweigert, von mir getrennt zu werden, sodass ich ziemlich außer Atem war, als ich schließlich, meinen Sohn im Arm, die oberste Treppenstufe erreicht hatte. Eine Reihe von Türen offenbarten mir keinerlei Hinweise auf die Funktion der Räume dahinter, und so drückte ich die nächstbeste auf und gelangte in eine Art Empfangsbereich. Allerdings ohne Empfangsdame, es war eher ein ziemlich unordentliches Wartezimmer, in dem ein paar Zeitschriften herumlagen. Ich spürte, dass ich vielleicht gerade noch so davonkommen könnte, wusste aber zugleich, dass Jennie keine Ruhe geben würde, wenn ich es nicht wenigstens einmal probierte – sie würde möglicherweise sogar selbst die Treppen hinaufsprinten und darauf bestehen, die Situation mit eigenen Augen zu begutachten – also beschloss ich, eine der Türen aufzudrücken, und wenn dahinter kein Rechtsanwalt saß, würde ich die Sache abblasen.

Die Tür klemmte und so drehte ich mich zur Seite und stieß sie mit der Schulter auf, wobei ich wohl ein klein wenig zu viel Druck ausübte, sodass ich mit Archie in meinen Armen hindurchflog, auf einem der vielen Papiere, mit denen der Fußboden übersät war, ausrutschte, als wären wir ein Tanzpaar vom Ballet Rambert, das eine neue und komplizierte Hebefigur probte. Der Raum war klein und unsere schwankende Pirouette endete vor einem prunkvollen Schreibtisch. Dahinter saß ein Mann, der gerade ein Marmeladenplätzchen in einen Becher mit Tee stippte und erstaunt aufblickte, als ich mit einer letzten Drehung vor ihm zum Stehen kam. Er hatte dunkle, wirre Haare, die mal wieder einen Haarschnitt gebrauchen konnten, und er hatte sehr breite Schultern, genauer gesagt sah er aus wie ein Rugbyspieler, den man zur Feier des Tages in ein rosafarbenes Hemd gequetscht hatte, in dem er sich eher unwohl fühlte. Selbst in meinem desolaten Zustand bemerkte ich, wie gut er aussah. Hastig legte er das Plätzchen aus der Hand, fegte sich ein paar Krümel vom Hemd, stand auf und streckte mir die Hand entgegen.

»Tut mir leid. Ich habe nicht gehört, wie Sie angeklopft haben.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt geklopft habe.«

»Mrs Hastings?«

»Nein, Mrs Shilling.« Ich schob mir eine Strähne aus dem Gesicht und hob Archie auf meine andere Hüfte, um die mir angebotene Hand schütteln zu können.

»Oh.« Er wirkte überrascht. »Wirklich?«

»Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.« Ich schaffte es, zu lächeln, fühlte mich danach aber ein bisschen seltsam. Ein wenig … schwindelig. Mussten wohl die Treppen sein. Und der Schlafmangel. Ich musste mich hinsetzen. Ich tastete hinter mir nach einem Stuhl, der glücklicherweise existierte, sank dankbar darauf nieder und setzte Archie auf meinem Schoß zurecht. Der zerzauste Mann setzte sich ebenfalls, konsultierte hastig einen vor ihm liegenden aufgeschlagenen Ordner und schob rasch die Kekspackung in eine Schublade.

»Gut. Mrs Shilling. Ihr Mann ist also nicht mit einem portugiesischen Gepäckabfertiger von Heathrow durchgebrannt?« Ein sehr sympathisches Glänzen lag im fragenden Blick seiner tiefbraunen Augen. Er wirkte belustigt. »Und Sie haben nicht seine Golfschläger genommen, sie in der Mitte durchgebrochen und dann wieder in die Golftasche gesteckt, bevor er für eine Woche mit besagtem Gepäckabfertiger nach Sotogrande geflogen ist?«

»Nein, mein Mann ist vor ein paar Wochen gestorben.«

Er machte ein entsetztes Gesicht. »Oh Gott. Oh verdammt. Das tut mir entsetzlich leid.« Betreten klappte er den Ordner zu und warf ihn auf die Seite, bevor er sich mit den Händen durch die Haare fuhr. »Wie höchst unpassend von mir, ich entschuldige mich aufrichtig.«

»Bitte, machen Sie sich keine Gedanken!«

Er wirkte ehrlich erschüttert. Während er sich hastig zum Computermonitor auf seinem Schreibtisch umwandte, wo er zweifellos meine Daten aufrief, nutzte ich die Gelegenheit, mich zu fragen, wie er es wohl geschafft hatte, seine Schultern in dieses Hemd zu quetschen. Die Ärmel waren aufgerollt, eine Krawatte lag einsam und verlassen auf dem Schreibtisch. Aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an meinen Sohn Archie und an das erste und einzige Mal, das ich versucht hatte, ihn schick anzuziehen – für die Beerdigung. Die Knöpfe an seinem Hemdchen waren innerhalb weniger Sekunden abgeplatzt.

»Es tut mir so leid«, murmelte er, während er auf den Bildschirm blickte und mit der Maus vor sich hin klickte. »Wie Sie vielleicht festgestellt haben, bin ich momentan ohne Sekretärin. Janices Mutter ist krank, weshalb ich ein wenig desorientiert bin. Sie zeigt mir normalerweise, wo’s langgeht.«

»Aushilfe?«, schlug ich vor.

Er drehte sich vom Bildschirm weg, um mich anzustarren. »Wie bitte?«

Meine Sätze waren in letzter Zeit etwas bruchstückhaft, ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Sie könnten sich eine Aushilfe holen.«

Er blickte mich einen Augenblick verständnislos an, bis sich seine Miene erhellte. »Was für ein unglaublich genialer Einfall. Darauf muss man erst mal kommen.« Er kritzelte etwas auf einen Block, warf mir noch rasch einen bewundernden Blick zu, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. »Ah ja, jetzt wird mir alles entsetzlich klar. Mrs Hastings kommt am nächsten Dienstag, während Sie heute hier sind. Ich hatte das Datum verwechselt. Mrs Hastings will vermutlich wissen, ob sie die Türschlösser austauschen und seinen Jaguar SJS verkaufen kann, während Sie hier sind, um über ein Testament zu sprechen, das in genau diesem Augenblick bei mir zu Hause ganz oben auf dem Wäschekorb in meinem Badezimmer liegt.«

»In Ihrem Badezimmer?«

»Ich habe gestern die Unterlagen mit nach Hause genommen. Und sie dort vergessen.«

»Ach so.«

»Tut mir leid, das wollten Sie jetzt vermutlich nicht wissen, aber es ist einfach so, dass ich oft Unterlagen in der Badewanne lese. Ich stelle immer wieder fest, dass Entspannung die grauen Zellen ungeheuer beflügelt.«

»Das finde ich durchaus nachvollziehbar, ich lese Romane in der Badewanne.«

»Obwohl ich mich vage erinnere, dass ich nicht ganz bis zu dem Shilling-Stapel vorgedrungen bin, sondern nur bis zu dem zwielichtigen Gepäckabfertiger. Es tut mir wirklich sehr leid, Mrs Shilling, Sie sind heute ganz umsonst gekommen, weil Ihr Anwalt nicht nur die Unterlagen nicht gelesen, sondern sie auch noch zu Hause liegengelassen hat.« Er wandte sich vom Bildschirm ab und streckte seine Handgelenke über den Schreibtisch. »Handschellen. Oder Rohrstock.« Er legte die Hände ab und machte ein ernstes Gesicht. »Oder möglicherweise gleich feuern. So würde ich es jedenfalls machen.«

Ich lächelte. »Keine Sorge, das regt mich nicht auf. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich momentan schon in der Lage bin, über Testamente zu sprechen, aber eine von meinen Freundinnen hat darauf bestanden.«

»Ach wirklich? Na ja, wenn Sie nicht gerade völlig zahlungsunfähig sind, dann besteht kein dringender Handlungsbedarf. Da ist nichts, das nicht warten könnte. Kommen Sie einfach wieder, wenn Sie so weit sind.«

»Wirklich?« Dankbar erhob ich mich. »Das werde ich tun.« Ich hatte keine Ahnung, ob ich zahlungsfähig war oder nicht. Legte die Rechnungen einfach in eine Schublade. »Es könnte noch ein paar Wochen dauern.«

Er erhob sich ebenfalls. »Was mir genügend Zeit gibt, den Stapel mit Ihren kostbaren Unterlagen von meinem Wäschekorb zu holen und Ihnen die nötige Aufmerksamkeit zu widmen – das ist die perfekte Lösung.«

Wir lächelten uns an und waren vermutlich beide gleichermaßen zufrieden mit dem Ergebnis unseres Treffens: Beide hatten wir das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Er trat rasch vor mich, um mir die Tür zu öffnen, während ich mir einen Weg zwischen den auf dem Fußboden verstreuten Blättern hindurch bahnte – worauf er sich für die Unordnung entschuldigte und ich ihm versicherte, das spiele gar keine Rolle, es sei ein wenig so, als würde ich Twister mit meinen Kindern spielen –, und während ich dann durch Janices Zimmer in Richtung Treppenhaus ging, spürte ich, dass er mir von seiner Tür aus hinterhersah.

Jennie hockte mit gestresster Miene hinter dem Steuer, da ihr Wagen im Halteverbot stand.

»Und?«, fragte sie, als ich Archie in seinen Sitz neben Clemmie steckte und festschnallte. Ich stieg vorne ein.

»Ja, es war gut.«

»Wie meinst du, es war gut? Ach, leck mich doch!« Das galt einer Politesse, die dabei war, ihr Kennzeichen aufzuschreiben, aber wahrscheinlich nicht weit kam, weil Jennie einfach losfuhr und sich inmitten eines Hupkonzerts in den Verkehr einfädelte.

»Ich meine, es ist gut, die haben alles im Griff. Aber es gibt noch ein paar Dinge, die vorab geklärt werden müssen, und deswegen schaue ich in ein paar Wochen mal wieder rein.«

»In ein paar Wochen!« Sie wandte sich mir entgeistert zu.

»Tagen. Ich meinte, in ein paar Tagen. Aber ich komme schon zurecht, Jennie. Jetzt weiß ich ja, wo seine Kanzlei ist. Ab jetzt schaffe ich das alleine.« Plötzlich war ich sehr müde. Der totale Erschöpfungszustand.

»Also, um ehrlich zu sein, überrascht es mich, dass du überhaupt noch mal hinmusst«, sagte sie und fuhr sich mit der gespreizten Hand durch die Haare. »Hatte er nicht schon alles parat? Hat er es dir nicht einfach vorgelesen, das Testament? Er ist doch hoffentlich kein Chaot, oder?« Sie warf mir einen kritischen Blick zu.

»Nicht im Entferntesten.«

»Es ist nur so, dass irgendjemand – ich glaube, Laura Davy – meinte, er wäre ein bisschen desorganisiert. Sie ist zu ihm gegangen, nachdem man ihrer Mutter den Blinddarm rausgenommen hatte, anstelle der Leistenbruchoperation, und sie meinte, er wäre total chaotisch. Dir ist doch klar, dass er nicht Phils Rechtsanwalt war, oder?«, sagte sie spitz.

»Äh « So viele Fragen.

»Nein, der ist nämlich gestorben. Der hier ist der Neffe, er hat die Kanzlei geerbt.«

»Aha.«

»Ich hab das alles überprüft, nachdem ich dir den Termin gemacht habe, weil mir aufgefallen war, dass der Name nicht mit dem Briefkopf übereinstimmt. Der Onkel war anscheinend hier am Ort sehr angesehen, während es sich bei dem Neffen eher um eine unbekannte Größe handelt. Er war in einer großen Kanzlei in der City, aber seine Frau hat ihn verlassen und er ist rausgezogen, um ein ruhigeres Leben zu führen, wollte ein anderes Tempo, was ja alles schön und gut ist, aber nur weil wir hier in der Provinz sind, heißt das ja noch lange nicht, dass wir blöd sind, nicht wahr? Und wenn er sich noch nicht mal mit einem einfachen Testament auskennt « Sie verkniff ihren Mund zu einer grimmigen Linie und schüttelte den Kopf. »Da muss er schon ein bisschen fitter werden, fürchte ich, oder er kann einpacken.«

Ich dachte an das rosa Hemd, das an den Schulternähten nur mit Mühe zusammenhielt.

»Er ist eigentlich ziemlich fit«, sagte ich vage. »Und er ist extrem organisiert. Ich glaube, er wird sehr erfolgreich sein. Wie heißt er noch gleich?«

Sie drehte sich entgeistert zu mir um. »Du weißt noch nicht einmal, wie er heißt?«

»Natürlich weiß ich das, ich hab es nur vergessen.«

»Sam Hetherington.«

»Richtig. Sei nicht so streng mit mir, Jennie, ich bin ehrlich gesagt ziemlich fertig.«

Und das stimmte. Fix und fertig. Erleichtert, dass ich das hinter mir hatte, aber erschöpft von der Anstrengung. Und ich war ganz sicher nicht in der Lage, mit meinem Sohn fertigzuwerden, der auf dem Rücksitz wieder angefangen hatte zu quengeln. Seit wann weinte er eigentlich so viel? Er war immer so ein braves Baby gewesen. Ich lehnte mich gegen die Kopfstütze und schloss die Augen.

»In meiner Handtasche ist ein Saftpäckchen«, sagte Jennie zu mir.

Ich schlug die Augen auf. Drehte langsam den Kopf zu ihr. »Willst du das jetzt gleich haben?«

»Nein, aber Archie vielleicht«, sagte sie geduldig.

»Oh.«

Ich beugte mich vor und fummelte gehorsam in ihrer Handtasche zu meinen Füßen herum, fand den Saft und reichte ihn Archie, nachdem ich zunächst noch den Strohhalm hineingesteckt hatte. Er setzte ihn an die Lippen, drückte mit der Hand auf den Karton und der Saft schoss aus dem Strohhalm über sein Gesicht und seine Klamotten. Aus unerfindlichen Gründen brach Clemmie, die im Autositz neben ihm saß, in Tränen aus.

»Du hast vergessen zu sagen, dass er nicht drücken soll!«, heulte sie. »Du sagst sonst immer, dass man nicht drücken soll.«

Archie betrachtete entsetzt seinen durchtränkten Pulli, riss dann den Mund auf, so weit er konnte, und brüllte los, wobei er die Saftpackung zu Boden fallen ließ. Jennie fluchte leise vor sich hin und griff dann hinter sich nach Clemmies Knöchel, den sie streichelte und dabei tröstende Geräusche machte. Während wir inmitten der Kakophonie meiner aufsässigen Kinder nach Hause fuhren, warf Jennie mir einen entnervten Blick zu. Gab es ein Gesetz, fragte ich mich, während ich aus dem Fenster auf die zunehmend kahler werdenden Zweige der Bäume blickte, das einem verbot, nur mal eine kleine Weile still sitzen zu bleiben? Ein bisschen Ruhe zu haben?