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Draußen waren Merry und Cinder bereits beim Knutschen. Neben Euphoria warteten Crystal und Estrella. Während das Pärchen kichernd davonschlenderte, wobei sie sich aneinander festhalten mussten, weil sie so verliebt waren, machte Euphoria sich mit Ben und Crystal auf den Weg zur heutigen Strafarbeit. Sie sollten das Laboratorium reinigen und für den Unterricht vorbereiten, eine Arbeit, mit der Sorry und Estrella während ihrer eigenen Strafarbeit bereits begonnen hatten. Anscheinend sollte bald wieder die Herstellung von Tränken und Ölen unterrichtet werden, mit deren Hilfe Prophezeiungen verstärkt werden konnten. Auch, wenn Euphoria noch nicht mit der Sprache rausrücken wollte, wer das Fach lehren sollte.

Somit blieb Sorry mit Estrella alleine zurück. Schon den ganzen Tag hatte die Sterndeuterin versucht, mit Sorry zu sprechen, die ihr erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Aber das war jetzt nicht mehr möglich.

»Und, hast du es dir anders überlegt?«

»Was meinst du?«, fragte Sorry, obwohl sie sich denken konnte, dass es um die Sache mit Taurus und Mal ging.

Estrella zog triumphierend ein kleines Blatt voller merkwürdiger Daten hervor. »Du wirst eine deiner Entscheidungen überdenken und dich für die richtige Sache einsetzen, um einer Freundin zu helfen.« Estrella klappte das Blatt zusammen. »So steht es in deinem Geburtshoroskop.«

»Ach, wir sind jetzt Freundinnen?«, fragte Sorry, während sie sich an Estrella vorbei zur Treppe drückte. Sie wusste, dass sie die Sterndeuterin damit ärgern konnte.

Estrella folgte ihr, und Sorry erkannte an ihren zusammengepressten Lippen, dass es funktioniert hatte. »Lenk jetzt nicht vom Thema ab. Also, hast du dich umentschieden?«

Sorry zögerte. Wenn sie ihr von dem Versuch erzählte, ihren Vater in einer Vision zu suchen, würde Estrella glauben, dass sie gewonnen hatte. »Nein«, sagte sie also. »Ben und ich bleiben dabei, wir überlassen das den Erwachsenen. Und jetzt muss ich los, ich bin mit Missy verabredet.«

Sorry lief die nächste Treppe herunter, doch Estrella ließ sich nicht so einfach abschütteln.

»Also, während mein Vater daran arbeitet, die Wahrsagerwelt, wie wir sie kennen, zu zerstören, willst du dir einen schönen Tag mit deiner Nichtseherfreundin machen?«, fragte sie empört, während sie Sorry folgte. »Ist das dein Ernst?«

Bevor Sorry darauf irgendetwas Schnippisches antworten konnte, wurden sie von einem leisen »Entschuldigt« unterbrochen.

Sorry und Estrella blickten nach unten zum Treppenabsatz. Dort stand Joy Fullday, Merrys beste Freundin und Estrellas Cousine. Sie sah seltsam schüchtern aus, als wäre ihr etwas unangenehm, und sie schielte immerzu hinter sich, als hätte sie Angst, beobachtet zu werden. Das war ungewöhnlich. Normalerweise sprudelte Joy nur so über vor Energie. »Würdet ihr beide bitte mit mir kommen? Es ist dringend.«

Sorry erkannte an Estrellas Blick, dass sie genauso verwirrt war wie sie selbst.

»Was ist denn los?«, fragte Estrella.

Joy schob sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das darf ich euch nicht sagen, ihr werdet es sehen, wenn ihr mitkommt.«

Estrella verschränkte die Arme. »Warum sollten wir das tun?« Ihre Stimme klang, als würde sie eine Falle wittern. Das war nur verständlich, fand Sorry, so oft, wie sie in letzter Zeit reingelegt worden waren.

Joy machte ein leidendes Gesicht. »Ich kann es euch hier wirklich nicht sagen, aber es ist sehr wichtig, besonders für dich, Estrella.«

Jetzt war es an Sorry, die Stirn zu runzeln. »Und warum soll ich dann mitkommen?«

»Weil wir deine Hilfe brauchen.«

Das überraschte Sorry. »Wer ist wir?«

Doch Joy presste die Lippen zusammen und schüttelte stumm den Kopf.

Estrella warf Sorry einen Blick zu. »Willst du dich immer noch mit Missy treffen?«

Joy führte Sorry und Estrella mit schnellem Schritt durch die Straßen von Horror’s Cope. Sorry kämpfte gegen ihr schlechtes Gewissen an. Sie hatte darauf bestanden, Missy kurz Bescheid zu sagen, allerdings war diese noch nicht zu Hause gewesen. So hatte sie nur eine kurze Nachricht für Missy bei deren Schwester Belle hinterlassen können – natürlich ohne den genauen Grund, warum sie Missy versetzte. Sorry hoffte, dass Missy ihr das verzieh.

Als sie Richtung See abbogen, wurde Sorry bewusst, dass Joy sie zu sich nach Hause brachte. Die Fulldays wohnten nicht in dem Sterndeuterviertel wie Estrella oder die meisten anderen Sterndeuter der Stadt, sondern außerhalb davon in einem kleinen Haus mit Seeblick. Joys Wahrsagefähigkeiten lagen in der Deutung des Wetters, und ihre Mutter, Estrellas Tante, war Sterndeuterin. Ihr Vater jedoch war ein Nichtseher, was bei den Astrologen für viel Unmut gesorgt hatte.

Als das Haus in Sicht kam, hatte Sorry das Gefühl, vor Spannung beinahe platzen zu müssen. Was wollte Joy ihnen zeigen? Sollte sie sich Sorgen machen?

Vor dem Gebäude stand der kleine Lieferwagen des Restaurants »The Ascending Moon«, das Joys Vater betrieb. Gerade hob er ein paar Kisten aus dem Wagen. Als er die Mädchen sah, stellte er sie schnell ab und öffnete die Haustür, wobei er sie nur mit einem Nicken begrüßte und ihnen dann ins Haus folgte. Irgendwas ganz und gar Merkwürdiges ging hier vor sich.

Am Küchentisch saß Joys Mutter und sah so aus, als ob sie darauf gewartet hatte, dass die Mädchen kamen. Sie sprang sofort auf. »Was ist denn los, Tante Wanda?«, fragte Estrella. Aber Wanda Fullday zuckte nur nervös mit den Schultern. Sorry hatte Estrellas Mutter Luna erst ein paarmal gesehen, aber es war offensichtlich, dass Wanda ihre Schwester war. Wenngleich Wanda nicht so dürr und eingefallen wirkte wie Estrellas Mutter, so teilten sie sich doch das lange weiße Haar und die hellen Augen, die auch Estrella besaß.

»Ist er so weit?«, fragte Joy an ihre Eltern gewandt.

Die nickten. Ihr Vater deutete mit dem Kopf in Richtung Kellertreppe. »Er ist unten mit Julius Artemis.«

Das alles wurde immer verwirrender, und langsam bekam Sorry es wirklich mit der Angst zu tun. Wen würden sie gleich treffen? Am liebsten hätte sie jetzt eine Vision herbeigerufen, doch dafür war sie viel zu aufgeregt. Aber wenn dieser er mit Joys zweijährigem Bruder zusammen war, konnte er nicht gefährlich sein. Oder?

Joy ging voran, Estrella und Sorry folgten ihr die Treppe hinunter. Unten blieben sie vor einem Schrank stehen.

Joy drehte sich zu ihnen um. »Das wird vielleicht ein bisschen viel, aber bitte flippt nicht aus. Wir erklären euch alles.«

Sorry und Estrella warfen sich einen verunsicherten Blick zu. »Also, da wir nicht wissen, was du uns zeigst, können wir das mit dem Ausflippen nicht versprechen«, sagte Estrella.

»Aber wir werden es versuchen«, fügte Sorry schnell hinzu.

Joy nickte. Dann öffnete sie den Schrank. Zu Sorrys und Estrellas Überraschung war dieser bis auf ein paar Mäntel vollkommen leer.

»Äh«, machte Estrella, doch schon stieg Joy in den Schrank, schob die Kleidungsstücke beiseite und drückte gegen die Rückwand. Sie schwang auf wie eine Tür. Sorry und Estrella keuchten. »Folgt mir!« Joy stieg durch den Schrank.

Dahinter befand sich ein weiterer, kleiner Raum mit niedriger Decke. Auf dem Boden lagen Teppiche und Kissen. Es gab keine Fenster, das Zimmer wurde nur von ein paar spärlichen Lampen sowie einer Lichterkette schwach erleuchtet. Dennoch war es gemütlich eingerichtet, als würde hier jemand wohnen. Es gab Bücherstapel, eine kleine Kommode für Kleidung und Kinderzeichnungen an der Wand. In einer Ecke hing ein Samtvorhang, hinter dem Sorry eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug erkennen konnte.

Auf einem Teppich in der Mitte des Zimmers saß Joys Bruder Julius Artemis, vor ihm ein Holzzug mit aufgedruckten Sternen. Neugierig sah er die Mädchen an. Neben ihm saß ein Junge, der ungefähr in Merrys Alter sein musste, mit dem Rücken zur Tür. Er trug ein lockeres Leinenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine dazu passende Hose. Unter seiner hellgrauen Mütze lugten verwuschelte weiße Haare hervor. Als die drei das Zimmer betraten, drehte er sich ebenfalls zu ihnen herum. Sorry schnappte nach Luft. Sie kannte den Jungen.

Bevor Sorry das alles aber so ganz begreifen konnte, entfuhr Estrella ein erschrockener Schrei, und sie krallte sich in Sorrys Oberarm. »Aber das kann doch nicht sein!«, stammelte sie mit viel zu hoher Stimme.

Der Junge lächelte leicht, und um seine Augen erschienen kleine Falten, wie Sorry sie von Estrella und ihrem Vater kannte. »Hallo, Schwesterchen«, sagte Polar Astra.

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