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Sorry, Ben, Estrella, Polar und Missy beugten sich über die Karte, die Sorry von Agony bekommen hatte und die nun ausgebreitet auf Missys Boden lag. Es war eine wirklich alte Karte, die Ortsbezeichnungen waren in verschnörkelter Schrift geschrieben, und Sorry befürchtete, dass heute manches anders aussah. Aber es war viel besser als nichts.

Missy deutete auf ein Waldstück auf der Karte. »Also laut deiner Tante befindet sich Spirit’s End irgendwo in diesem Bereich, richtig?«

Sorry nickte. »Genau. Der Wald ist leider ziemlich groß, aber sie meinte, es gäbe ein paar versteckte Pfade hinein, die nach Spirit’s End führen. Nur weiß sie leider nicht, wo diese Pfade sind und wie sie heißen.«

»Aber das grenzt es schon mal ein«, stellte Estrella fest. »Vielleicht können wir sie in einer Vorhersage finden.«

»Das bekommen wir sicher hin.« Polar schüttete den Inhalt eines kleinen Säckchens in seine Hand. Es handelte sich um winzige Tierknochen, die er nun auf und ab warf. »Ich könnte damit würfeln. Oder sie in einem Feuer verbrennen und deuten«, überlegte er.

Estrella verdrehte die Augen. »Nur, weil du angeblich alle Wahrsagearten beherrschst, musst du nicht jede noch so winzige Orakelfähigkeit ausprobieren.«

»Was heißt denn hier angeblich?«, empörte Polar sich.

»Soweit ich weiß, hast du es immer noch nicht geschafft, auch nur das kleinste Horoskop zu erstellen.« Estrella zog die Augenbrauen hoch.

Polar verstaute die Knochen wieder in dem Säckchen. Es war sein wunder Punkt. Er hatte sich in allen Wahrsagearten ausprobiert und inzwischen auch mehrere kurze Visionen zustande gebracht, was Sorry mehr gestört hatte, als sie zugeben wollte. Sie waren so allgemein wie die ihrer Mutter und Schwester und nicht so detailliert wie ihre eigenen. Das hieß, dass sogar Polar im Prinzip ein besserer Visionist war als sie selbst. Nur mit Astrologie hatte er immer noch seine Probleme, weswegen er um diese Disziplin herumschlich.

»Wenigstens kann ich zusammen mit Ben dafür sorgen, dass sie uns nach Spirit’s End reinlassen. Nicht wahr, Ben?« Polar schenkte Ben sein gewohnt keckes Lächeln, doch Ben reagierte nicht. Er starrte stattdessen gebannt auf die Karte und sah dabei ungewöhnlich blass aus. Seit er erfahren hatte, was sich in Spirit’s End befand, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen.

Missy durchbrach das unangenehme Schweigen. »Die Pfade finden wir schon. Sorry kann doch einfach in ihrer Kristallkugel …« Sie stockte. Und erneut war Schweigen im Raum. Sorry spürte beim Gedanken daran, wie unerreichbar ihre Kristallkugel für sie war, einen Stich in der Brust. Sie konnte rein gar nichts tun, um Spirit’s End zu finden.

»Tut mir leid«, murmelte Missy beschämt.

Doch Sorry schüttelte den Kopf. »Schon gut. Aber selbst wenn wir die Wege finden – wie sollen wir dorthin kommen, ohne dass Cassiopeia uns bemerkt und Taurus warnen kann?«

Sie hatte sich bereits über Umwege zu Missy geschlichen, damit die Sterndeuterin sie nicht erwischte, und wenn sie eine Reise unternehmen wollte, würde Cassiopeia das auf jeden Fall zu verhindern wissen. Und auch wenn sie doch losfahren konnten, würde sie Taurus warnen, sodass er sich auf ihre Ankunft vorbereiten konnte. Immerhin würde auch er sich aller Voraussicht nach in der Nähe von Spirit’s End aufhalten. Zumindest wussten sie nun, dass er den Ort sehr wahrscheinlich noch nicht betreten haben konnte, weil er dafür die Hilfe eines Nekromanten brauchte.

Estrella zog die Karte zu sich. »Lasst mal sehen, welche Orte in der Nähe sind, vielleicht fällt uns was ein!« Sie fuhr die Bezeichnungen der Städte mit dem Finger ab. »Coroner’s Corner, Bloombark, Chamow Mills …«

»Chamow Mills?«, unterbrach Polar sie. »Das habe ich doch neulich schon mal gehört. Irgendwer, der dort herkam. Hm …«

Sorry dachte ebenfalls nach und betrachtete die Karte. Chamow Mills war eine gewöhnliche Kleinstadt in einer eher dörflichen Gegend mit einigen Wahrsagern und viel Natur drum herum.

Plötzlich klopfte es von unten gegen die Luke von Missys Zimmer, was alle zusammenfahren ließ. Estrella rollte schnell die Karte zusammen, während Missy die Luke öffnete. Belle blickte zu ihnen herauf. »Ich soll euch fragen, ob ihr irgendwas braucht. Kekse oder Tee?«

Bevor irgendwer antworten konnte, sprang Polar auf. »Tee! Das ist es!«

Die Kinder musterten ihn verwirrt. »So großartig ist Tee nun auch wieder nicht«, bemerkte Missy.

Doch Polar schüttelte den Kopf. »Thea!«, rief er. »Aus eurer Klasse!«

Da fiel es auch Sorry wieder ein. Magnus hatte erzählt, dass er und Thea aus Chamow Mills stammten und gemeinsam in den Herbstferien dorthin fahren würden. Ihr kam eine Idee: Vielleicht konnten sie sich unbemerkt von den beiden mitnehmen lassen, jetzt, wo die Urlaubsreisen wieder erlaubt waren.

Als sie sich auf den Heimweg machten, schwieg Ben immer noch mit düsterer Miene. Sorry hielt es nicht mehr aus. Sie packte ihren Freund am Arm und zwang ihn so stehenzubleiben. »Was ist denn los mit dir?«

Ben sah nach unten und stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Nichts. Es ist nur …« Er holte tief Luft. »Bis vor Kurzem war ich der einzige Nekromant der Welt. Jetzt erfahre ich nicht nur, dass Polar es auch kann, sondern dass es ein ganzes Dorf voller Nekromanten gibt. Und das macht mich irgendwie wütend, auch wenn es albern ist. Ich meine, wahrscheinlich haben sie nichts Gutes im Sinn, und ich bin froh, hier zu sein. Trotzdem muss ich daran denken, wie mein Leben heute aussehen würde, wenn ich dort aufgewachsen wäre. Dann hätte ich früher über meine Kräfte Bescheid gewusst. Ich hätte Fragen stellen können. Ich hätte mich nicht so furchtbar allein und so ausgestoßen gefühlt. Dort wären alle so wie ich gewesen.«

Sorry schluckte. Sie verstand absolut, was Ben meinte. »Wahrscheinlich sind sie deshalb nie aus ihrem Dorf herausgekommen«, murmelte sie. »Weil sie wussten, dass die Welt sie nicht akzeptieren würde.«

Ben nickte. »Ich frage mich nur, warum meine Mutter mich einfach zurückgelassen hat, obwohl es mir dort viel besser gegangen wäre. Sie muss doch gewusst haben, was sich in Spirit’s End befindet.«

»Aber meintest du nicht, dass deine Mutter mit dir geflohen sei und Mal hätte sie aufgehalten?«

Ben zupfte an seiner Jacke. »Ja, aber trotzdem. Sie hätte dann eben nicht alleine weiter fliehen dürfen. Welche Mutter tut so etwas?«

Sorry spürte einen Stich in ihrem Herzen. Und welcher Vater, fragte sie sich in Gedanken. Die Situation war für Ben allerdings noch viel schlimmer als für sie selbst. Sie hatte eine Schwester, eine Mutter, eine Familie gehabt. Ben war mit Mal alleine gewesen.

»Das werden wir herausfinden«, sagte sie. Doch gleichzeitig fragte sie sich, ob sie ihren Vater und Bens Mutter überhaupt treffen wollte.

Thea und Magnus waren sehr erstaunt, als die fünf sie nach ihrer Fahrt nach Chamow Mills fragten.

»Ja, mein Vater holt mich und Thea ab, nach seiner Rundreise mit dem Campingwagen«, erklärte Magnus. »Er war bei der Einschulung nicht dabei und wollte unbedingt einmal Horror’s Cope sehen. Echte Wahrsager und so. Ich bin wirklich froh, dass dieses Reiseverbot aufgehoben wurde, er war schon ganz traurig deswegen. Wieso fragt ihr?«

Sie hatten sich darauf geeinigt, den beiden nicht mehr zu erzählen als nötig. Einen guten Grund brauchten sie natürlich trotzdem.

»Wir würden gerne mitkommen«, sagte Polar, ohne lange um den heißen Brei herumzureden.

Thea runzelte die Stirn. »Nach Chamow Mills? Warum? Da ist es so spannend wie zweimal aufgebrühte Teeblätter!«

Magnus sah sie verwirrt an. »Hä?«

»Der Tee schmeckt dann nach nichts«, erklärte Estrella. »Er ist langweilig.«

»Ohhh!«

»Wir wollen auch gar nicht nach Chamow Mills direkt«, erklärte Ben. »Wir haben gehört, dass man in der Nähe campen kann, bei einem Waldstück.«

Das hatten sie recherchiert und Magnus nickte sogar. »Das ist richtig. Meine Familie und ich waren früher öfter dort im Sommer. Aber der Wald ist wirklich gruselig. Da darf man nicht reingehen, weil es so gefährlich ist, heißt es. Es gibt wilde Tiere, die Bäume sind morsch und können abbrechen und der Boden ist sehr uneben und so.«

Das musste ein Gerücht sein, was die Nekromanten gestreut hatten, um unentdeckt zu bleiben.

Missys Augen glänzten. »Ja, ich habe gehört, da sollen noch so alte Wege sein, die verwittert sind«, schwärmte sie und blinzelte Sorry, Ben und Estrella verschwörerisch zu, bevor sie ihre Geschichte weiterspann. »Wer davon abkommt, kommt nie wieder raus. Angeblich sollen die Geister der Verschwundenen noch dort herumspuken und denjenigen auflauern, die sich im Wald verirren.«

Thea und Magnus starrten sie mit großen Augen an. »Davon habe ich noch nie gehört«, stammelte Magnus.

Missy zuckte mit den Schultern. »Ist bestimmt nur eine Legende. Wäre trotzdem spannend.«

»Und ihr wollt da zusammen zelten?«, fragte Thea und musterte besonders Estrella sehr skeptisch. Die Sterndeuterin mit dem feinen weißen Kleid und den schicken Schuhen machte wirklich nicht den Eindruck, als würde sie auch nur zehn Minuten freiwillig in der Natur verbringen. Was stimmte, denn Estrella hatte es bereits bei dem Gedanken ans Zelten geschüttelt. Dementsprechend wenig enthusiastisch klang sie jetzt, als sie meinte: »Ja, das wäre sicher eine spannende Unternehmung, oder?« Sie schielte zu Polar, der stolz nickte.

»War meine Idee. So ein bisschen Natur mit meinem Schwesterchen, das ich lange nicht gesehen habe. Bevor es zu kalt dafür wird.«

»Meine Mutter und Missys Eltern haben es auch schon erlaubt«, fügte Sorry schnell hinzu, bevor Thea und Magnus danach fragen konnten. »Aber es wäre so viel zu organisieren, wenn sie uns hinbringen, und da dachten wir, wir fragen einfach, ob ihr uns mitnehmen könnt.«

Magnus nickte verständnisvoll. »Gute Idee. Der Campingwagen von meinem Vater ist ja richtig groß, da passt ihr alle rein. Ich werde ihn fragen, das geht sicher.«

»Das wird lustig!«, sagte Thea. »Vielleicht können wir ja sogar zum Camping mitkommen.«

Sorry tauschte einen Blick mit den anderen. Mist, wie sollten sie sie davon abhalten, ohne unhöflich zu wirken?

»Super Idee!«, rief Missy. »Wir können eine Nachtwanderung durch den Spukwald machen. Vielleicht finden wir sogar einen Geist. Oder das Skelett von einem Wanderer. Das wäre so cool.«

»Ja, vielleicht übernachten wir sogar eine Nacht unter freiem Himmel in dem Wald«, setzte Polar noch einen drauf.

Magnus und Thea schluckten. »Äh, vielleicht kommen wir lieber ein andermal mit«, beeilte Thea sich zu sagen und Magnus nickte zustimmend.

Tatsächlich teilte Magnus Sorry schon am nächsten Tag vor dem Unterricht mit, dass sein Vater zugestimmt hatte. Sogar voller Freude, da er es aufregend fand, noch weitere junge Wahrsager kennenzulernen. Allerdings wollte er sich vorher telefonisch bei Euphoria melden, um alles abzuklären. Das war logisch, immerhin würde ein Erwachsener niemals die Kinder von jemand anderem mitnehmen, ohne vorher mit den Eltern gesprochen zu haben. Allerdings stellte sie das vor ein ziemlich großes neues Problem: Nun mussten sie verhindern, dass Euphoria diesen Anruf entgegennahm, und dafür sorgen, dass Magnus’ Vater trotzdem dachte, er hätte mit ihr gesprochen. Und zusätzlich durfte Cassiopeia von alldem nichts mitbekommen.

»Wenn ich meine Kristallkugel noch hätte, könnte ich voraussehen, wann dieser Anruf kommt, und wir könnten ihn irgendwie abfangen«, stöhnte Sorry, als sie sich auf den Weg zur ersten Stunde machten.

Auf Polars Gesicht trat ein verwegenes Grinsen. »Gut, dass du es erwähnst. Ich habe da so eine Idee.«

Sorry sah ihn fragend an. »Was meinst du?«

Polar schaute sich um und winkte sie dann in einen Seitengang der Akademie, während er Estrella und Ben bedeutete weiterzugehen. Es würde nicht lange dauern.

Sorry kannte den Seitengang. Es war der, in dem das Gemälde von Wolf dem Opferer hing. In ihrer ersten Woche an der Akademie hatte sie sich hierher verirrt und Missy getroffen. Ein Gang, an dem kaum jemand vorbeikam oder hineinging, weil er in einer Sackgasse endete.

Sie blickte Polar erwartungsvoll an. »Also?«

Polar öffnete seine Tasche und holte ein Seidentuch hervor. Er schlug es zurück und offenbarte eine knallgelbe Kristallkugel. Schon auf den ersten Blick erkannte Sorry, dass sie nicht so fein gearbeitet war wie ihre eigene rosafarbene Kugel. Sie war nicht perfekt rund, sondern noch seltsam kantig, als sei sie einmal viereckig gewesen. Einige Stellen waren so grob abgeschliffen, dass das Glas dort matt war und das Licht sich nicht gut darin brach. Überhaupt war komplett auf Verzierungen verzichtet worden, wie beispielsweise auf die kleinen Metalläderchen, die Crystals Kugel durchzogen.

Sorry starrte die Kugel an. »Woher hast du die?«

»Selbst gemacht, in Wahrsagegegenstandskunde.« Das erklärte den seltsamen Zustand der Kugel.

»Und was soll ich damit?«

Polar reichte sie ihr. »Sie für deine Vorhersagen benutzen.«

Sorry starrte ihn an, als hätte er gerade verkündet, dass Orbis Astra zum Familienoberhaupt der Sterndeuter gewählt worden war. »Ich soll dieses halbfertige Ding benutzen? Das funktioniert doch nie im Leben.«

Polar setzte eine gekränkte Miene auf. »Auch wenn mich deine Worte sehr verletzen, weiß ich, dass mir keine glorreiche Zukunft als Kristallkugelbauer bevorsteht. Dennoch solltest du wissen, dass nicht die Kugelform entscheidend ist, sondern die reflektierende Fläche. Diese ist ja vorhanden, wie du siehst. Und: Diese Kugel ist nicht nur besser als nichts – ich versichere dir sogar, dass sie funktioniert. Ich habe sie nämlich selber getestet. Und wie du weißt, habe ich wirklich keine Übung im Kristallkugellesen. Also sollte es für dich überhaupt kein Problem darstellen, darin etwas zu sehen. Stimmt’s?«

Er hielt Sorry die gelbe Kugel auffordernd hin. Sie musste zugeben, dass etwas dran war an dem, was er sagte. Also seufzte sie und nahm die Kugel entgegen. An einigen Stellen war sie noch so scharfkantig, dass Sorry aufpassen musste, dass sie sich nicht schnitt. Dennoch: Polar hatte recht, die Kristallwirkung schien zu funktionieren. Sicher würde es komplizierter werden, sich auf eine Vorhersage zu konzentrieren und sie klar zu erkennen, als bei einer perfekt glatten Kugel. Aber es sollte klappen. »Danke!«, sagte sie, während sie die Kugel vorsichtig in ihrer Tasche verstaute. Dann rannten die beiden zu ihren Unterrichtsräumen, um nicht auch noch durch Zuspätkommen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Da Magnus’ Vater angekündigt hatte, Euphoria im Schulleiterbüro anzurufen, konnte dies jeden Moment passieren. Sorry wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte.

Also entschuldigte sie sich, kaum dass der Unterricht von Madame Demain angefangen hatte, damit, dringend aufs Klo zu müssen.

Auf der Toilette schloss sie die Kabinentür ab und setzte sich im Schneidersitz auf den Klodeckel, bevor sie sich Polars Kugel auf den Schoß legte.

Sie konzentrierte sich auf das Büro ihrer Mutter und den Anruf von Magnus’ Vater. Hoffentlich hatte Polar nicht übertrieben und die Kugel funktionierte wirklich!

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Tatsächlich bekam Sorry es zuerst gar nicht mit, als die Vision in der Kugel erschien, da die Oberfläche so ungleichmäßig war. Aber schließlich bildeten die Schemen unmissverständlich das Büro ihrer Mutter ab. Einige Ecken konnte Sorry durch die matten Stellen der Kugel nicht richtig erkennen und manchmal doppelte sich die Darstellung. Trotzdem: Da waren der Schreibtisch und darauf das Telefon. Niemand befand sich in dem Raum. Vielleicht geschah der Anruf in einem Moment, in dem Euphoria bereits Feierabend hatte? Vielleicht war sie in einer Konferenz. Oder vielleicht war sie auch wieder auf einem schicken Date mit Cassiopeia, wo sie sich küssten. Das konnte Sorry eigentlich nur recht sein, denn dann würde auch die Sterndeuterin nichts davon mitbekommen.

Sorry besann sich auf das, was sie im Unterricht gelernt hatte: auf Details zu achten. Wenn sie wissen wollte, wann das Telefon klingelte, musste sie nach Angaben dazu suchen. Tatsächlich entdeckte sie die Uhr, die an Euphorias Wand hing, genau wie einen Kalender, der den Tag anzeigte. Heute. Also würde der Anruf bald kommen.

Gerade, als sie das dachte, klingelte bereits das Telefon. Das musste Magnus’ Vater sein! Sie schielte zu der Uhr – und sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. In nicht einmal fünfzehn Minuten würde der Anruf erfolgen. So ein Mist! Sorry versuchte, sich zu beruhigen. Das Gute war, dass Euphoria den Anruf nicht entgegennehmen würde. Das Schlechte: Magnus’ Vater würde es garantiert wieder versuchen. Und das musste sie verhindern – indem sie die Zukunft veränderte. Jemand musste ans Telefon gehen und sich als ihre Mutter ausgeben. Sorry wusste, dass sie das nicht selber tun konnte. Mr Divine würde sofort merken, dass er mit einer Zwölfjährigen sprach. Aber zum Glück fiel Sorry die perfekte Person ein, die erwachsen genug klang, um sich als ihre Mutter auszugeben, und die sich außerdem Zugang zum verschlossenen Schulleiterbüro verschaffen konnte.

Schnell packte sie die Kristallkugel in ihre Tasche, verließ die Toilette und rannte die Gänge entlang bis zum Unterrichtsraum für Geschichte der Wahrsagerei. Vorsichtig klopfte sie an und öffnete die Tür. Mr Relic und fünfzehn Schülerinnen und Schüler aus dem vierten Jahr starrten sie an. Mittendrin Merry und Polar, die sie verwundert musterten.

»Miss Fortune, was gibt es denn?«, fragte der Lehrer.

»Verzeihen Sie«, sagte Sorry. »Ich müsste einmal ganz dringend mit meiner Schwester sprechen. Es ist wichtig.«

Mr Relic warf Merry einen fragenden Blick zu, die natürlich ebenfalls verwirrt aussah.

»Es dauert nicht lange«, versuchte Sorry die Sache zu beschleunigen, immerhin zählte jetzt jede Sekunde. Mr Relic nickte in Merrys Richtung. Diese erhob sich und humpelte mit ihren Krücken zu Sorry hinaus.

Merry war außer sich, als Sorry ihr hastig ihren Plan erklärte. »Du willst, dass ich mich als Mama ausgebe, damit ihr unbemerkt verreisen könnt? Um den gefährlichsten Wahrsager der Welt zu stoppen und nach Spirit’s End zu reisen? Und dafür holst du mich aus dem Unterricht?«

Natürlich war es ein Risiko, Merry einzuweihen. Aber spätestens für ihre Abreise hätte Sorry ihr sowieso alles erzählen und sie darum bitten müssen, sie gegenüber Euphoria zu decken.

»Du hast doch gesagt, dass du mich unterstützen würdest, wenn ich nach Papa suchen will. Also – jetzt bitte ich dich um deine Unterstützung.«

Merry stöhnte, als sie sich an ihr Versprechen erinnerte. »So habe ich das damals aber nicht gemeint.« Sie rieb sich die Augen hinter ihrer Brille und holte dann tief Luft. »Was muss ich tun?«

Sorry führte sie bis zum Schulleiterbüro. Da Merry Schulsprecherin war, besaß sie einen eigenen Schlüssel dafür. »Wenn jemand rausfindet, dass ich den Schlüssel dafür verwende, bin ich echt geliefert«, zischte sie, huschte dann aber doch hinein, während Sorry vor dem Zimmer Schmiere stand.

Tatsächlich hörte sie kurze Zeit später das Telefonklingeln aus dem Zimmer hinter sich und Merry nahm ab. Hätte Sorry nicht gewusst, dass es ihre Schwester war, so hätte sie sie für ihre Mutter gehalten. Merrys Stimme war der von Euphoria sehr ähnlich und nun, da sie auch ihren Tonfall und ihre Sprechweise imitierte, klang es beinahe identisch. Sie begrüßte Mr Divine überschwänglich und bedankte sich für seine Bereitschaft, die Kinder mitzunehmen. Sorry hatte ihrer Schwester genau vorgegeben, was sie sagen sollte. Ihr Herz klopfte immer schneller. Hoffentlich erwischte sie niemand. Sie hörte Merry lachen und ein paar Dinge über die Akademie Fortuna erzählen. Außerdem lobte sie die Leistungen von Magnus, blieb dabei aber so vage, dass Mr Divine sich nicht würde darauf berufen können. Merry setzte mehrfach an, wieder zu dem organisatorischen Teil zurückzukehren, doch offenbar redete Mr Divine so gerne wie sein Sohn und fand einfach kein Ende. Das dauerte viel zu lange! Jede Sekunde fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Sorry musste etwas tun, um das Ganze zu beschleunigen! Also sah sie sich noch einmal um, klopfte dann laut an die Tür und steckte den Kopf in den Raum.

»Frau Schulleiterin, haben Sie einen Moment Zeit?«, rief sie.

Merry zuckte kurz zusammen und starrte sie erschrocken an. Doch dann verstand sie den Wink. »Mr Divine, es tut mir furchtbar leid, aber ich muss Sie leider abwürgen. Ja, genau, die lästige Arbeit, haha. Also, wann wollen Sie die Kinder abholen? Um zehn Uhr am ersten Montag der Ferien, vorm Schultor? Wunderbar, sie werden da sein. Auf Wiederhören.« Schnell legte Merry den Hörer auf.

»Du schuldest mir was!«, zischte sie, als sie an Sorry vorbei aus der Tür huschte und sich auf den Weg zurück zu ihrem Unterricht machte. Sorry rief ihr ein »Danke« hinterher und wollte die Tür schon schließen, hielt aber inne. Ihr Blick blieb am Schreibtisch hängen. Die Kristallkugel war zum Greifen nah. Mit Merrys Hilfe konnte sie das Schloss bestimmt öffnen. Sollte sie sie einfach mitnehmen? Aber wenn ihre Mutter bemerkte, dass die Kristallkugel weg war, würde das womöglich ihren ganzen Plan gefährden. Nein. Das war zu riskant! Euphoria durfte nichts von ihrem Vorhaben mitbekommen, auch, weil sie es sonst Cassiopeia erzählen würde. Mit schwerem Herz schloss Sorry die Tür.

Schnell eilte sie den Gang hinunter. Von Merry war schon nichts mehr zu sehen. Sorry bog um die Ecke – und wäre beinahe mit Ms Vela zusammengekracht, die sich ebenfalls gerade noch fangen konnte.

»Oh, so ein Unglück, entschuldige bitte!«, rief die Dolmetscherin. »Ich habe mich auf dem Weg zur Toilette verlaufen, das ist aber auch groß hier. Und es gibt so viel zu sehen, die ganzen Gemälde.«

Sorry atmete erleichtert auf. Sie hatte befürchtet, dass ein Lehrer sie erwischen würde. Aber Ms Vela war keine Lehrerin – es konnte ihr also egal sein, ob jemand schwänzte, und sie würde somit auch niemanden verpfeifen. Außerdem wusste sie ja nicht, woher Sorry gerade kam. »Das verstehe ich.« Sorry lächelte die Dolmetscherin freundlich an. »Lassen Sie uns doch zusammen in die Klasse zurückgehen.«

Ms Vela nickte erfreut, und sie liefen gemeinsam zurück in den Unterricht.

Der schlimmste Teil war erledigt. Der erste Montag der Herbstferien war in zehn Tagen. Jetzt mussten sie nur noch alles für ihre Reise vorbereiten. Und wenn es gut lief, würde Bens Vorhersage eintreffen und Sorry tatsächlich in Kürze ihren Vater wiedersehen. Das war der vielleicht angsteinflößendste Teil an ihrem Plan.