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Als Sorry mit Ben am Montag die Akademie Fortuna betrat, hatte sie das Gefühl, dass alle sie anstarrten. Zwei Schülerinnen, die an der Treppe miteinander gesprochen hatten, verstummten und musterten Ben, bevor sie wieder die Köpfe zum Tuscheln zusammensteckten.

Ein Junge rannte beinahe in eine Tür, weil er sich zu ihnen umdrehte.

»Ich dachte, die Familienoberhäupter wollten die Sache für sich behalten«, zischte Ben Sorry zu und schlang seinen grauen Schal enger um sich.

Anscheinend hatten die Familienoberhäupter ihr Vorhaben aber nicht in die Tat umgesetzt. Zumindest der Teil mit Bens Herkunft schien in den Familien durchgesickert zu sein. Anders konnte Sorry sich die Blicke nicht erklären.

Auch ihre Klassenkameraden betrachteten die beiden skeptisch, als sie vor dem Klassenraum für Geschichte der Wahrsagerei ankamen. Waxine und Phil tauschten vielsagende Blicke und wandten sich dann schnell ab.

Sorry sah zu Estrella, die mit Chiara an der Wand lehnte und ziemlich nervös wirkte. Niemand schenkte der Sterndeuterin besondere Beachtung. Offenbar hatten die Familienoberhäupter zumindest Wort gehalten, was die Sache mit Mal und Taurus anging. Sorry atmete erleichtert auf. Estrella verdiente es nicht, schon wieder von der Klasse ausgeschlossen zu werden, jetzt, wo sich die Wogen gerade glätteten.

Crystal kam auf sie zu. »Und, hast du dich schon gut eingelebt?«, fragte sie Ben.

Er lächelte. »Ja, es ist wirklich was anderes als das Wohnheim.«

Wie immer verzog Crystal keine Miene. »Ja, und es wirklich sehr angenehm, jetzt ein leeres Zimmer neben mir zu haben und nachts nicht mehr durch dein Schnarchen geweckt zu werden.«

Ben wurde blass. »Ich schnarche nicht!«

Crystal hob nur die Augenbrauen. »Na, wenn du das sagst.«

Sorry musste ein Grinsen unterdrücken. Im Wohnheim waren Crystal und Ben Nachbarn gewesen, wenn auch nur für wenige Wochen. Trotzdem hatten sie sich gut verstanden. Auch wenn Crystals Gesichtsausdruck schwer zu deuten war, war Sorry klar, dass sie Ben bereits vermisste.

Sorry drehte sich um. »Wo stecken denn die Zwillinge?« Sie konnte ihre Freunde Arkana und Baton Pentacle nirgendwo entdecken, was absolut untypisch war. Die Tarotkartenleger fehlten nie. Crystal zuckte ratlos mit den Schultern.

In dem Moment entdeckten sie eine Gruppe von fünf Personen, die den Gang entlang- und auf sie zukam. Unter ihnen befanden sich nicht nur Mr Relic, ihr Lehrer für Geschichte der Wahrsagerei, sondern auch Arkana und Baton, die einen ziemlich zufriedenen Eindruck machten. Ein Mann und eine Frau folgten ihnen und unterhielten sich mit dem Lehrer. Der Mann hatte dunkle, buschige Augenbrauen, was ihm eine finstere Miene verlieh, und sah sich aufmerksam um, als wollte er jedes Detail einsaugen. Die Frau hatte das längste Haar, das Sorry jemals gesehen hatte, es schwang wie ein Vorhang um ihren Oberkörper. Sie hing an Mr Relics Lippen und lächelte fröhlich, als sei heute der spannendste Tag ihres Lebens. Sorry kannte die beiden zwar nicht, aber sie war sich sehr sicher, dass sie keine Wahrsager waren. Ihr Gang, die Art, wie sie sich umsahen, ihre Haltung, ja sogar ihre Kleidung verrieten, dass sie nicht hierhergehörten.

Sorry warf Arkana einen fragenden Blick zu, doch die lächelte einfach nur noch ein wenig geheimnisvoller. Mr Relic schloss die Tür auf und scheuchte alle in den Raum.

Zum Glück mussten sie nicht lange auf eine Erklärung warten. Die beiden Unbekannten blieben vorne neben dem Lehrer stehen, während alle anderen sich setzten.

»Ich möchte Ihnen gerne Mr Mir Hari und Ms Gretha Vela vorstellen«, erklärte Mr Relic. »Sie sind Gebärdendolmetscher und werden ab heute Arkana Pentacle begleiten.«

Alle Köpfe drehten sich zu Arkana, die nahe der Tür saß. Sorry lächelte. Arkana hatte es also wirklich geschafft und bekam nun die Unterstützung, die ihr zustand!

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»Wir sind sehr geehrt, hier arbeiten zu dürfen, obwohl wir selbst Nichtseher sind«, sagte Ms Vela, und Mr Hari nickte zustimmend. »Wir haben uns bereits in die Materie der Wahrsagerei eingearbeitet, um zuverlässig unsere Aufgabe erledigen zu können.«

Das war ein großer Punkt gewesen, warum die Familienoberhäupter sich bisher schwer damit getan hatten, passende Dolmetscher für die gehörlose Arkana zu finden: Sie wollten am liebsten Wahrsager dafür haben, um bloß keine Nichtseher in die heiligen Hallen der Akademie Fortuna zu lassen. Doch nun hatte man wohl eingesehen, dass Arkanas Wohlbefinden wichtiger war als der eigene Stolz. Richtig so, fand Sorry. Immerhin gab es mit Herrn Meier auch einen nicht sehenden Lehrer an der Schule, warum dann also nicht auch nicht sehende Dolmetscher?

Die beiden blieben vorne bei Mr Relic, wobei Ms Vela sich zunächst in eine Ecke setzte und Mr Hari Arkana das Gesagte übersetzte. Im Laufe der Stunde würden sie sich abwechseln.

Mr Relic blätterte in seinem Buch und hielt es hoch. »Gut, schlagen Sie bitte Ihre Bücher auf Seite 216 auf.« Sorry schob ihr Buch in die Mitte des Tisches, sodass sie und Ben gemeinsam hineinblicken konnten.

Mr Relic schien Ben erst jetzt zu bemerken. »Oh, wie schön, dass Sie wieder zurück sind, Mr Dulum.« Er stockte. »Oder, äh, Mr Chievous?«

Schlagartig wurde es still. Thea ließ klappernd einen kleinen Teelöffel fallen, mit dem sie gespielt hatte, und Rune hatte mitten in der Bewegung aufgehört, seine Seite im Buch umzublättern. Alle Köpfe hatten sich zu Ben umgedreht, der kalkweiß im Gesicht geworden war.

Sorry sah, wie er zitterte. »Dulum«, presste er mit stockender Stimme hervor. »Ich heiße Dulum.«

Mr Relic war wohl selbst bewusst geworden, was er da gesagt hatte, denn seine Ohren waren rot angelaufen. »Oh ja, natürlich!« Er lächelte nervös und räusperte sich. »Mein Fehler. Dann, äh … wie gesagt, Seite 216.« Er drehte sich zur Tafel um und begann eilig, etwas anzuschreiben, wohl, um bloß nicht wieder in die Gesichter der Klasse blicken zu müssen.

Alle wandten sich wieder ihren Büchern zu, doch Sorry merkte, dass einige ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler gelegentlich aufsahen und Ben musterten. Der blätterte mit gesenktem Kopf Seite für Seite um, bis er auf der gewünschten ankam und innehielt. Er starrte die Seite fassungslos an und hielt sie so fest umklammert, dass Sorry befürchtete, das Papier würde zerreißen. »Ausgerechnet dieses Thema«, murmelte sie.

Oben auf der Seite stand: »Die Schreckensherrschaft der Nekromanten und der Niedergang der Familie Chievous«. Überall waren Zeichnungen und Bilder zu sehen, wie Nekromanten in Schwarz und Gold sich über Nichtseher erhoben und sie einsperrten. Es gab Zeitungsberichte, die über das »Grauen der Chievous« und die sogenannte Geisternacht berichteten, als die Nekromanten die Macht an sich gerissen hatten. Ganz unten auf der Seite prangte ein Bild, das die Verbrennung sämtlicher Nekromantiewerkzeuge zeigte und Menschen, die das Verschwinden der Nekromanten feierten.

Sorry wurde bewusst, dass Ben dieses Stigma wohl nie loswerden würde. Erst recht nicht jetzt, wo alle seine Herkunft kannten.

Kaum hatte die Klingel das Ende der Unterrichtstunde verkündet, sprang Ben auf und rannte aus dem Raum.

»Ben, warte!«, rief Sorry, packte ihre Sachen schnell zusammen und lief ihm nach. »Nimm dir das nicht so zu Herzen«, sagte sie, als sie ihn auf dem Gang einholte.

Ben fuhr zu ihr herum, in seinen Augen glänzten Tränen. »Natürlich tue ich das. Wie könnte ich auch nicht, wenn mich alle anstarren?« Er warf Thea und Magnus einen bösen Blick zu, die gerade tuschelnd aus dem Klassenzimmer gekommen und mitten im Satz verstummt waren. Ertappt drehten sie sich um und marschierten in die andere Richtung davon, wobei sie laut über ihre Pläne in den nahenden Herbstferien sprachen.

Die Zwillinge und Crystal schlossen zu ihnen auf. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Baton. Ben versuchte sich an einem halbherzigen Lächeln, das Baton zu genügen schien.

Der Tarotkartenleser beugte sich neugierig vor. »Habt ihr schon was Neues herausgefunden, wegen …« Arkana boxte ihn so rabiat in die Seite, dass Baton zusammenzuckte. »Aua, was soll das?« Arkana deutete kaum merklich zu ihren Dolmetschern, die gerade das Klassenzimmer verließen. Die Geste war eindeutig: Die beiden durften nichts davon mitbekommen, was die Kinder über Taurus Astra und Mal Chievous wussten. Natürlich war es sehr unwahrscheinlich, dass sie weitererzählten, was sie aufschnappten, oder dass sie überhaupt etwas damit anfangen konnten. Aber sicher war sicher!

Baton nickte ein wenig zerknirscht und zog zwei Tarotkarten heraus: den Teufel und den Gehängten. Die Zwillinge hatten damit begonnen, verschiedenen Menschen Tarotkarten zuzuordnen, wie bei einer Geheimsprache. Der Eremit stand für Ben, der Stern für Estrella und die Gerechtigkeit für Sorry. Der Teufel und der Gehängte waren Taurus und Mal.

Sorry schüttelte den Kopf. Was sie mit Euphoria besprochen hatten, wussten die drei Freunde bereits.

Arkana seufzte, schielte wieder zu den Dolmetschern, die sie wohl nervös machten, und gebärdete dann etwas an ihren Bruder. »Wir gehen schon mal zu Madame Demain«, sagte der. »Bis gleich.«

Sorry hätte erwartet, dass Crystal ihnen folgen würde, doch die Kristallleserin blieb bei ihnen stehen. Sie wirkte merkwürdig angespannt, und das wollte bei Crystal etwas heißen. »Ich wollte euch noch was sagen«, murmelte sie schließlich und spielte nervös an ihrem Ring, der aussah wie eine Kristallkugel.

»Was denn?«, wollte Ben erstaunt wissen.

Crystal sah auf. »Na ja, ich bin froh, dass du wieder da bist. Aber diese ganze Sache mit den Nekromanten und Taurus Astra ist mir ein wenig zu gefährlich. Wenn ihr da weiter nach Hinweisen suchen wollt, bitte schön, aber ich bin raus.«

Das verblüffte Sorry, und Ben schien es ähnlich zu gehen. Nicht, dass Crystal nicht mehr mitmachen wollte, sondern, dass sie es so offen ansprach. Anscheinend hatte sie lange darüber nachgedacht.

»Natürlich«, sagte Sorry. »Wir würden nie erwarten, dass du dich in Gefahr bringst.«

»Außerdem haben wir ebenfalls beschlossen, die Sache den Erwachsenen zu überlassen«, fügte Ben hinzu.

Das schien Crystal zu erleichtern. Sofort hörte sie auf, mit ihrem Ring zu spielen, nickte und lief den Zwillingen nach.

Sorry und Ben warfen sich einen ungläubigen Blick zu, dann machten sie sich ebenfalls auf zu Madame Demains Klassenraum.

Als sie um die nächste Ecke bogen, versperrte Estrella ihnen plötzlich den Weg. Ben und Sorry wären beinahe in sie hineingelaufen, aber Estrella schien das gar nicht zu bemerken und begann bereits zu reden: »Ich habe eine Liste erstellt von Orten, an die mein Vater sich zurückgezogen haben könnte und wo er Kontakte und Freunde hat«, sagte sie und holte einen Zettel hervor, der mit silbernen Glitzersternen bedruckt war. »Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er sich dort seine Verbündeten sucht. Vielleicht kannst du in deiner Kristallkugel danach suchen.« Ohne auf ihre Reaktion zu warten, drückte Estrella Sorry die Liste in die Hand. Dann zog sie eine zweite Liste hervor. »Und ich habe aufgeschrieben, welche Kinder eventuell die Prophezeiung erfüllen könnten.«

Sorry starrte sie an. »Aber meine Mutter hat uns doch verboten, uns einzumischen.«

Estrella lachte auf. »Und du willst dich daran halten? Ausgerechnet du, Sorry Fortune?«

Sorry zögerte und sah zu Ben. »Na ja, es könnte gefährlich werden.«

Ben nickte, nahm Sorry den Zettel aus der Hand und hielt ihn Estrella hin. »Die Listen solltest du vielleicht lieber der Schulleiterin geben. Cassiopeia und ihre Wahrsager suchen nach Taurus und Mal.«

Estrella fiel die Kinnlade herunter. »Ihr habt das gerade ernst gemeint, was ihr zu Crystal gesagt habt.« Sie schüttelte den Kopf. »Wow! Wann genau seid ihr solche Feiglinge geworden?« Sie schnappte sich den Zettel und funkelte die beiden wütend über den Rand ihrer Brille an. »Ich kenne meinen Vater und ich weiß, dass er jeden Schritt voraussehen wird, den die Familienoberhäupter planen. Sie werden ihn niemals finden. Und wenn es stimmt, dass er bereits weiß, wie man Spirit’s End finden kann, sollten wir alles daransetzen, vor ihm dort zu sein, bevor er das zu seinem Vorteil nutzen kann.« Sie gestikulierte mit dem Zettel wütend in Bens Richtung. »Und du solltest am besten wissen, wozu DEIN Vater in der Lage ist, erst recht, wenn er zu einem Nekromanten wird. Ich werde jedenfalls nicht untätig abwarten, bis die beiden zuschlagen.«

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Bens Augen huschten nervös umher. »Aber wir wissen doch noch gar nicht, ob dein Vater meinem wirklich Wahrsagekräfte verleihen kann. Vielleicht hat er das nur gesagt, um Mal zu überzeugen.«

»Oh, glaub mir. Er kann es!« Die Schärfe, die in Estrellas Worten mitschwang, ließ Sorry vermuten, dass die Sterndeuterin mehr wusste, als sie ihnen erzählen wollte.

»Und selbst, wenn das nicht so wäre«, Estrella beugte sich näher zu ihnen. »Falls eure Eltern wirklich noch leben, haben sie sicher ziemlich viel aufs Spiel gesetzt, um zu diesem Spirit’s End zu kommen und unentdeckt zu bleiben. Und so gut, wie dein Vater diese Prophezeiung verschlüsselt hat, wird sie ganz sicher wichtig sein. Auch deshalb sollten wir herausfinden, wer damit gemeint ist. Immerhin heißt es: Vier Kinder werden die Welt retten, nicht: Vier Familienoberhäupter. Also tut gefälligst was!«

Dann drehte Estrella sich um und marschierte so energisch davon, dass ihre Teleskopohrringe und die weißen Haare wild hin und her schwangen.

Sorry wusste, dass Estrellas Aufforderung nicht nur den Nachforschungen bezüglich Spirit’s End galt. Die Sterndeuterin war davon überzeugt, dass Sorry ein Teil der Prophezeiung war, und hielt es deshalb für Sorrys Pflicht, etwas zu unternehmen. Noch einmal sah Sorry verunsichert zu Ben, doch seine Miene blieb entschlossen. Nein. Sie würden erst mal keine weiteren Schritte unternehmen, so, wie sie es besprochen hatten.