M
eine Gedanken driften von einem weit entfernten Ort zu mir zurück. Mir ist unangenehm warm am ganzen Körper, ich schwitze. Mein Magen kribbelt und meine Muskeln schmerzen. Ich stöhne.
Was zum Teufel ist passiert?
Mein benebelter Verstand kämpft damit, sich an meine letzten wachen Momente zu erinnern, aber als ich spüre, wie Sayah in mir vor Sorge zusammenzuckt, rücken die Erinnerungen in den Fokus. Murray, der mich gegen seine Schulden eingetauscht hat. Die Kugel. Und diese Stimme in meinem Kopf. Der Kapuzenmann, der mich rausgezerrt hat und mich dann irgendwie mit einem schnellen Fingerschnipsen betäubt hat...
Ich wurde gekidnappt.
Panik ergreift mich und ich setze mich auf. Wo bin ich denn jetzt? Schnell schaue ich mich um und was ich sehe verblüfft mich. Ich liege in einem Bett, umgeben von üppigen Kissen und einer Decke in Königsblau und Gold. Mir gegenüber ist ein lodernder Kamin. Kein Wunder, dass ich schwitze.
Mein Blick schweift weiter durch den Raum. Da steht ein Bücherregal, ein uriger kleiner Stuhl und Tisch, und eine Kommode. Alles sieht teuer und alt aus, als hätte der Designer eine seltsame Vorliebe für Charles-Dickens-Romane oder so gehabt. Viktorianischer Stil.
Bizarr. Aber wenigstens ist es keine Gefängniszelle oder der schmutzige Keller von jemandem.
Es gibt ein schönes, hohes Buntglasfenster, das den größten Teil der Wand zu meiner Rechten einnimmt. Durch ein paar klare Scheiben kann ich den grauen Himmel draußen sehen, der ein aufziehendes Gewitter vorhersagt.
Wie lange war ich bewusstlos?
Ich werfe einen Blick auf die Tür und frage mich, ob sie verschlossen ist. Ich schwinge meine Beine vom Bett und lande auf dem Holzboden. Sofort wirbeln mein Kopf und mein Magen in verschiedene Richtungen, und ich habe Angst, dass ich wieder zu Boden fallen könnte. Oder noch schlimmer, kotzen.
Was auch immer dieser gruselige weißhaarige Kerl mit mir gemacht hat, es hat mich wirklich durcheinander gebracht. Und das alles mit einem einfachen Fingerschnipsen. Ich habe noch nie von einer übernatürlichen Spezies gehört, die zu so etwas im Stande ist.
Ein Rest von roher Wut über das, was mein Pflegevater mir angetan hat, schwappt auch durch mich hindurch. Wenn ich dieses Arschloch jemals (wiedersehe, werde ich ihm genau sagen, was ich denke. Natürlich musste diese Scheiße genau an dem Tag passieren, an dem ich meine Freiheit erhalten sollte.
Während ich darauf warte, dass der Schwindelanfall vorübergeht, stelle ich fest, dass ich nicht mehr meine normalen Jeans und meinen Pullover trage. Jemand hat mich in ein seidiges Nachthemd gesteckt, das nur wenig der Fantasie überlässt. Sogar meine Schuhe und mein BH sind weg. Mein verwundetes Bein hat außerdem einen frischen Verband.
Der Gedanke, dass ein Fremder mich angefasst hat - vor allem der Kapuzenmann - lässt mich erschaudern. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so missbraucht gefühlt.
Ich muss von hier verschwinden. Ich suche den Raum noch einmal nach meinen Kleidern ab. Nichts.
„Sayah“, flüstere ich, und mein Schatten sickert auf Kommando aus mir heraus. Ich kann ihre Unruhe durch unsere Verbindung spüren. Sie macht sich Sorgen um mich - um uns - so seltsam das auch klingen mag. „Ist es sicher, durch diese Tür zu gehen?“
Sie versteht mich, huscht über den Boden und schlüpft unter der Tür durch, um nachzusehen. Während sie das tut, schleiche ich zum Fenster und schaue hinaus. Wo auch immer ich bin, es ist von sanften Hügeln und einem dichten Wald umgeben, was in Vermont nicht allzu ungewöhnlich ist. Viel mehr kann ich allerdings nicht sehen, außer einem Teil einer langen Steinauffahrt, die hinter weiteren Bäumen verschwindet.
Ich erinnere mich, dass der Kapuzenmann etwas darüber sagte, dass die „Lords“ mit dieser beschissenen Transaktion zufrieden seien, also bedeutet das, dass es mehr als eine Person gibt, auf die ich während meiner Flucht aufpassen muss. Aber es sind nirgends Autos geparkt, so weit ich auch sehen kann. Vielleicht habe ich Glück und man lässt mich in Ruhe?
Ja klar.
Ich und Glück haben? Dass ich nicht lache.
Ich fahre mit der Hand über das bunte Glas und stelle fest, dass es kein normales Fenster ist, das man aufschieben oder aufkurbeln kann. Es ist lediglich ein dekoratives Stück, was bedeutet, dass ich eine Scheibe einschlagen und mich herausquetschen müsste. Von der Höhe des Raumes her würde ich sagen, dass ich etwa drei Stockwerke hoch bin, also kommt ein Sprung nicht in Frage. Wenn ich meinen Rucksack und mein Seil hätte, könnte ich vielleicht den größten Teil des Weges herunterklettern und den Rest springen.
Oh, Scheiße! Mein Rucksack! Die Kugel! Ich hatte sie doch vor der Entführung noch.
Mein Puls beschleunigt sich. Wo sind meine Sachen? Hat sie jemand mitgenommen?
Ich will mich gerade bewegen, um die Kommode zu durchsuchen, als Sayah zurück ins Zimmer huscht, ihre Bewegungen sind ruckartig, als wäre sie erschrocken.
„Was ist los?“, frage ich eilig. Meine Beunruhigung wird schlimmer. Nicht viele Dinge können einen Schatten so aus der Ruhe bringen.
Ihr Kinn hebt sich, als würde sie auf die Tür schauen. Eine Warnung. Eine, die nicht früh genug kommt, denn die Tür öffnet sich und ein Mann tritt ein. Sayah taucht schnell wieder in mich ein und lässt mich von unserer erzwungenen Wiedervereinigung stolpern. Es ist wie ein Schlag auf die Brust.
Der Mann hält mitten im Schritt inne, und mir stockt der Atem. Ich bin sicher, er hat Sayah gesehen. Er muss sie gesehen haben, aber er sagt kein Wort. Er starrt mich nur mit Augen an, die einen hypnotisierenden Blauton haben, und mit einem finsteren Blick, der seine Brauen in Falten legt.
Zum ersten Mal sehe ich ihn an - sehe ihn wirklich an - und mein Herz schlägt aus einem anderen Grund schneller. Er sieht außerordentlich gut aus. Nein, er ist umwerfend
, mit dunklem Haar, das kurz geschnitten und aus dem Gesicht gegelt ist, einer markanten Nase, vollen Lippen und einer starken Kieferlinie, die leicht von Bartstoppeln umspielt wird. Er trägt ein mitternachtsblaues Hemd mit Kragen und eine dunkle Hose. Beides muss speziell für ihn angefertigt worden sein, und es trägt nur zu seiner insgesamt souveränen Präsenz bei.
Aber was mir am meisten auffällt sind seine Augen, von denen ich scheinbar nicht wegschauen kann. Neben ihrer intensiven Farbe kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass er schon viel gesehen hat, viele Geheimnisse und Macht besitzt. Es ist einschüchternd. Selbst als er so dasteht und kein Wort sagt, ertappe ich mich dabei, wie ich mich langsam zum Fenster zurückziehe.
Mein Hintern stößt gegen die Fensterbank und ich weiß, dass ich nirgendwo anders hin kann. Er hat sich nicht bewegt, aber er hat mich in eine Sackgasse gedrängt.
Sein Stirnrunzeln weicht einem Blick, der mehr gelangweilt wirkt als alles andere. „Es ist ein langer Weg nach unten“, sagt er. Seine Stimme ist so stählern und kultiviert wie sein Aussehen, mit einem tiefen Akzent, der sich um die Enden seiner Worte windet.
Ich zwinge mich, wegzuschauen, breche den Blickkontakt kurzzeitig ab.
Reiß dich zusammen, Aria. Hör auf zu glotzen.
Ich atme tief ein, in der Hoffnung, dass es reicht, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann zwinge ich meinen Tonfall zur Tapferkeit und stelle die einzige Frage, die mir in diesem Moment einfällt. „Wo sind meine Sachen? Meine Tasche?“
Er blinzelt, als wäre das das Letzte gewesen, was er von mir erwartet hätte.
Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich nur ein Nachthemd trage und kaum bekleidet bin und verschränke die Arme vor der Brust. „Meine Kleidung
“,
füge ich hinzu. Obwohl die Vorstellung, dass dieser Fremde mich umgezogen hat, ein ganz anderes Bild in meinem Kopf entstehen lässt als bei dem weißhaarigen Mann, der mich hierher gebracht hat.
„Alles, was du mitgebracht hast, wurde weggeräumt.“ Er gestikuliert in Richtung der Kommode. „Da drin.“
Ich schaue in die Richtung und höre sofort das vertraute Summen der Kugel in meinem Kopf. Leiser, jetzt wo sie irgendwo in den Schubladen vergraben ist, aber Erleichterung durchflutet mich bei dem Geräusch. Ich lobe mein Glück, dass sie niemand gefunden hat. Wenn ich hier rauskomme, dann kann ich sie immer noch auf dem Markt verkaufen und mein neues Leben mit Joseline beginnen. Wie wir es immer geplant hatten.
Plötzlich pirscht sich der gut aussehende Mann näher an mich heran, schließt den Abstand zwischen uns, und ich drücke mich mit dem Rücken gegen das Fenster. Das orangefarbene und rote Licht des Kamins tanzt über sein Gesicht, während er mich mit prüfendem Blick anstarrt, und mein Herzschlag galoppiert.
„Warum bist du hier?“, fordert er mehr, als dass er fragt.
„I-Ich-„, stottere ich, überrumpelt von seiner plötzlichen Nähe. Er ist jetzt so nah, dass ich sein maskulines Parfüm riechen kann.
Die Muskeln an seinen Schläfen zucken, als er seinen Kiefer zusammenpresst. „Und?“
In mir geht Sayah auf und ab, es gefällt ihr nicht, wie dieser Mann versucht, eine Antwort aus mir herauszupressen. Wut regt sich, und dieses Mal, als ich seinem Blick begegne, schwanke ich nicht.
Warum bin ich hier?
Was denkt er denn? Dass ich eine Wahl hatte?
„Warum sagst du es mir nicht?“
Er kräuselt die Lippen, offensichtlich ist er es nicht gewohnt, auf diese Weise angesprochen zu werden. „Mir wurde gesagt, dass Ramos dich im Austausch für die Schulden eines anderen hergebracht hat. Ein Hexenmeister.“
Ramos musste der weißhaarige Typ sein, der mich niedergeschlagen hatte.
„Wenn du meinst, dass ich entführt wurde, dann ja.“
„Ramos ist schon eine ganze Weile bei uns. Er mag zwar nur ein Dhampir sein, aber er hat besondere Fähigkeiten, die sich als nützlich erwiesen haben, wenn es darum geht, das Geld einzutreiben.“
Nur
ein Dhampir? Halb Mensch, halb Vampir, werden sie als Außenseiter betrachtet, die Folge dessen, was passiert, wenn die Blutaustauschzeremonie schief geht. Sie sind allerdings selten. Die meisten werden getötet, weil sie schrecklich sind. Ich bin schockiert, überhaupt einen getroffen zu haben.
Wie ihre Gegenstücke, die Vollvampire, sehnen sich Dhampire nach Blut, aber im Gegensatz zu Vollvampiren können sie in der Sonne laufen, ohne sich in einen Haufen Asche zu verwandeln. Mein Hals ist immer noch intakt und ich habe noch all mein Blut... warum hatte Ramos mich nicht gebissen? Stattdessen hat er mich mit seinen Fingern gekniffen und das hat irgendwie gereicht, um mich auszuschalten. Eine Art Druckpunkt-Voodoo oder ein Jedi-Gedankentrick?
Trotzdem bewegt sich mein geheimnisvoller Besucher nicht von mir weg; er studiert mich nur weiter mit einem durchdringenden Blick. Könnte er auch ein Dhampir sein? Ich bin mir nicht sicher... Alles an dem Mann vor mir ist anders. Kontrollierter. Stärker. Mehr von allem.
„Ramos sagte auch, dass du große Macht hast und uns nützlich sein könnten“, sagt er. „Dass du etwas Besonderes bist.“
„Er hat gelogen“, sage ich und halte mein Kinn hoch.
Seine Augenbrauen schießen in die Höhe. „Oh?“
Jetzt habe ich sein Interesse geweckt, aber ich bin mir nicht sicher, ob das etwas Gutes ist.
„Ja“, antworte ich. „Ich bin ein ganz normaler Mensch. Das habe ich deinem Dhampir-Freund auch gesagt.“ Wenn ich diese Fassade aufrechterhalten kann und ihn glauben lasse, dass ich nichts Besonderes bin, könnte er dem Verantwortlichen berichten, dass es keinen Grund gibt, mich hier zu behalten. Er könnte mich befreien und stattdessen Murray jagen.
„Eine Gewöhnliche.“ Er betont die Worte, als ob er es nicht glauben würde.
„Jep. Nichts Besonderes. Ganz schlicht.“
Langsam hebt sich sein Mundwinkel, amüsiert. „Schlicht sagst du also?“
Gibt es hier ein Echo?
Mein Inneres windet sich unter seinem Blick. Es ist, als ob er mein Geheimnis kennt, aber darauf wartet, dass ich einen Fehler mache und es selbst verrate. Als würde er ein Spiel mit mir spielen, das ich niemals gewinnen kann. Ich hasse es.
Vielleicht fordere ich mein Glück heraus, aber ich muss es versuchen. „Ich fürchte ja.“ Als er nicht sofort antwortet, füge ich hinzu: „Da es sich um ein Missverständnis handelt, werde ich einfach gehen. Dann kann Ramos oder wer auch immer die Schulden bei Murray eintreiben. So wie es sich gehört.“
„Dich gehen lassen? Aber der Hexenmeister hat deine Seele gegen seine als Bezahlung eingetauscht. Er ist
dein gesetzlicher Vormund, richtig?“
Seele? Das ist eine seltsame Art, es auszudrücken, aber okay. „Nun, ja, rechtlich gesehen, aber...“
Er unterbricht mich. “Und du bist unter achtzehn?“
„Nur noch für ein paar Stunden, genau genommen.“
Das Grinsen verlässt sein hübsches Gesicht für keine Sekunde. „Dann gehörst du uns.“
Mir dreht sich der Magen um. Dieser Typ ist also einer der Lords, wegen denen ich hergebracht wurde. Aber er sieht so jung aus. Vielleicht Mitte zwanzig, höchstens. Wie kann er der Anführer eines unterirdischen, übernatürlichen Verbrecherrings sein?
„Aber-aber-ich gehöre nicht hierher.“
„Was für ein Zufall“, sagt er stumpf. „Ich auch nicht.“
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Als ich seinem Blick wieder begegne, stelle ich fest, dass sich seine Augen verändert haben. Das kühle Blau und Weiß ist komplett von der Schwärze verschluckt worden.
Ich keuche, der Schrecken lässt meine Adern gefrieren. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Übernatürlicher so etwas
tut. Nicht mal ein Vampir.
Ein paar Sekunden lang bin ich wie erstarrt. Meine Brust hebt sich, als ich nach Luft ringe, und ich kann nur starren.
„Weißt du, wir drei sind ziemliche Experten in Sachen Sünde
“, sagt er auf mein fassungsloses Schweigen hin. Jetzt grinst er und genießt meine Reaktion in vollen Zügen. „Wir sind ja schließlich Dämonen.“
Dämonen.
„Fuck...“, krächze ich. Ich stecke in größeren Schwierigkeiten, als ich dachte.
Das ist schlübel. Wirklich, wirklich übel.
Die Hand des Dämons schießt hervor und packt mein Kinn - hart - und zwingt mein Gesicht näher zu seinem. Mit seinen immer noch tiefschwarzen Augen kann ich nicht erkennen, was er anschaut, aber sein Mund ist meinem so nahe, dass ich mich frage, ob er mich küssen will. Mein Herz hämmert hinter meinen Rippen.
„Für eine junge Dame hast du ein ziemlich verruchtes Mundwerk“, flüstert er.
Um zu helfen, drängt Sayah auf Befreiung, aber ich schiebe sie innerlich zurück an ihren Platz. Das ist es, was er will. Er versucht, mich zu verführen, mir Angst zu machen, damit ich mich offenbare. Ich kann nicht nachgeben.
Stattdessen schenke ich ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Vielen Dank aber auch.“
Er hält mich noch einen langen Moment so, seine Lippen schweben über meinen, sein starker Griff um mein Gesicht ist unerschütterlich. Dann, ganz unerwartet, weicht die Schwärze seiner Augen seinem natürlichen, eisigen Blau und er lässt mich los.
Scheinbar enttäuscht tritt er zurück, macht auf dem Absatz kehrt und geht weg, wobei er die Tür hinter sich zuschlägt.
Wieder allein, reibe ich mir den Schmerz aus dem Kiefer und versuche zu begreifen, was gerade passiert ist. Mein rasender Puls ist immer noch ein donnerndes Echo hinter meinen Ohren.
Dämonen... Meine Entführer sind Dämonen? Aus der Hölle? Ich habe von ihnen gehört, aber ich habe noch nie einen gesehen. Ich weiß nur, dass sie nachts umherstreifen und Seelen verzehren. Das gibt ihnen ihre Macht. Und mit dieser Macht werden sie von allen gefürchtet.
Und jetzt bin ich ihr Gefangener.
Mist.
Die Dinge wurden gerade viel komplizierter.
CAIN
A
ria hat Kraft. Sie ist so stark, dass ihre Kraft unter meiner Haut summt, und ich kann sie unter meiner Zunge schmecken. Etwas Dunkles und Vertrautes, aber ich weiß nicht, was. Jedenfalls noch nicht, aber ich werde es herausfinden.
Was auch immer in ihr ist, es ruft nach mir, und das war definitiv nicht das, was ich erwartet hatte, als Ramos eine Frau, statt des versprochenen Hexenmeisters, in unser Haus brachte. Er behauptete, er hätte etwas in ihrem Blut gerochen, aber das musste ich selbst beurteilen. Was ich gefunden hatte, verwirrte und verärgerte mich nur. Und, wenn ich ehrlich war, faszinierte es
mich.
Nachdem ich über ein Jahrhundert auf der Erde gelebt hatte, überraschte mich nicht mehr viel. Aber diese Frau... diese Aria... sie schaffte es.
Gewöhnlich? Sie war alles andere als gewöhnlich.
Sie war unverkennbar schön, mit tiefschwarzem Haar und passenden dunklen Augen, aber diese Dinge konnte man zunächst übersehen. Die Welt ist voll von reizenden Frauen, und ich habe im Laufe der Jahrzehnte mich gut an ihnen ausgetobt. Aber als sie es wagte, mich herauszufordern, trotz der offensichtlichen Gefahr, in der sie sich befand, wurde mir klar, dass ich Ramos' Entscheidung, sie mitzunehmen, falsch eingeschätzt hatte.
Als ich dem Wachmann an der Tür zunicke und weggehe, geht mir das Bild von ihr nicht aus dem Kopf. Die Art und Weise, wie sich der dünne Stoff ihres Nachthemdes an die Kurve ihrer Brüste schmiegte, sich an ihrer Taille zusammenzog und bis zu ihren Knöcheln fiel. Ich kann immer noch ihren Duft riechen und er sorgt dafür, dass ich sie haben will. Dann war da ihre schnelle, beißende Zunge. Die Erinnerung an den Blick des Schocks und der Lust in ihren Augen, als ich sie festhielt, schickte ein Zucken direkt zu meinem Schwanz.
Seit langem hat mich niemand mehr so reagieren lassen.
Das Klappern der sich öffnenden und schließenden Kommode in ihrem Zimmer hallt sogar hier draußen im Korridor wider. Welche Macht sie auch immer besitzt, kann für uns von Wert sein. Die potentielle Gefahr ist genauso aufregend wie der Rest von ihr.
Heute Abend sollten wir uns an der Seele eines Hexenmeisters laben. Die Macht wäre unglaublich gewesen. Ich weiß noch nicht, ob wir einen fairen Tausch mit Aria gemacht haben, aber die Zeit wird es zeigen.
Ich mache mich auf den Weg die Haupttreppe hinunter zum vorderen Wohnzimmer, wo ich Dorian erwarte. Den ganzen Weg über quälen mich Bilder von meinen Fingern, die sich um ihr seidiges, rabenschwarzes Haar schlingen und ihre Kehle freilegen, während ich in sie eindringe. Wenn sie bleibt, werden wir genau dort enden und es gibt zu viel zu tun. Sie hätte nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt in unser Leben kommen können; ich kann mir keine Ablenkung leisten.
Die Flamme im Kamin knistert und spuckt in das Metallgitter, brüllt wie ein Drache. Ich finde Dorian dort, wo ich ihn erwarte, auf dem Ledersofa vor den Flammen lümmelnd. Zwei seiner neuesten Opfer sitzen neben ihm, völlig nackt und auf seine Befehle wartend. Als Inkubus oder Lustdämon ist es nicht ungewöhnlich, dass er mit einer Frau beschäftigt ist, die er angelockt hat, um sein unstillbares Verlangen vorübergehend zu stillen. Im Gegensatz zu ihm bin ich es leid, dass sich alles ständig wiederholt, und ihre Anwesenheit nervt mich nur.
„Verschwindet“, belle ich sie an, meine Stimme hallt von den Steinwänden wider.
Wie von einem Bann gerissen, zucken ihre Köpfe nach oben, Panik steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sekunden genügen, um auf die Beine zu kommen und den Flur hinunterzurennen.
„Du verdirbst alles“, murmelt Dorian mir mit einem jungenhaften Schmollmund zu. „Ich hätte dir eine überlassen, wenn du nett gefragt hättest.“
„Wir müssen reden.“ Ich stehe vor dem Kamin. Die Hitze umhüllt mich, und ich bade in ihrer Gegenwart. Ich vermisse unser Zuhause, die sengende Hitze der Unterwelt, wo ich herrschen sollte. Dort sollte ich jetzt sein, auf dem Thron sitzen, den mein elender Vater immer noch besetzt. Wir sollten jetzt die Kontrolle über die ganze Hölle haben, über jede verdammte Seele, nicht im Schatten der Lebenden lauern.
Unser Versagen sitzt mir tief in den Knochen. Auch noch nach all dieser Zeit.
Dorian lehnt sich zurück, die Arme seitlich neben sich an der Couchlehne ausgestreckt, während er ein Bein über das andere schlägt. „Es geht um unser neues Spielzeug, stimmt's? Ich habe dir gesagt, du sollst mich zuerst zu ihr gehen lassen, wenn du willst, dass sie gehorcht.“
Ich balle meine Faust auf dem Kaminsims, habe genug von seinem Scheiß. „Wir brauchen dich nicht, damit du sie zu einer weiteren deiner Sexpuppen hypnotisierst.“
„Wenn sie wirklich so mächtig ist, warum fressen wir sie nicht einfach auf und absorbieren diese Kraft?“
„Nein.“ Es kommt zu schnell heraus, und ich bereue es sofort.
Dorian beugt sich vor, die Augen weit aufgerissen, plötzlich interessiert. „Sie hat etwas mit dir gemacht“, sagt er, lacht dann und schlägt sich auf ein Knie. „Wie ich es geahnt habe, sie hat dich umgehauen. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde. Der große Cain, Sohn von Luzifer. Dämon des Stolzes höchstpersönlich, und sie hat dich in ihren Bann gezogen. Eine Frau.“
„Red’ keinen Müll“, schnauze ich. „Und sie ist keine gewöhnliche lebende Frau. Sie ist... anders.“
„Anders? Wie meinst du das?“
„Da ist noch etwas Anderes an ihr, etwas, das ich nicht begreifen kann. Eine Dunkelheit in ihrer Aura... ich kann sie spüren.“
Mit gerunzelten Brauen stützt Dorian die Ellbogen auf die Knie. „Also, was ist sie?“
„Das habe ich noch nie gesehen, und das ist es, was mich...“
„In ihren Bann zieht“, beendet er meinen Satz.
„Seltsam“, korrigiere ich ihn. Noch nie hat mich jemand verzaubert; ich werde es auch jetzt nicht zulassen.
„Ramos sagte, er spürte eine Kraft in ihr, aber ich nahm an, sie sei eine Zauberin. Oder ein Shifter. Das Übliche“, sagt Dorian.
Ich balle und löse meine Faust, denke an ihr Gesicht in meiner Hand und was passiert wäre, wenn ich nachgegeben und sie geküsst hätte, wie ich es wollte. Vielleicht hätte ich dann entschlüsseln können, was sie war, indem ich sie geschmeckt hätte.
Keine Ablenkungen, schon vergessen?
„Vielleicht solltest du dem Hexenmeister einen Besuch abstatten und es herausfinden“, zwinge ich mich zu sagen, um die Versuchung zu verdrängen.
Dorian ist auf den Beinen. Wie immer trägt er kein Hemd, und seine Lederhose ist eng genug, um nichts zu verbergen, vor allem nicht seinen Ständer. Blondes Haar hängt lose halb über seinen Augen, während er in meine Richtung starrt. „Oder wir unterziehen sie einfach einem Bindungsritual.“
Eine Erinnerung an das letzte Bindungsritual, das Elias damals in der Hölle durchgeführt hat - das, das uns alle überhaupt erst in dieses Drecksloch namens Erde gebracht hat - kommt an die Oberfläche meines Geistes. „Du willst Aria für die Ewigkeit an uns binden? Du hast das Mädchen noch nicht einmal kennengelernt.“
Er bellt lachend. „Und? Ich habe es satt, ständig deine hässliche Visage anzuschauen. Und Elias ist immer unten im Keller oder im Wald und grübelt, also warum zum Teufel nicht? Wir bekommen ein Gefühl dafür, was sie ist, und wenn es nicht klappt, dann haben wir ein Festmahl mit ihrer Seele. Wie hört sich das an?“
„Wir finden zuerst heraus, was sie ist. Ich will nicht, dass wir wieder so ein Scheißproblem haben wie letztes Mal.“
Dorian verengt seine Augen. „Scheiße, Mann, du fängst immer noch davon an. Es war ein Fehler, den keiner von uns kommen gesehen hat. Komm verdammt nochmal drüber weg.“
Ich spotte über seine Worte. „Ich fange an, mich zu fragen, ob es dir hier wirklich gefällt.“
Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen, das ihn viel jünger aussehen lässt, als er tatsächlich ist. „Es hat seine Vorteile“, sagt er und wirft den Kopf zurück, um sich die Haare aus den Augen zu streichen. „Kennst du den Unterschied zwischen uns? Ich bin ein Opportunist. Ich mache das Beste aus dem, was wir haben. Du hast einen Stock im Arsch, seit wir hier sind.“
„Fick dich“, knurre ich kalt. Er hat nicht so viel verloren wie ich - mein Geburtsrecht, meinen Titel, den Großteil meiner Macht. Er wird es nie verstehen. Nicht ganz. Verbannt zu sein, war für mich eine Qual, kein Urlaub.
“Nur wenn du nett fragst“, neckt er mich, bevor er mir einen Kuss zuwirft und zur Tür schlendert.
„Wohin gehst du?“ Irritation pulsiert in meinen Schläfen.
„Mir einen runterholen, weil du mein Spielzeug weggeschickt hast.“
Ich knurre leise vor mich hin und stoße mich vom Kamin ab. Es sollte mich nicht überraschen, dass seine Lösung immer die schnellste und einfachste ist - für ihn.
Was er nicht versteht, ist, dass jede neue Kraft, der wir begegnen, eine Antwort auf unser Problem sein könnte. Und im Gegensatz zu ihm kann ich meinen Schwanz in der Hose behalten, wenn es eine Chance geben könnte, uns nach Hause zu bringen.