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ie Lebenden sind faszinierende Geschöpfe. Ihr Drang, sich anzupassen und zu überleben, ist bewundernswert und ein wenig beeindruckend. Egal, welches Pech ihnen widerfährt, sie passen sich an und machen weiter. Etwas, womit sogar wir Dämonen zu kämpfen hatten, als wir vor über hundert Jahren vertrieben wurden. Sicher, wir hatten unseren Spaß und nutzten die Naivität der Lebenden am Anfang aus, aber wirklich anpassen? Nein, wir kommen gerade so zurecht. Wir überleben.
Cain und Elias sind zu sehr mit dem Verrat und dem Verlust beschäftigt, um vorwärts zu kommen. Ich hingegen will das, was uns gegeben wurde, nehmen und daraus lernen. Mir zu eigen machen. Und dadurch stärker werden.
Nehmen wir zum Beispiel Aria. Als ich vor dem Drecksloch einer Wohnung stehe, in der sie jahrelang in tiefer Armut gelebt hat, frage ich mich, wie eine Person, die nichts hat und aus dem Nichts kam, das kämpferische Kraftpaket sein kann, das sie ist? Selbst im Angesicht zweier monströser Kreaturen - und eines verdammt sexy Inkubus-Dämons - kann sie nachts irgendwie ruhig schlafen. Es erstaunt mich.
Sie verblüfft mich.
Ich sehe zu Ramos auf, unserem dhampirischen Schuldeneintreiber und manchmal auch Söldner, je nach Zahlungsfähigkeit des Kunden. Er wartet auf mich an der Tür, die teilweise versteckt in einer Hintergasse zwischen einem Rund-um-die-Uhr-Chinarestaurant und einer vernagelten Ladenfront liegt. Ich ziehe den Kragen meines teuren Mantels fester um meinen Hals, während der Wind pfeift, und merke, wie deplatziert ich in diesem Teil der Stadt aussehen muss. Aber es wird nicht lange dauern. Ich muss nur Murray Whitman treffen, den alten Hexenmeister und Arias Ziehvater, und die Informationen bekommen, die ich brauche. Sollte höchstens 20 Minuten dauern. Ramos ist mehr für die Orientierung hier. Und weil er derjenige war, der Arias Seele im Tausch gegen Murrays akzeptiert hat. Wenn er einen Fehler gemacht hat, nun... dann muss er dafür bezahlen.
Ramos klopft an die verblasste Farbe der Tür, und zu unserem Erstaunen knarrt sie auf, als wäre sie nicht verriegelt worden. Nicht sehr schlau in dieser Gegend, aber ich werde nicht darüber urteilen.
Ramos scheint es mehr zu beunruhigen als mich, und er geht vor mir hinein und die unebene Treppe hinauf. Die Luft riecht stark nach Staub, Schimmel und Zigarettenrauch. Im Hintergrund liegt auch ein entfernter Geruch von Verfall, der noch stärker wird, je höher wir steigen.
Als wir in der obersten Etage ankommen, ist der Geruch von verrottendem Fleisch so stark, dass ich fast würgen muss. Widerwärtig.
Noch seltsamer ist, dass die Wohnungstür ebenso wie die Haustür offen steht, weit genug, dass jeder hereinspazieren kann, wann er will.
Man braucht kein Genie zu sein, um zu wissen, was hier passiert ist, und als wir hineingehen und eine Leiche sehen, die über einem Küchentisch zusammengesackt ist, bestätigt der Geruch von Verwesung den Tod.
Ramos steigt über eine Reihe von Papieren, die auf dem Teppich verstreut sind, und berührt den Hals des Mannes, um seinen Puls zu prüfen. Eigentlich ist es eine nutzlose Geste, da er als Dhampir sein Herz schlagen hören könnte, aber er tut es trotzdem. Dann nickt er mir zu, seine stumme Art, mir zu sagen, dass er tot ist.
Er macht einen kurzen Schritt zurück und tritt gegen den Stuhl. Der von der Leichenstarre steife Kopf des Mannes ruckt nur leicht, aber es reicht, um die violetten Blutergüsse um seinen Hals und die blutigen Löcher zu sehen, die einst seine Augen waren. Stranguliert und verstümmelt. Hoffentlich, um seinetwillen, in dieser Reihenfolge.
„Ist er das?“, frage ich Ramos und frage mich, ob dieser Mann tatsächlich Arias Ziehvater ist. Murray.
Wieder nickt Ramos. Er war schon immer ein Mann der wenigen Worte. Die Konfrontation mit einem grausamen Mord wie diesem ist keine Ausnahme.
Ich seufze, verärgert. Das war's mit unseren Antworten.
Ich meine, ein Mann, der mehr Schulden angehäuft hat als Donald Trump und dann die Seele seiner kaum volljährigen Pflegetochter verkauft hat, hätte wahrscheinlich einen schlimmeren Tod als diesen verdient, aber trotzdem, wie sollten wir jetzt mehr über Arias leibliche Eltern und Herkunft herausfinden?
Ich schreite durch den Raum, das wahllose Durcheinander von Papieren knirscht unter meinen Schuhen. Ich halte inne und hebe eines auf. Als ich es schnell überfliege, erkenne ich, dass es ein alter Bericht mit dem Titel „Das Kind“ ist, von einem Sozialarbeiter, der sich um Aria in einer früheren Pflegefamilie gekümmert hat. Worte wie „potenzieller Missbrauch“, „deutliche Spuren“ und „Vernachlässigung“ springen mir ins Auge. Ich runzle die Stirn und nehme ein weiteres Papier in die Hand. Dieses ist eine Kopie eines Polizeiberichts, in dem ein Beamter Aria bewusstlos am Stadtrand gefunden hat, ohne sich daran zu erinnern, warum sie überhaupt dort war.
Wie seltsam.
In all diesen Papieren geht es um Aria. Über ihre Vergangenheit und Gegenwart.
„Wir brauchen eine Geburtsurkunde. Oder etwas, das uns etwas über ihre Eltern verrät. Einen Nachnamen. Einen Geburtsort. Irgendwas“, sage ich zu Ramos.
Er wühlt sich durch die Trümmerhaufen, aber je mehr ich das Chaos zu unseren Füßen absuche, desto sicherer bin ich mir, dass es unwahrscheinlich ist, dass wir finden, was wir brauchen. Wer auch immer den Hexenmeister tötete, muss gefunden haben, wonach er suchte.
Das bedeutet, dass wir nicht die einzigen sind, die daran interessiert sind, mehr über die mysteriöse Aria Ohne-Nachnamen zu erfahren. Nicht mehr.
Was verbirgt sie?
Sieht so aus, als hätte unsere kleine Höllenkatze die Aufmerksamkeit von jemand anderem erregt - jemandem, der bereit ist, alles zu tun, um zu bekommen, was er will. Sogar zu töten.
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urück zu Hause mache ich mich auf den Weg in die Bibliothek des Anwesens, wo Elias und Cain auf mich warten. Ich habe den beiden geschrieben, dass sie mich dort treffen sollen, aber ich habe die Details über den Tod des Hexenmeisters aus der Nachricht ausgelassen. Manche Dinge sagt man einfach besser persönlich, und unseren nächsten Schritt mit Aria wollte ich lieber von Angesicht zu Angesicht besprechen. Vor allem, weil Elias dafür bekannt ist, dass er selten sein Telefon dabei hat. Der Mann verbringt die meisten seiner Tage damit, nackt durch die Wälder zu rennen.
Sobald Cain die Nachricht gelesen hat, gab es keinen Zweifel, dass er Elias finden und mitbringen würde. Das war wichtig. Für uns alle.
Ich habe immer noch niemandem von Mavericks Notiz oder Lucifers lächerlichem Tötungswunsch erzählt, und ein Teil von mir fühlt sich schuldig, weil ich es ihnen vorenthalten habe, aber der andere Teil denkt, dass sie es nicht wissen müssen. Ich nehme den Deal nicht an, was würde es also bringen? Cain will sowieso nie etwas gegen seine Geschwister hören, nicht einmal von mir, und ich möchte mich lieber nicht mit seinem Zorn auseinandersetzen. Das ist es einfach nicht wert.
Jetzt konzentriere ich mich auf Aria und auf das, was ich in ihrer Wohnung gefunden - oder auch nicht gefunden - habe. Ohne den Hexenmeister zu befragen oder Arias Geburtspapiere zu haben, sind wir auf uns allein gestellt, was den nächsten Schritt angeht.
Ich finde Cain und Elias genau da, wo ich sie erwartet habe.
Cain sieht bereits besorgt aus. Er steht in der Mitte der Bibliothek, die Arme verschränkt und die Lippen zu einer festen Linie zusammengepresst. „Was ist los? Was hast du gefunden?“
Elias ist mehr gelangweilt als alles andere. Er sitzt in einem der Lesesessel, die Beine weit gespreizt, und zupft sich Zweige aus den Haaren. „Hoffentlich etwas Gutes.“
“Der Hexenmeister ist tot“, antworte ich unverblümt. „Ramos und ich fanden ihn erwürgt und mit ausgestochenen Augen.“
Wie erwartet, sind weder Cain noch Elias vom Tod des Mannes berührt. Sie warten darauf, dass ich zu den wichtigeren Teilen übergehe.
„Die Wohnung war durchwühlt. Überall auf dem Boden lagen Papiere, die in irgendeiner Art und Weise mit Aria zu tun hatten. Aber die, die wir brauchten, waren weg.“
„Was meinst du mit weg
?“, fragt Cain. „Keine Geburtsurkunde? Nichts mit einem Hinweis auf ihre Eltern oder einen Nachnamen?“
Ich schüttle den Kopf. „Rein gar nichts. Wir werden einen anderen Weg finden müssen. Vielleicht können wir eine frühere Pflegefamilie kontaktieren?“ Ich greife in meine Jacke und ziehe alle Papiere heraus, die ich in der Wohnung gesammelt habe, nur für den Fall, dass etwas von Nutzen sein könnte. Ich reiche sie an Cain weiter und sage: „Da ist auch ein Polizeibericht bei. Vielleicht können wir im Revier von Glenside ein paar Gefallen einfordern und dort ein paar Fäden ziehen.“
Cain blättert schnell durch den Stapel. „Das müssen wir vielleicht.“
„Also warte. Jemand hat den Hexenmeister getötet, um Informationen über Aria zu bekommen?“ Elias setzt sich auf, plötzlich interessiert.
„Ich würde annehmen, dass sie die Informationen bekommen haben, bevor
sie ihn getötet haben, aber ja. Sieht so aus.“
Elias schnaubt verärgert.
Wie immer ist Cain tief in seinen Gedanken versunken. Ich kann fast den Rauch aus seinen Ohren kommen sehen, so angestrengt ist er.
Nach einem langen, angespannten Moment sagt er: „Jemand sucht nach ihr. Warum?“
Ich zucke mit den Schultern. „Aus den gleichen Gründen wie wir, nehme ich an.“
Ein leises Grollen steigt in Elias' Kehle auf. „Jemand hat ein Auge auf sie geworfen.“
Er war schon immer besitzergreifend.
„Hast du Hinweise darauf gefunden, wer es sein könnte?“, fragt mich Cain.
„Außer einer kalten Leiche? Nicht wirklich“, antworte ich. “Wer auch immer den Hexenmeister getötet hat, wusste, was er tat.“
„Wa-was?“ Eine zerbrechliche Frauenstimme ertönt hinter mir, und mein Herz bleibt stehen. Ich drehe mich um und sehe Aria im Torbogen stehen, die Augenbrauen zusammengekniffen mit einer Mischung aus Trauer, Wut und Unglauben. „Murray ... ist tot?“
Cain tritt vor, sagt aber nichts. Menschliche Emotionen sind ihm immer noch ein wenig fremd, und er ist unsicher, wie er vorgehen soll. Elias geht es ähnlich. Er starrt vor sich hin wie ein Narr, seine Augen flackern hilfesuchend zu mir.
Hoffnungslos. Sie sind beide völlig hoffnungslos.
„Aria“, sage ich sanft. Es wird meine Aufgabe sein, sie mit den Neuigkeiten vertraut zu machen. Ich bin mir nicht sicher, wie lange sie schon zugehört hat, aber sie hat genug gehört. Man sieht es an der Angst in ihrem schönen, aber gequälten Gesicht. Tränen glitzern in ihren Augen, und ihre Brust hebt sich, als der Schmerz überhandnimmt. „Lass es mich erklären...“
Aber sie lässt mich nicht. Sie dreht sich um und eilt davon, ihre Schritte hallen durch den Flur, als sie geht. Nur einen Moment später ertönt das Knarren der Haustür, als sie sie öffnet, und dann knallt sie zu.
Sie hat die Villa verlassen.
Meine Brust krampft sich vor Mitleid für sie zusammen, was mich ein wenig überrascht. Aber ich kann nichts gegen die Schwere tun, die ich fühle, weil ich weiß, dass wir – nein, ich - derjenigen war, der sie letztendlich bestürzt gemacht hat. Ich dachte, sie würde den Mann hassen, der sie für seine Schulden verkauft hat, aber anscheinend hatten auch noch andere Gefühle für ihn Platz.
Elias drängt sich an mir vorbei, um sie zu verfolgen, aber ich strecke meinen Arm aus, um ihn aufzuhalten. „Nein, nicht“, sage ich zu ihm. Verfolgt und zurückgeschleift zu werden, ist wahrscheinlich das Letzte, was sie jetzt braucht. Und warum kümmert es mich? Naja, ich bin mir nicht sicher.
Elias blickt verwirrt auf mich herab und sagt: „Sie versucht wieder zu fliehen.“
Ich könnte mich irren, aber ich glaube nicht, dass sie es wirklich tut.
„Diesmal werde ich sie kriegen“, versichere ich ihm. Als ich Cain ansehe, nickt er mir dezent zu. Elias zieht sich zurück, und ich verliere keine Zeit, aus der Bibliothek zu rennen und ihr hinterherzujagen.