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Grado Pineta, Via delle Pleiadi.
Such dir einen neuen Job, Flittchen. Ich mach dich fertig . Groß wie die Headline einer Boulevardzeitung prangt der Satz in fetten Lettern an der weißen Wand über einer Serie von Fotos der Senatorin und ihres Bruders Carletto. Zeugnisse, die einen langen Zeitraum umspannen. Romana Castelli de Poltieri von ihren politischen Anfängen als blutjunge Agitatorin gegen die Liberalisierung des Abtreibungsverbots in den Siebzigerjahren, später als Stadträtin von Triest und schließlich die Wahl in den Senat in Rom, in dem sie in der fünften Legislaturperiode sitzt.
Ein plakatgroßer Bogen Papier voller Linien, Zahlen und Zeichen zeigt das komplizierte Beziehungsgeflecht der Dame, samt Anlässen und Daten, die weiter ergänzt werden können. Schon die Wände des Büros im römischen Vorort Ostia, ihrer ersten eigenen Dienststelle, hatte Kommissarin Xenia Zannier bei komplexen Fällen so mit Fakten tapeziert, dass ihr kein Detail entgehen konnte. Zufälle, üble Überraschungen lassen sich vermeiden, wenn man sich nur genug in die Sache vertieft. Die Methodik der Kommissarin zeigte auch dank ihrer Durchsetzungsfähigkeit rasch Erfolg. Kurz nach der nächsten Beförderung schlug sie allerdings eine attraktive Stelle bei der DIA aus, den direkt dem Innenministerium angegliederten Antimafia-Spezialisten, und ließ sich zur Überraschung aller in den Nordosten zurückversetzen. Ausgerechnet in den verschlafenen Adria-Badeort Grado. Heimweh, meinten viele, die sich ihre Entscheidung nicht anders erklären konnten. Sie hatten die junge Frau bisher für eine eiskalte Karrierepolizistin gehalten: verbissen, vielsprachig, intelligent und unberechenbar.
Als müsste sie sich an das Motiv ihrer Versetzung erinnern, starrt Xenia auf die Wand in ihrem Zimmer im Erdgeschoss des kleinen Fertigbauhäuschens aus den Sechzigerjahren. Kein Laut dringt mehr von draußen herein, die Nachbarn sind längst schlafen gegangen. Um das kalte Licht der nackten Glühbirne kreisen Mücken. Auf ihrem Schreibtisch, einer Holzplatte auf zwei Böcken, sind Berge von Akten ausgebreitet, systematische Aufzeichnungen, die die Kommissarin über Jahre zusammengetragen hat. Ein Mosaik mehr oder weniger bedeutungsvoller Fakten, ein Gewebe von Indizien, gleichwohl noch keine eindeutigen Beweise. Nach denen wird sie so lange suchen, bis sie die Senatorin und ihren Bruder endlich zur Strecke bringen kann.
»Du bist doch nicht anders, Xenia, nur weil du blond bist. Du hast halt die Haare deines Papas …« Floriano saß neben seiner kleinen Schwester zwischen den Rebreihen auf dem Monte Calvario im hohen Gras, wo sie Schinken und Käse aßen.
»Was meinst du damit, Flori?« Sie zog ihn neckisch an einer Locke. »Papa hat doch schwarze Haare wie du, du Esel«, lachte die Achtjährige, die ihren großen Bruder immer gerne zur Arbeit im Weinberg begleitete.
Zu spät, um sich auf die Zunge zu beißen. Floriano blickte auf die Tiefebene zwischen dem Meer und dem hügeligen Weinland hinunter. Arglos hatte er das Familiengeheimnis ausgeplaudert, trotz der Ermahnung seiner Eltern, doch eines Tages hätte die Kleine es ohnehin entdeckt.
»Ach, Xixi.« Floriano legte seinen Arm um die strohblonde Xenia und drückte sie zärtlich an sich. »Das Leben zeichnet Wege, die wir nicht immer gleich verstehen können. Dass du blonde Haare hast und ich schwarze, spielt doch überhaupt keine Rolle, solange wir uns mögen. Und ich werde dich immer mögen, Teufelchen. Du mich doch auch, oder?«
»Ja, schon, aber irgendwie auch nicht. Ich bin nicht wie ihr. Oder hast du etwa Angst, wenn alle Fenster geschlossen sind oder wenn die ganze Klasse dich umzingelt und sie sich daran freut, dass du das nicht aushältst? Dann sperren sie mich in den Schrank oder in die Besenkammer und lachen wie die Idioten.«
»Was tun die? Das hast du mir nie erzählt.«
Floriano war immer in Sorge, dass ihr etwas passieren könnte, und stellte sich schützend vor sie. Selbst wenn sie zu Hause etwas angestellt hatte, nahm er das oft auf seine Kappe, ließ die Strafpredigten gleichmütig über sich ergehen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
»Na ja, bis ich dann so tobe, dass entweder der Schrank kaputtgeht oder ein Lehrer kommt, der mich befreit. Aber die Schuldige bin immer ich, Flori.«
»Ich werde dafür sorgen, dass sie das nicht mehr tun. In Zukunft sagst du es mir gleich, Xixi. Versprochen?« Floriano atmete auf, offensichtlich hatte sie das eigentliche Thema schon vergessen.
»Ich gebe es denen schon selber, Flori.« Xenia sprang auf und zeigte ihre kleinen Muskeln. »Bring mir ein paar Tricks bei, die du immer im Training machst.«
»Das sind keine Tricks, das sind Techniken. Das heißt Wing Tsun Kung Fu. Wenn du willst, dann nehme ich dich morgen mit, und du schaust uns zu.«
»Flori, ist es ein Zufall, dass mein Geburtsort Gemona und nicht Gorizia ist, wie bei dir und Mama und Papa?«
Xenia setzte sich wieder neben ihn und umklammerte den kräftigen Arm ihres großen Bruders, während er ihren blonden Schopf streichelte und zaghaft nach den richtigen Worten suchte. Es gab jetzt keinen Ausweg mehr.
»Zufälle gibt es nicht, Xixi. Wir sagen das nur, wenn wir uns die Dinge nicht erklären können oder wollen.«
Die frische Nachtluft, die durch die sperrangelweit geöffneten Fenster ihres hell erleuchteten Arbeitszimmers strömt, riecht nach Frühling. Xenia sitzt vornübergebeugt auf einem dreibeinigen Holzschemel, Tränen laufen ihr unaufhaltsam über die Wangen, doch sie schluchzt nicht. Ihr Blick ist starr auf ein mit schwarzem Rand eingefasstes Porträt in einem silbernen Bilderahmen gerichtet. Das Gesicht eines fröhlichen jungen Mannes. Floriano Benes 31. 1. 1966 – 9. 6. 1990 steht darunter. Xenia hat es von der Wand genommen und ist in Erinnerungen versunken. Arne war irgendwann hereingekommen, ihr Freund, nachdem er zuvor lange in der Tür gestanden hatte, ohne dass sie ihn bemerkte. Er umarmte sie und versuchte, ihr zuzureden, nach vorne zu sehen.
»Ein Teil der Zukunft liegt in der Vergangenheit«, hatte sie tonlos gesagt, »das verstehst du nicht. Geh schlafen.«
Sie schüttelte ihn steif ab, und ihm blieb nichts übrig, als ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken und sie zu mahnen, nicht die ganze Nacht in Hader zu versinken.
Xenia ist allein. Auch wenn sie seit fast einem Jahr mit ihm zusammenlebt. Sie erinnert sich nicht an den genauen Tag, an dem er in ihr Leben trat. Absurd genug, eine italienische Polizistin und ein arbeitsloser Jungarchäologe aus Dortmund, dessen Eltern ein Bestattungsinstitut führen. Vielleicht wird sie sich noch an ihn gewöhnen, an seine Ansprüche einer trauten Zweisamkeit. Ohne dass es ihr zu eng wird. Ohne ein weiteres Mal davonzulaufen. Ein netter Kerl, der in sie verliebt ist.
Erst seit jenem Nachmittag im Weinberg weiß Xenia, dass Safiria Lepore in Wahrheit die Schwester ihrer leiblichen Mutter ist und sie zusammen mit ihrem Mann Danilo zwei Tage nach ihrer Geburt adoptiert hatte.
Ihr Babyfoto war durch die europäische Presse gegangen: Hoffnung im Leid , Das Wunder von Gemona oder Das Leben aus der Nacht des Todes lauteten die pathetischen Headlines. Jordan S. Becker, ein österreichischer Journalist, lässt es sich nicht nehmen, an jedem Jahrestag über ihren Werdegang zu berichten. Mit der Zeit wurde er zu einem fernen Freund, mit dem sie sporadisch telefoniert, wenn er nicht unverhofft auf der Schwelle steht. Selbst in Ostia besuchte sie der groß gewachsene Mann mit dem grauen halblangen Haar eines Tages in ihrem Kommissariat. In diesem Jahr ist sein Besuch längst überfällig.
Schon ihre leibliche Mutter war auf den Namen Xenia getauft gewesen. Sie hatte in Gemona die städtische Bibliothek geleitet und war im siebten Monat, als sie beim großen Erdbeben im Friaul eine einstürzende Mauer ihres Wohnhauses unter sich begrub. Stunden später hatte eine erste Rettungsmannschaft ihre verzweifelten Rufe aus den Trümmern vernommen, die Siebenundzwanzigjährige befreit und zu einem eilig errichteten Militärlazarett gebracht. Um 4 Uhr 37 des 7. Mai 1976 hauchte die junge Frau nach dem Notkaiserschnitt ihr Leben aus. In der Nacht des Todes erblickte Xenia Ylenia Zannier zwei Monate zu früh das Licht der Welt. Fast tausend Menschen hatten ihr Leben verloren und über fünfundvierzigtausend das Dach über dem Kopf. Die Medien hatten sich auf das Neugeborene gestürzt wie auf ein Wunder. Gab es doch Hoffnung im Tod?
Xenia wurde als Vollwaise geboren, auch ihren Vater Gaetano Zannier hatte sie nie kennengelernt. Helfer bargen die Leiche des Gemeindepolizisten erst drei Tage später aus den Trümmern. Und ihr Onkel Danilo Benes wurde dank der unerschütterbaren Entscheidung Safirias, das Baby umgehend zu adoptieren und ihm den Namen der Mutter zu geben, zu dem Mann, den Xenia schließlich Papà nannte. Ihre Tante wurde zur Mamma. Tatsächlich war Floriano also ihr Cousin, für sie aber ihr großer Bruder. Er war schon zehn Jahre alt gewesen und hatte die Kleine von Anfang an in sein Herz geschlossen.
Such dir einen neuen Job, Flittchen. Kommissarin Xenia Zannier sitzt mit durchgedrücktem Rückgrat auf dem Holzhocker, fährt sich mit beiden Händen durch das streichholzkurze blonde Haar, ballt die Fäuste, dass sich die Knochen weiß auf dem Handrücken abdrücken und ihre Nägel in die Hand schneiden, bis sie den Schmerz spürt. Sie schnellt blitzartig auf, drei Schritte, ihre Faust trifft das Bild der Senatorin.
Xenia war vierzehn Jahre alt, als sie die Frau zum ersten Mal sah. Im Gerichtssaal während des Prozesses gegen Floriano. Drei Tage bevor er sich angeblich in seiner Zelle erhängte, um sich seinem Urteil zu entziehen. Jahre später hatte Xenia sich die Akten besorgt und selbst mit den Zeugen geredet, um sich ihr eigenes Bild zu machen.
1990 hatte Floriano bei der Finanzpolizei in Triest im Dienst gestanden und an einem freien Abend mit zwei Freunden nach dem Kino auf einen Drink in der Bar Bellavia an der Viale XX Settembre gelandet. Die ehrwürdige Platanenallee im Herzen der Stadt, an der das Geburtshaus von Italo Svevo liegt, strotzte damals vor Hakenkreuzschmierereien und antislawischen Hetzplakaten. Der alte faschistische Hass gegen alle, die anders sind, er hatte schon 1920 in der Stadt die ersten Toten gefordert. Ausgelassen unterhielt sich Floriano mit seinen Freunden auf Slowenisch, worauf die Kerle am Tresen sie anpöbelten und den Weg zum Ausgang versperrten. Floriano rief, jemand möge die Polizei verständigen, und stellte sich schützend vor seine Freunde. Die ersten beiden Angreifer brachte er rasch zu Boden und bahnte sich einen Weg nach draußen. Vor der Tür waren sie zu dritt mit Baseballschlägern und einem zerschlagenen Bierkrug auf ihn losgegangen, worauf er sein Repertoire abspulte. Während er sich nur eine Schramme geholt hatte, zogen seine Gegner einen am Boden liegenden Kameraden in die Bar hinein und blockierten die Tür. Floriano und seine beiden Begleiter warteten, bis nach über einer halben Stunde endlich die Polizei vorfuhr. Er wies sich als Beamter der Guardia di Finanza aus und schilderte sachlich den Vorfall, bis die Sirene eines Krankenwagens ihn unterbrach. Einer der Feiglinge wurde auf einer Bahre abtransportiert, während seine Kameraden üble Drohungen ausstießen. Erst als weitere Streifenwagen vorgefahren waren, hatten sich die Polizisten getraut, in die Bar einzudringen, um die Personalien aufzunehmen. Floriano, Albert und Sebastian erstatteten Anzeige wegen Körperverletzung, Beleidigung und rassistischer Übergriffe und waren davon überzeugt, dass die Sache damit erledigt war. Bis Floriano eines Tages zum Kommandanten seiner Einheit gerufen wurde, wo zwei Polizisten in Zivilkleidung ihm einen Haftbefehl aushändigten: Mordversuch mit gefährlicher Körperverletzung. Die Anzeige stammte vom Schlimmsten der Hetzer in der Bellavia : Carletto Castelli de Poltieri. Als Florianos Vorgesetzter ihn aufforderte, Waffe und Uniform abzulegen, ihn vorübergehend vom Dienst suspendierte und ihm riet, in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe einen Anwalt zu nehmen, erinnerte er ihn auch daran, dass die Schwester des Klägers über die besten Beziehungen verfügte. Widerstandslos ließ Floriano sich abführen, fest davon überzeugt, dass sich die Sache rasch aufklären ließ. Dann aber standen den drei Aussagen der Freunde plötzlich neun andere gegenüber, die dem Wortlaut nach klar abgesprochen waren. Floriano habe den Streit mit wüsten Beschimpfungen vom Zaun gebrochen und sei tätlich geworden. Die Bar Bellavia sei bekannt dafür, dass sie von ordnungsliebenden, pflichtbewussten Söhnen solider italienischer Familien frequentiert würde. Über die Provokationen militanter Slowenen wisse man schließlich ausreichend Bescheid. Die Anwürfe waren ungeheuerlich. Lügen, die zu enthüllen ein Blick in die Zeitungsarchive genügte. Neofaschistische Übergriffe standen damals auf der Tagesordnung, selbst vor Brandsätzen gegen Schulen, Kindergärten und Studentenwohnheime hatten die Extremisten nicht zurückgeschreckt. Florianos Hinweis auf seine Herkunft, die Mutter Italienerin, sein Vater mit slowenischen Vorfahren, fand vor Gericht kein Gehör. Die gegnerischen Anwälte zerpflückten seine Aussage und die seiner Freunde bis in die Einzelheiten. Die Verletzungen ihres Mandanten ließen Tötungsvorsatz erkennen. Das Urteil war hart: Vier Jahre erschwerte Haft, ein lebenslanges Verbot jeglicher Kampfsportbetätigung und der Ausschluss aus dem Staatsdienst samt einer hohen Schmerzensgeldzahlung in Höhe von sechzig Millionen Lire. Noch im Gerichtssaal rief Floriano, dass er in Berufung gehen würde. Als loyaler Diener eines demokratischen Rechtsstaats dürfe er keine Manipulation von Beweismitteln und Zeugenaussagen zulassen. Am dritten Tag im Gefängnis hatte er seinem Leben angeblich selbst ein Ende gesetzt. Ohne ein einziges Wort zu hinterlassen.
Grado, Diga Nazario Sauro.
Die zarte Sichel des neuen Mondes steht tief am wolkenlosen Himmel über der nachtschwarzen Adria. Nur das matte Licht der Laternen auf der Diga Nazario Sauro, dem Deich mit der Uferpromenade, der die Altstadt des Badeorts vor Überflutungen schützt und bei gutem Wetter die Feriengäste zum Flanieren einlädt, lässt zaghaft den Verlauf der ins Meer reichenden Mole erkennen und die sich anschließenden Sandstrände. Stürme und für die Jahreszeit untypisch starke Niederschläge bestimmten den Saisonaufakt. Nach einem sommerlich heißen April hatte der Mai deutlich zu kalt begonnen, und die Hoteliers der Isola del Sole klagen über nicht kompensierbare Umsatzeinbußen, obwohl das große Geschäft noch bevorsteht.
Weit und breit ist keine Seele zu sehen, die sich fragen könnte, weshalb zwei dunkel gekleidete, stämmige Männer um halb 4 Uhr morgens rauchend aufs Meer stieren. Weit draußen schiebt sich ein Frachtschiff gegen Westen. Das gemächliche Stampfen seiner Maschinen dringt dumpf herüber und wird schließlich vom Lärm zweier höherdrehenden Motoren überlagert, der sich kontinuierlich nähert. Keine Fischkutter, keine Patrouillenboote.
»Das ist die erste Gruppe.« Der Ältere bläst eine dicke Rauchfahne in die Nachtluft. »Die übernehme ich, du die nächsten. Du kannst schneller rennen.«
»Wer soll uns um diese Zeit schon entdecken?«
»Nur wenn’s pissen würde, könntest du dir da sicher sein. Also sei vorsichtig.« Er zieht noch einmal an der Kippe zwischen seinen Lippen und spuckt sie aus. Seine Hände stecken tief in den Taschen der speckigen Jacke.
Von der Mole ist das Kratzen einer Bordwand zu vernehmen, kurz darauf eine Gruppe von etwa vierzig Personen zu erkennen, die den Strand heraufeilen. Der Ältere stellt sich in den Schein der Laterne und winkt mit beiden Armen, dann geht er zum Eingang des Strandbads, um sie in Empfang zu nehmen. Ihre Fußspuren sind die ersten im geometrischen Muster, das die Rechen im Sand hinterlassen haben.
Suchend tastet Xenias Hand nach dem Mobiltelefon auf der zum Nachttischchen umfunktionierten Obstkiste. Endlich reißt sie das anhaltende Klingeln und Vibrieren des Geräts restlos aus dem Schlaf. Kaum eineinhalb Stunden hat sie geschlafen. Die Kommissarin meldet sich knapp, legt nach ein paar Sekunden auf. Arne sitzt aufrecht im Bett und knipst das Licht an.
»Was ist passiert?«, fragt er blinzelnd und mit belegter Stimme.
»Schlaf weiter.«
Sie ist bereits auf den Beinen, schlüpft in Jeans und Sweatshirt, steckt ihre Dienstwaffe in den Hosenbund. Ohne Helm fährt sie durch das dunkle Viertel und biegt Richtung Zentrum ab. Die Luft ist kühl.
Auch der Busbahnhof ist Opfer der Patria Nostra geworden, einer fremdenfeindlichen Gruppierung, die seit Tagen die Region mit Plakaten voller Hassparolen gegen die Europäische Union und Deutschland zukleistern. Plump in der Aufmachung und in einem Kauderwelsch, das seinesgleichen sucht. Der Kleister ist noch feucht.
NIX FRIEDE.
100 anni senza pace.
RAUS dall’Italia!
BASTA. SCHLUSS.
No all’egemonia crucca!
NO ALL’EUROPA INVASORE.
PATRIA NOSTRA.
Xenia schüttelt besorgt den Kopf. Bei den unzähligen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs wurden regelmäßig die Errungenschaften des Vereinten Europas betont, während immer mehr Separatistenbewegungen Hass auf alles Fremde versprühen.
Seit zwei Wochen bemühen sich Arbeiter der Stadtverwaltung, die Plakate zu entfernen, bevor die Touristen morgens ihre Hotels verlassen. Vergebliche Anstrengungen, die von den Fanatikern schnell wieder zunichtegemacht werden. Undenkbar bei der knappen Personallage, ihnen durch verstärkte nächtliche Patrouillen das Handwerk zu legen.
Die Scheinwerfer der Streifenwagen der Polizia di Stato, Guardia di Finanza und der Carabinieri sind auf der Piazza Carpaccio auf eine Gruppe ausgezehrter Menschen gerichtet, die stumm auf dem kalten Asphalt kauernd der Dinge harren. Flüchtlinge aus dem Nahen Osten ihrem Äußeren nach. Eine Handvoll Beamte wacht darüber, dass sich keiner von ihnen aus dem Staub macht. Inspektor Rino Refolo, der ranghöchste Kollege unter ihnen, kommt Xenia entgegen und umreißt in knappen Worten die Situation. Er spricht leise, immer wieder schweift sein sorgenvoller Blick zu der Gruppe hinüber.
»Ein Fahrer, der die Tagespresse verteilt, hat die Gruppe gesehen und uns verständigt, Commissario. Einundachtzig Männer oder Jugendliche, acht Frauen. Beim Anrücken der Streifenwagen liefen einige über die Brücke auf die Isola della Schiusa genau in Richtung Kommissariat, wo wir sie aufgreifen konnten. Bis auf zwei. Die sind uns entwischt. Ganz sicher Ortskundige. Dunkle Seemannsjacken, schwarze Mützen, helle Haut. Keine Illegalen, eher Lotsen.«
»Und wie sind diese Leute hierhergekommen? Ausgerechnet hierher?« Widerborstig steht ihr das Haar vom Kopf ab. Die rote Strieme von der Naht des Kopfkissens auf ihrer Wange gleicht einer langsam verheilenden Narbe.
Refolo zuckt die Achseln und schaut hilflos zu der ihn deutlich überragenden, zehn Jahre jüngeren Vorgesetzten auf.
»Grado ist nur über zwei Brücken erreichbar«, sagt sie. »Niemand flieht in eine Sackgasse. Diese Leute sind übers Meer gekommen. Vor Kurzem erst ausgesetzt von einem größeren Schiff, sofern sich kein maroder Fischkutter vor den Stränden findet. Aber die schaffen die achthundert Seemeilen in die obere Adria nicht.« Xenia wählt die Nummer des Rettungsdienstes.
Noch vor ihrer Identität muss der Gesundheitszustand dieser Menschen überprüft werden. Gleich darauf verlangt sie bei der Guardia Costiera in Monfalcone nach dem diensthabenden Offizier. Die Küstenwache soll den Schiffsverkehr der letzten Stunden kontrollieren, Satelliten- und Funkmeldungen analysieren und die Verdächtigen festsetzen, bevor sie internationale Gewässer erreichen. Falls es dazu nicht längst zu spät ist.
Die Kommissarin winkt einen Kollegen heran. »Berto, besorg Mineralwasser.«
Der übergewichtige Berto Donadoni verdreht die Augen. Er ist an Trägheit kaum zu überbieten und will protestieren.
»Ich weiß selbst, dass die Läden erst in ein paar Stunden öffnen«, schneidet Xenia ihm das Wort ab. »Hol den Trottel vom Supermarkt aus dem Bett, er ist uns einen Gefallen schuldig. Los, beweg dich endlich.«
»Soll er auch Champagner für die Willkommensparty mitbringen?«
»Stilles Wasser, ohne Kohlensäure. Halbliterflaschen, kein Glas. Kapiert?«
Noch hält sie sich von der Gruppe fern. Das Telefon des Questore klingelt lange und vergebens. Xenia weiß, Polizeipräsident Falsariga wird ihr bittere Vorwürfe machen, falls sie ihn übergeht. Zwei Versuche, nichts. Sie hat keine andere Wahl, als sich direkt an Präfekt Affaiati in Gorizia zu wenden. Es braucht seine Anordnung, um eine Turnhalle als Sammelstelle freizugeben. Nachdem Affaiati sich wach geräuspert hat, stellt er in Aussicht, sich in Kürze mit weiteren Instruktionen zu melden.
Xenia nähert sich, einige der Menschen blicken ängstlich zu ihr auf. Die meisten von ihnen sind sehr jung, die wenigen Frauen sitzen eng im Kreis beieinander. Aus der Sitzordnung ist nicht zu erraten, ob einer der Flüchtlinge einen höheren Rang einnimmt. Sie sind erschöpft von der langen Überfahrt, schmutzig und verwahrlost, doch auf den ersten Blick geht es keinem von ihnen körperlich so schlecht, dass es eine Noteinlieferung verlangt.
»Good Morning. Welcome to Italy.« Xenia Zannier fühlt sich beschissen. Sie weiß ganz genau, dass in Europa kein Flüchtling mehr willkommen ist. Sie räuspert sich. »I am a police officer of the republic of Italy. Does anybody speak English?« Sie besinnt sich ihrer Amtssprache. »C’è qualcuno che parla italiano? Sono un commissario della Polizia di Stato della Repubblica Italiana.«
Ihr Blick schweift über die Köpfe. Die Leute schauen sie stumm an. Sie weiß aus ihrer Dienstzeit im Süden, dass jetzt niemand antworten wird. Diese Menschen sind nicht frei. Wenn sie durch eine Schleuserorganisation nach Europa gelotst wurden, haben sie viel Geld dafür bezahlt. Und weit mehr zu verlieren: Sicherheit, Hoffnung – so knapp vor dem Ziel hatten sie geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben.
Auch die Kollegen folgen neugierig ihren Worten. Keiner von ihnen hatte bisher mit der Aufnahme von Flüchtlingen zu tun. Sie kennen die Problematik nur aus den klischeegespickten Fernsehberichten oder der Presse. Und vom Geschwätz an den Tresen der Bars. Die Verkäufer, überwiegend Senegalesen, die in der Fußgängerzone oder am Strand ihren Tand verkaufen, kennen sie längst mit Namen. Wie die Tamilen und Bengalen mit ihren Textilläden verfügen sie über gültige Dokumente.
Xenia entscheidet sich für Englisch. »We know that you have been brought here by a vessel and that you immigrated illegally to our country and the European Union. Two of our busses will arrive in a few minutes. It is warmer inside. We will bring you to a safe place where you will get to drink and to eat. There will also be medical assistance. Please follow our instructions.«
Einer der Männer am Boden übersetzt flüsternd, sie prägt sich sein Gesicht ein. Endlich kommt der Lieferwagen des Supermarkts. Ein hagerer übermüdeter Mann ihres Alters im Trainingsanzug steigt aus. Neulich hatten sie ihm seine Tageseinnahmen vollständig wiederbesorgt, weil er nach Feierabend seine Geldtasche auf dem Autodach vergessen hatte. Bedankt hatte er sich mit keinem Wort. Er öffnet die Hecktüren und stellt wortlos einige Gebinde Plastikflaschen auf den Gehweg. Er wirft ein paar verstohlene Blicke herüber und macht sich, so schnell er kann, wieder davon. Angst vor Eindringlingen und Krankheiten? Schlechtes Gewissen und Mitgefühl schließt Xenia bei diesem Mann aus. Als der Tag über die Nacht siegt, verteilen drei Kollegen die Flaschen. Auch sie vermeiden jeden körperlichen Kontakt, als hätten sie es mit Aussätzigen zu tun.
Die Nummer der Präfektur leuchtet auf dem Display ihres Mobiltelefons. Sie entfernt sich ein paar Schritte, bevor sie das Gespräch annimmt. Dem betont freundlichen Tonfall von Präfekt Antonio Affaiati nach rechnet Xenia damit, den Fall bereits los zu sein, weil er die Flüchtlinge sofort in die nächste größere Stadt verlegen lassen will, wo mehr und vor allem geschultes Personal zur Verfügung steht. Weder Status noch Ausstattung der Dienststelle in Grado machen Hoffnung, dass ausgerechnet sie sich an die Fersen einer mafiosen Schleuserbande heften darf, die offensichtlich ortskundig ist.
»Die Illegalen bleiben vorerst in Ihrer Obhut, Commissario. Die Ordnungskräfte in Monfalcone sind anders gebunden. In Grado haben Sie es dagegen geradezu gemütlich. Außerdem ist das für Ihre Leute eine gute Übung. Die Auffanglager sind alle überfüllt. Ihr Chef ist ganz meiner Meinung«, ergänzt Affaiati.
Auf seinen Anruf hatte Questore Falsariga also geantwortet. Ärger steht ins Haus.
»Falsariga schickt Ihnen Verstärkung aus Gorizia, Leute mit Erfahrung bei der Identitätsermittlung von Illegalen. Bezüglich der Versorgung hat seine Eminenz der Erzbischof rasche Hilfe durch die Caritas zugesagt, und der Bürgermeister sagt, dass im Stadttheater wegen fehlendem Budget keine Vorstellungen stattfinden. Waschräume gibt es auch dort. Sorgen Sie aber bitte dafür, dass diese Leute keinen unnötigen Schmutz machen. Die Illegalen werden so rasch abgeschoben, wie sie angekommen sind. Wir sind hier nicht der Mülleimer Afrikas. Spätestens in drei Tagen ist der Spuk vorbei, und Sie können sich um den besonnenen Verlauf des Pfingsttourismus kümmern.«
Das war klar genug: In Grado sollten sie die Basisarbeit leisten, und danach würde wieder die übliche Langeweile einkehren. Die letzten Instruktionen des Präfekten werden vom Motorengeräusch einfahrender Omnibusse übertönt. Die blau-weiß lackierten Polizeibusse blockieren die Zufahrt, während aus einem Mannschaftswagen Kollegen in Kampfanzügen aussteigen und eine Mauer bilden.
»Eine Frage noch, Dottor Affaiati: Sind die Beamten zur Identitätsermittlung immer mit Helm, Schlagstöcken und Schutzschildern ausgestattet?«
»Was reden Sie da, Commissario?«
»Hier ist soeben eine Spezialeinheit ausgestiegen. Die Situation wird eskalieren, so, wie die sich aufbauen.« Xenia stellt sich der Truppe entschieden in den Weg und gebietet ihr mit der Hand Einhalt.
»Davon weiß ich nichts. Das Kommando haben Sie, Zannier.«
»Was geht hier vor?«, herrscht sie den Einsatzleiter an, ein etwa fünfzigjähriger Borstenkopf. »Geht das nicht behutsamer?«
»Ein Befehl des Questore, Kollegin. Er sagt, Sie seien mit solchen Situationen überfordert. Wir verfrachten sie ins Theater und sorgen dafür, dass keiner abhaut.«
Breitbeinig und mit verschränkten Armen steht er vor seinen Männern und grinst überheblich. Xenia baut sich eine Armlänge entfernt vor ihm auf.
»Weshalb wohl sitzen die Flüchtlinge hier? Bisher waren sie ruhig. Lösen Sie diese Formation auf. Ihre Leute können dann die Bewachung des Theaters übernehmen. Von außen.«
»Sagen Sie das dem Questore, Zannier. Gehen Sie mir endlich aus dem Weg.«
»Sie können es darauf ankommen lassen, in Grado kommandiere ich. Zeigen Sie mir Ihren Dienstausweis.« Der Mann bleibt stur stehen, ein nervöses Zucken umspielt seinen linken Mundwinkel. Xenia winkt Refolo und zwei weitere Beamte herbei, die sich in respektvollem Abstand gehalten haben. »Nehmt ihn fest.«
»Sie spinnen, Zannier. Das wird Folgen haben.«
»Worauf Sie sich verlassen können.«
Der Borstenkopf gibt seinen Männern das Zeichen, sich zurückzuziehen. Sie zögern zuerst, doch dann kommen sie dem Befehl nach.
»Sobald die Flüchtlinge im Theater sind, riegeln Sie mit Ihren Leuten die Straße ab, Kollege, und warten auf weitere Befehle. Refolo, lassen Sie diese Menschen einsteigen und bringen Sie sie in die Via Marchesini.«
Xenia rührt sich nicht von der Stelle. Wie ein Wachtturm steht sie zwischen der Spezialeinheit und den Flüchtlingen, die sich langsam erheben und zu den Bussen gehen.
In der Straße vor dem Auditorium Biagio Marin gibt es kein Durchkommen. Die blauen Autobusse blockieren den Verkehr. Vor dem Theater weisen zwei Beamte die Journalisten der regionalen Medien zurück, während die Kollegen aus dem Mannschaftswagen einen Korridor bilden, durch den die Flüchtlinge ins Innere des Gebäudes gehen.
Xenia hängt den Helm an den Rückspiegel des Scooters, mit einer abwehrenden Handbewegung drängt sie sich an den Reportern vorbei. »Wenden Sie sich bitte direkt an den Questore in Gorizia. Er wird noch am Vormittag eine Pressekonferenz einberufen. Am besten fahren Sie gleich rüber, dann verpassen Sie nichts.«
Nur wenige fallen darauf rein. Ein Kameramann des regionalen Fernsehsenders filmt die Helfer der Caritas, die Kleidung und Lebensmittel ins Gebäude schleppen. Xenia übergibt an Inspektor Refolo und fährt ins Kommissariat. Der Anruf von Questore Falsariga wird nicht lange auf sich warten lassen, er wird sie gewiss wegen Eigenmächtigkeit und Kompetenzüberschreitung rügen.
Nur Donadoni sitzt im vordersten Büro und stiert auf den Eingang. Immerhin riecht es nach Kaffee, Xenia sieht sich vergeblich nach einer Tasse um, nimmt wortlos die des Beamten und spült sie flüchtig aus.
»Kaffee machen kannst du also auch nicht.« Sie stellt die Tasse angewidert auf den Schreibtisch. »Dir bringt vermutlich deine Frau den Espresso ans Bett.«
»Und weckt mich mit zärtlichen Küssen. Nein danke, ich bin glücklich geschieden.«
»Hat jemand angerufen?«
Berto Donadoni beugt sich gemächlich über ein Blatt auf dem Schreibtisch. »Die sind übrigens vor der Diga gelandet. Ein orangerotes Boot, den Lackspuren an der Mole zufolge. Und Fußspuren im Sand. Ich hab selbst nachgesehen. Ach ja, vorhin hat einer angerufen.«
»Wer?«
Der Dicke hebt wortlos die Schultern.
»Sein Name?«
»Ein Italiener war es auf jeden Fall nicht«, fügt er sogleich mit erhobenen Händen hinzu, ganz die Unschuld vom Lande.
»Die Telefonnummer?«
Er schreibt ein paar Zahlen auf einen Zettel und legt ihn vor die Kommissarin. »Meine Schicht ist jetzt eigentlich zu Ende.«
»Dann machst du heute eben Überstunden. Du bleibst, bis die Kollegen zurück sind und jemand übernehmen kann.«
Xenia Zannier schüttet den Kaffee zum Fenster hinaus. Refolo hatte die beiden Männer vage beschrieben, die in der Dunkelheit entwischt waren. Ein Altersunterschied wie zwischen Vater und Sohn, abgewetzte schwarze Jacken, die darauf schließen lassen, dass sie diese ständig tragen. Ein Hinweis, dem zu folgen ist. Die Kommissarin wettet darauf, dass man diese Typen in der Stadt kennt und bald auch ihr Stammlokal ausfindig macht. Genau dort muss man sie festnehmen, damit ihre Kumpels gewarnt sind. Die Typen auszuquetschen wird allerdings dauern. Die Fischer in Grado sind zähe Schweiger.
Sie wirft einen Blick auf den Zettel, den Donadoni ihr gegeben hat. Eine österreichische Vorwahl. Sie kennt die Nummer.
Grado, Isola della Schiusa. Kommissariat.
»Ist was passiert?«, ruft Valerio Alfieri dem Beamten zu.
Auf seiner Insel hatte er nur noch darauf gewartet, dass das kleine Frachtschiff im Morgengrauen wie geplant in den Schifffahrtskanal einfuhr, der durch die Lagune führt. Erst danach machte er die Leinen des flachen Boots los, um drüben in der Stadt mit dem Motorrad zur Post zu fahren und das Schließfach zu leeren. Er sah die Busse der Polizia di Stato, die nach Grado hereinfuhren. Die sonst verschlafene Dienststelle ist ungewöhnlich geschäftig, als er im Hof des Kommissariats den Zündschlüssel seiner Harley-Davidson auf Stopp stellt.
»Wir haben Hunderte Illegale am Busbahnhof aufgegriffen.« Berto Donadoni lehnt wie ein Waschweib im Fensterrahmen und schnipst seine Zigarette in den Hof.
»Ihr doch nicht?« Lachend nimmt Alfieri den Helm ab, worauf sein mit dicken grauen Strähnen versetztes Haar bis auf die Schultern fällt. »Ihr seid viel zu wenige für so einen Coup. Erzähl das jemand anderem.«
»Jeder weiß, dass Sie diese Leute lieber mögen als uns, obwohl sie uns die Arbeitsplätze wegnehmen und unsere Frauen.«
»Red keinen Unsinn. Wenn sich die Politik unmenschlich verhält, sind wir gefragt. Jeder Einzelne von uns. Denk dran, wenn es dir mal schlecht geht.«
Der träge Donadoni steckt sich noch eine Zigarette an. »Sie können sich das ja leisten. Aber unsereins verliert mit jedem, der hier ankommt. Denen wird das Geld nur so hinterhergeworfen. Und Sie, Signor Alfieri, geben denen sogar Arbeit, anstatt jemanden von uns anzustellen.«
»Das hab ich lange genug versucht. Euch geht es allen zu gut, um den Rücken krummzumachen und Land zu bestellen. Gemüse kennt ihr nur aus dem Supermarkt.«
Valerio Alfieri gilt als Idealist. Seit Jahren investiert er in Immobilien in der Altstadt, die er originalgetreu renoviert und günstig an junge Leute vermietet, um etwas gegen die Abwanderung zu unternehmen und den Ausverkauf an Deutsche und Österreicher zu verhindern. Andere halten ihn für einen miesen Spekulanten, der an der Frankfurter Börse ein Vermögen verdient hat und es sich erlauben konnte, sich früh aus dem Berufsleben zurückzuziehen.
Das Erdgeschoss des niedrigen Gebäudes auf der Isola della Schiusa hat er an die Staatspolizei vermietet, als man in Grado wieder ein Kommissariat eröffnete. Er hatte sich lediglich ausbedungen, das Motorrad und seinen Wagen auf dem Gelände parken zu dürfen. Die neue Kommissarin, in seinen Augen eine hochgewachsene Blonde mit Adrenalinüberschuss, hatte Sicherheitsbedenken vorgebracht, musste am Ende aber nachgeben. Seine Verbindungen zur Präfektur und manchen Politikern hatten schwerer gewogen. Für Alfieri ist es die bequemste Lösung: Nebenan befindet sich der Anleger, an dem seine hochseetüchtige Motorjacht liegt und wo auch das flache Boot vertäut ist, mit dem er täglich durch die Lagune zu seiner privaten Insel Sant’Andrea fährt.
Er winkt Donadoni, streicht sich durch den Vollbart und klemmt die Post unter den Arm. Dann schließt er das Tor und geht zur Treppe in den ersten Stock. Er schaltet sein Telefon ein und wählt eine türkische Nummer. Nebenher legt er die Lieferscheine für das Gemüse aus, die seine Sekretärin später bearbeiten wird.
»Alles okay. Die Ware ist angekommen. Nur hat sie sofort einen Großkunden gefunden.« Er hält sich kryptisch kurz.
Seine Kommunikation führt er fast nur hier, auf seiner Insel duldet er weder Computer noch Mobiltelefon. Auf Sant’Andrea ist er nur persönlich erreichbar und im Büro nur in den frühen Morgenstunden mancher Wochentage. Wenn er telefonisch sehr wichtige Dinge zu regeln hat, nimmt er die große Jacht und fährt in internationale Gewässer hinaus, von wo er die Gespräche über Satellit führt.
Seit acht Jahren ist die Isola di Sant’Andrea sein ausschließlicher Wohnsitz. Seit seinem Rückzug aus dem Börsengeschäft kümmert sich seine Frau Feride Akgün in Frankfurt um den in Deutschland belassenen Teil seines Vermögens, während er sich dem Gemüseanbau und der Fischzucht widmet und die Abgeschiedenheit genießt. Sant’Andrea bildet die natürliche Barriere zur offenen Adria und schützt die beiden Lagunen von Marano und von Grado vor Sturmfluten. Nur die Fahrrinne für die kleineren Frachtschiffe zum Terminal von Porto Nogaro führt daran vorbei, und manchmal nähern sich die kleinen Mietboote allzu neugieriger Touristen, die der Meinung sind, dort eine Trattoria zu finden. Große Schilder am Anleger schrecken sie schließlich ab.
Neben der Tatsache, dass es das Schiff, ein schrottreifer Seelenverkäufer, bis zum nördlichsten Punkt der Adria geschafft hat und seine Strategie damit bereits fast aufgegangen war, macht etwas anderes Valerio Alfieri an diesem Morgen zu einem noch zufriedeneren Menschen: Seine zähen Verhandlungen mit Romana Castelli de Poltieri haben endlich das gewünschte Resultat gebracht. Die Senatorin stimmt der Veräußerung seiner Aktienmehrheit an der ChimiCo SpA im nahe gelegenen Torviscosa an die deutsche MainChemie AG zu. Bisher hatte sich die Politikerin mit dem Hinweis gesperrt, die ChimiCo sei ein strategisch wichtiges Unternehmen. Bei einem Verkauf stünden über hundert Arbeitsplätze auf dem Spiel. Und schon zu viele internationale Großkonzerne seien im krisengeschüttelten Italien auf Einkaufstour, um sich die besten Betriebe unter den Nagel zu reißen. Von der Landesregierung zugesagte Investitionszuschüsse und Steuergeschenke sowie politische Zusagen aus Deutschland mussten für ihr Einlenken ausschlaggebend gewesen sein. Umsonst gab es von der Senatorin nichts. Und die Tageszeitungen hatten in den letzten Tagen verlautbart, dass Romana Castelli de Poltieri auf deutschen Rückhalt baue bei der Wahl des nächsten Generalsekretärs der OSZE , der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Nur einmal in seinem Geschäftsleben, als er die ChimiCo SpA erwarb, hatte der gebürtige Mailänder Valerio Alfieri sich von Emotionen leiten lassen. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte sein Großvater im Auftrag des Duce den Ort Torviscosa geplant. Das faschistische Italien sollte durch neue Industriezentren unabhängiger werden. Schon ein Jahr nach der Grundsteinlegung hatte Mussolini inmitten der trockengelegten Sümpfe schließlich die Viskoseproduktion eingeweiht. In den Fünfzigern wurde der Ort zu einem Chemiezentrum privatisiert, doch seit der Öffnung der Weltmärkte ist die ChimiCo der einzige relevante Arbeitgeber dort und weist herbe Verluste aus. Nur die Bereiche Fluorwasserstoff und Ammoniumhydrogendifluorid laufen noch. Der Markt von Dual-Use-Produkten ist krisenresistent. Trotz aller internationalen Exportkontrollen genießen Güter, die sowohl zivil als auch militärisch weiterverarbeitet werden können, eine mindestens konstante Nachfrage. Die ChimiCo ist der ideale Übernahmekandidat für ein kapitalstarkes Großunternehmen wie die MainChemie mit Zugang zum Weltmarkt. Alfieri wird es seiner Frau Feride als Erster berichten. Seit Langem hatte sie ihn dazu gedrängt, das defizitäre Unternehmen abzustoßen. Sie wird erleichtert sein.
Während Valerio Alfieri die Leinen löst, den Bug des Boots in die Lagune dreht und den Kragen seiner schweren Lederjacke hochschlägt, sind seine Gedanken schon wieder bei den Gemüsebeeten und den Anweisungen für die afrikanischen Arbeiter, denen er freie Kost und Logis sowie ein Salär bietet, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind. Kaum einer bleibt allerdings länger als ein paar Wochen.
Kühltransporter einer Biosupermarktkette warten jeden Morgen an der Mole auf die kommissionierte Tagesernte, und ein Restaurant am Fischereikanal, das nur mit lokalen Produkten kocht, ist der zweitwichtigste Kunde. Die nicht abgesetzte Ware geht kostenlos an ein Altersheim und zwei Kindergärten. Doch obwohl Stadtverwaltung und Handelskammer seine Großzügigkeit Jahr für Jahr als beispielhaft erwähnen, fühlt Alfieri sich immer wieder unüberwindbar benachteiligt: Reicht er eine Baugenehmigung für die Erweiterung seines Wohnhauses ein oder für eine neue Lagerhalle, lässt man ihn mit Hinweis auf die Bürokratie freundlich abblitzen. Feride behauptet, es sei der Neid. Wenn er wenigstens eine Frau aus Grado geheiratet hätte anstatt einer Deutschtürkin, würde er selbst noch das hässlichste Projekt genehmigt bekommen.
Die Niederschläge und die überdurchschnittlich kühlen Temperaturen der ersten Maiwochen haben das Land auf der kaum drei Meter über den Meeresspiegel ragenden Insel mit ihrem artesischen Brunnen in einen Sumpf verwandelt. Doch die Wettervorhersagen machen Hoffnung auf rasche Besserung. Sobald die Sonne die Wolken durchbricht, werden die Pflanzen schneller sprießen, als das Auge es erfassen kann. Noch ist die Farbe des Meers metallisch grau, aber die Bora treibt bereits die ersten Böen über das Wasser und reißt die schwere Wolkenschicht auf, die erste Stücke des blauen Himmels freigibt.
Grado, Isola della Schiusa. Kommissariat.
Die Telefonnummer auf dem Zettel. Xenia wundert sich, dass Jordan S. Becker sich schon so früh gemeldet hatte. Hat er etwa über einen der Kanäle, auf die er bei seinen heiklen Recherchen zurückgreift, bereits von der Landung der Flüchtlinge in Grado gehört? Für Xenia ist Becker einer der letzten unbestechlichen Rechercheure. Wenn er sich einmal in ein Thema verbissen hat, scheut er keinen Aufwand. Vor allem verfügt er über einen Vorteil, um den Staatsanwälte und Polizisten ihn nur beneiden können: Er kann ohne bürokratische Hürden auf sein internationales Netzwerk von Informanten und Kollegen zurückgreifen und muss dabei keine nationalen Gesetze beachten. Und er vermag Menschen dazu zu bringen, mit ihm zu reden, selbst wenn sie auf der Anklagebank sitzen oder dort landen könnten. Allerdings hat er sich mit seiner Berichterstattung oft genug Ärger eingehandelt. Nur ein Thema hat er in den vergangenen Jahrzehnten konsequent beibehalten: Xenia. Abgesehen von der Rekapitulation der Erdbebennacht von 1976 und den Umständen ihrer Geburt, gibt er darin einen Abriss ihres rasanten Aufstiegs innerhalb des Polizeiapparats sowie einiger größerer Fälle, die im Süden des Landes unter ihrer Führung aufgeklärt wurden. Und plötzlich die Versetzung in den Nordosten.
Strafe oder Strategie? War Hauptkommissarin Xenia Zannier zu unbequem? Soll sie jetzt in einem gemächlichen Adria-Seebad ausgetrocknet werden? Auszuschließen ist das nicht. Genauso wenig wie eine Strategie, die nicht bekannt werden soll.
Becker nimmt nach dem dritten Klingeln ab. »Gut, dich zu hören, Xenia. Ich habe allerdings nicht viel Zeit. Ich habe gleich einen Termin beim Leiter der Sonderkommission Middle European Credit Bank.«
Vor Jahren hatte Becker sich wie ein Pitbull in die Machenschaften eines österreichischen Finanzinstituts verbissen. Die MEC war bereits Anfang der Neunziger tief in kriminelle Geschäfte während des Umbruchs auf dem Balkan verstrickt und wurde schließlich von der BavariaFinance Group in München übernommen. Seines Erachtens ein vergeblicher Vertuschungsversuch mafioser Machenschaften, von Betrug, Geldwäsche und Bereicherung – das bis dahin größte Wirtschaftsverbrechen im Europa der Nachkriegszeit. Die Politik in der Alpenrepublik versuche mit aller Kraft, Ermittlungen im Ansatz zu ersticken. Immer wieder fiele ihm als Journalisten der Teil der Aufklärung zu, der eigentlich von der Exekutive geleistet werden müsste.
»Bist du noch dran?«
Xenia hebt die Brauen. »Gibt’s etwa Neuigkeiten?«
»Mir wurde Material zugespielt, das belegt, dass die BavariaFinance bereits vor der Übernahme das gesamte Ausmaß des Desasters kannte. Die Deutschen klagen jetzt auf Schadensersatz, dabei kannten sie den Umfang der Spekulationsgeschäfte genau. Sogar der Rückkauf durch einige Altaktionäre war vereinbart, bei dem allerdings nur noch ein Bruchteil des Preises anfallen und der Rest dem Steuerzahler aufgehalst werden sollte. Milde gerechnet zwanzig Milliarden. Mir fehlt nur noch das juristische Bindeglied, um die Sache wasserdicht zu machen. Dann kann ich damit an die Öffentlichkeit. Ich versuche, einen Deal mit dem Staatsanwalt auszuhandeln. Eine Hand wäscht die andere. Deine Freundin, die Senatorin, könnte das um Kopf und Kragen bringen.«
»Gratuliere. Wie ich dich kenne, kriegst du das auch noch hin.«
»Deswegen habe ich dich angerufen. Wir müssen uns sehen. Ich fühle mich nicht mehr sicher. Vor fünf Wochen wurde ich am helllichten Tag zusammengeschlagen. Inmitten einer Horde japanischer Touristen. Oder Chinesen. Und vor drei Wochen wurde mein Büro durchsucht, der Computer zerstört und Akten gestohlen. Das entscheidende Material haben sie aber nicht gefunden. Wenn es dumm läuft, geht es das nächste Mal schief.«
»Warum? Du hast doch beste Kontakte. Du musst das mit einem Ermittler besprechen, dem du vertraust und der mit dir an einem Strang zieht.«
»Den gibt’s in ganz Österreich nicht, Xenia. Vergiss es. Außerdem müsste ich Dinge erklären, die ich selbst erst in jahrelanger Arbeit begriffen habe. Meine einzige Sicherheit ist, eine Kopie der Recherchen an einem sicheren Ort zu deponieren.«
»Verstehe. Aber das sind keine Dinge, die man am Telefon bespricht.« Xenia zieht noch einmal an ihrer Zigarette und drückt sie aus. Immer wieder hatte sie ihn ermahnt, sich bei ihren Gesprächen bedeckt zu halten und verschlüsselt einen Treffpunkt zu vereinbaren, an dem sie unter vier Augen miteinander reden konnten. Von Salzburg nach Grado ist es nicht so weit, dass man sich nicht auf halbem Weg in den Bergen verabreden könnte.
»Übrigens läuft da noch etwas anderes«, fährt Becker fort. »Einige der Drahtzieher kennst du. Auch die Senatorin hat mit der Übernahme einer Chemiefabrik in Torviscosa zu tun.«
»Das steht sogar in der Zeitung.«
»Aber dass der deutsche Auslandsgeheimdienst die Regie führt, wohl kaum. Außerdem saß diese Frau lange im Aufsichtsrat der MEC . Vielleicht hilft dir das. Ich muss jetzt los, sonst platzt mein Termin mit dem Staatsanwalt.«
»Ich komme nach Salzburg, Jordan. Dann bereden wir alles.«
»Ich melde mich später.«
Noch während sie auflegt, steht Donadoni in der Tür. Sein dicker Bauch ragt aus der offenen Uniformjacke hervor, das Hemd spannt an den Knöpfen, den Gürtel seiner Hose hat er gelockert, der Reißverschluss steht halb offen. Die Kommissarin wirft ihm einen wütenden Blick zu.
»Die Nervensäge von der Küstenwache hat schon zweimal angerufen, während Sie am plaudern waren.« Er schnieft.
»Gib mir seine Nummer.«
»Ich habe sie nicht aufgeschrieben. Ich dachte, die haben Sie.« Der Uniformierte wendet sich zum Gehen.
»Du siehst aus wie ein abgehalfteter Penner, Berto. Wie heißt der Mann?«
»Ich frage nie nach, Commissario. Das ist unhöflich.«
»Verschwinde und richte deine Uniform.« Xenia wählt die Nummer der Küstenwache und wird durchgestellt.
Die Angaben des Offiziers sind präzise wie ein Navigationsbefehl: Im Morgengrauen machte im nahen Hafen von Porto Nogaro um viertel nach fünf die EARLY SUN fest. Ein kleines Frachtschiff, 1977 in einer japanischen Werft gebaut. Registriert im Russian Maritime Register, fährt es unter panamaischer Flagge. Der Eigner sitzt in Tripoli im Libanon. Die Ladung besteht aus Flachstahl, den es im südtürkischen Hafen İskenderun nahe der syrischen Grenze geladen hat. Dort hat es wohl auch die Flüchtlinge an Bord genommen. Der türkische Kapitän wurde festgenommen, das Schiff ist beschlagnahmt. Auch die Besatzung ist in Gewahrsam, man wartet auf einen amtlichen Übersetzer. Beamte der Küstenwache und Kriminaltechniker krempeln den Kahn um. Es war ein Leichtes gewesen, ihn zu finden. Dem Radar der Behörden, der Satellitenüberwachung und den Funkmeldungen entkommt niemand. In Porto Nogaro, einem in Meeresnähe gelegenen Flusshafen, legen nur wenige und kleine Schiffe an. Die Kratzspuren am Bug der Rettungsboote entsprechen dem Farbton der Lackspuren an der Mole der Spiaggia principale.
Berlin, Platz der Republik. Bundeskanzleramt.
Trotz der Sonne wurde die Maschine beim Anflug so heftig durchgeschüttelt, dass zwei Manager in seiner Sitzreihe sich mit blassen Gesichtern an die Sitzlehnen krallten, bis sich die Knöchel ihrer Hände weiß unter der Haut abbildeten. Bernd Körber ist Turbulenzen gewohnt, seit er Teil des Auslandsgeheimdienstes wurde.
Er gähnt, ohne die Hand vor den Mund zu halten, sein Blick schweift aus dem Fenster der Limousine. Er gibt Anweisung, am Spandauer Schifffahrtskanal entlangzufahren. Als versuche er zwanghaft, seinen Widerwillen gegen die Hauptstadt aufzufrischen, besteht Körber bei jeder Dienstreise nach Berlin auf der alten Strecke und betrachtet aus dem Fond der Limousine die Tristesse bedeutungsloser Kleinbetriebe, Blechlawinen in den Höfen osteuropäischer Gebrauchtwagenhändler, Lagerhallen von Kleinspediteuren und Low-Cost-Autovermieter. Die Sonne steht hier zu dieser Jahreszeit am frühen Morgen zwar höher als im Süden, doch die wenigen Blätter an den Bäumen vermögen die Trostlosigkeit der Randbezirke Berlins nicht zu verhüllen. Der späte Frühlingseinbruch ist für Körber schon Grund genug, sich dem Umzug der Behörde zu verweigern. Und der Gedanke, irgendwann über den neuen Großflughafen reisen zu müssen, widert ihn an – sollte er jemals fertiggestellt werden.
In Pullach kennt man sich, trifft sich nach Feierabend unter Kollegen zum Bier. Im alteingesessenen Behördendomizil wird den Dienstältesten Respekt gezollt. Schon die Patina der einst von den Nazis erbauten Siedlung strahlt aus, dass Neuerungen nur zäh durchzusetzen sind. In der Hauptstadt hingegen errichtete man die neue Zentrale ausgerechnet in der Chausseestraße, unweit des Brecht-Hauses und der früheren Wohnung des kommunistischen Liedermachers Wolf Biermann. Ein von uneinsehbaren Mauern umgebener Komplex mit vierzehntausend Fenstern. Hier laufen für Körbers Geschmack zu viele junge Schnösel herum, die keinen Arsch auslassen, um in ihn reinzukriechen. Und die ständig auf seine Narbe oberhalb der linken Augenbraue starren.
Heute muss er sie wieder ertragen. Zuerst Kanzleramtsminister von Menzig und dann Weißenfels, seinen designierten Nachfolger. Ein beißwütiger Bundeswehrhengst im Majorsrang, den der Minister wegen seines Parteibuchs durchgesetzt hat. Zu den wenigen Prinzipien, zu denen Körber sich hingegen bekennt, zählen Standfestigkeit, Sachkenntnis und immer einen Schritt weiter zu sein als der Gegner. Ideologien und Parteibücher perlen an ihm ab wie an einem Ölmantel. Bernd Körber brachte es in seiner vierzigjährigen Laufbahn weit und firmiert seit zwei Jahrzehnten als Direktor der Expertengruppe Südosteuropa der Abteilung EA des Bundesnachrichtendienstes, Einsatzgebiete/Auslandsbeziehungen. Schwerpunkt Balkan. Mit Österreich, aber ohne Bayern, wie er früher scherzte. Und er ist meist selbst vor Ort, um die Dinge zu regeln. Er hält nichts davon, im Büro zu sitzen und zu delegieren.
Wieder gähnt der klein gewachsene Mann mit den geröteten Wangen und den geplatzten Äderchen auf der Nase. Er putzt die großen Brillengläser und wirft einen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr, als sich der Wagen dem Platz der Republik nähert. Kurz nach acht, er kommt verspätet, doch einen früheren Flug von München gibt es nicht.
»Ich hoffe, Sie haben einen Mantel dabei, Herr Direktor«, sagt der Chauffeur, während er die Tür aufhält und auf eine dunkle Wolke im Osten zeigt. »Es ist ein abrupter Wetterumschwung angekündigt.«
»Wie jedes Mal, wenn ich in die Hauptstadt komme. Und in München sitzen schon alle im Biergarten.«
Drei Lesebrillen liegen auf dem Konferenztisch des Bundesministers im Kanzleramt. Eine auf einem Stapel Unterlagen, eine weitere sitzt auf seiner Nase.
»Jeder plant für sich allein. Doch ab und zu jemandem einen Gefallen zu tun heißt auch, selbst einen erwarten zu dürfen, wenn es nötig ist.« Dr. Hartlieb von Menzig tippt auf ein Blatt Papier. »Der Nahe Osten ist seit der Irak-Affäre offiziell natürlich nicht mehr unser direktes Operationsgebiet, Herr Direktor. Nur die Fregatte SACHSEN und das Flottendienstboot OKER bleiben vor der syrischen Küste im Einsatz. Ansonsten stützen wir uns auf die Auswertungen unserer Verbündeten.«
Die Stimme des Ministers ist klar wie Morgenluft, er nimmt die Brille ab und wirft sie auf den Tisch. Der Ausdruck seiner graugrünen Augen ist wie immer heiter und täuscht über den Gemütszustand Menzigs hinweg.
»Die Türkei und Israel genügen uns als Basis. Aber unsere Verbindungen auf dem Balkan sind ein Ass im Ärmel, um das uns unsere Alliierten noch immer beneiden.« Hartlieb von Menzig lehnt lässig in seinem Stuhl. Nichts in seinem Gesicht verrät, was er von seinem Gegenüber hält.
»Sie können es nicht wissen, Herr Minister, aber heute ist der fünfzehnte Todestag meiner Frau. Nach Berlin zu kommen fiel mir nicht leicht, reden wir also bitte nicht um den heißen Brei herum. Sie haben mich nicht ohne Grund einbestellt.«
»Nachträglich mein Beileid, Herr Körber. Sie haben sie sicher sehr geliebt.« Von Menzig blinzelt kurz und schnappt sich eine seiner Brillen, bevor er zur Sache kommt. »Die demokratische syrische Opposition braucht schleunigst mehr Unterstützung vom Westen, bevor die fundamentalistischen Terroristen die Situation endgültig zu ihren Gunsten wenden können. Und dass es denen nicht an Nachschub fehlt, wissen Sie. Wir haben in Kroatien noch immer riesige Waffenbestände, die während der Bosnienoffensive nicht gebraucht wurden.« Der Blick des Ministers bleibt auf Körbers Narbe stehen. Das Souvenir vom Hindukusch an seiner Stirn hatte er sich 1982 durch einen Streifschuss an der pakistanisch-afghanischen Grenze gefangen. In einer streng geheimen Aktion musste er von den Mudschaheddin erbeutetes russisches Kriegsgerät übernehmen, damit es in Deutschland analysiert werden konnte, um Einblick in die Waffentechnik der Sowjets zu bekommen.
»Und das soll wie immer der alte Körber erledigen«, kommentiert Körber trocken. Er hatte einst die Lieferung von Dual-Use-Produkten in den Irak, nach Syrien und Libyen organisiert, und auch für Raketenlieferungen in den Sudan hatte man seine Erfahrung gebraucht. »Wissen Sie eigentlich, Herr Minister, wann Deutschland seinen ersten Giftgasexport getätigt hat? 1916 an die Österreicher zur Isonzofront, weil die den Italienern sonst nicht mehr standgehalten hätten.« Seit dem Tod seiner Frau hat Bernd Körber nichts mehr zu verlieren. Seine rot geränderten Augen starren den Vertrauten der Kanzlerin ausdruckslos an.
»Wie immer polemisch, Körber. Wer Sie nicht kennt, würde sofort die Loyalitätsfrage stellen. Alle Welt weiß doch, dass die Italiener uns zuerst verraten haben und dann nur dank des Beistands ihrer Alliierten zu Siegern wurden.« Wieder der strahlende Blick Menzigs, der schon viele getäuscht hat. Er greift nach dem dünnen Stapel Papier auf dem Tisch.
»Wissen ist hilfreich. Aber man muss es interpretieren können. Zwei Probleme stellen sich bei dieser Waffenlieferung.« Körbers Hände verharren reglos auf der Tischplatte. Die Ärmel seines Jacketts werfen grobe Falten an den dünnen Armen. Das aufgedruckte Muster seiner gelben Krawatte passt nicht zu seinem blassblauen Hemd: Tennisschläger. Maja hatte ihm damals so eine geschenkt, seither kauft er sie immer wieder nach. »Seit unsere kroatischen Freunde Mitglied der Europäischen Union und auch der NATO wurden, ist der Preis unverhältnismäßig gestiegen. Der Spielraum ist enger geworden. Meldepflichten gegenüber Brüssel, Kontrollen, Transparenz. Und die politische Opposition versucht sich jetzt kleinlich für die Vergangenheit zu rächen, Herr Minister. Dazu die Staatsanwälte und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Selbst in Kroatien sind die Möglichkeiten nicht mehr die gleichen wie damals, als Sie noch nicht in der Politik waren.«
Der Minister übergeht den Seitenhieb. »Lieber Körber, auf den Schlüsselpositionen sitzen meist noch die richtigen Leute. Und Sie kennen sie besser als jeder andere. Es führt kein Weg daran vorbei. Der Flüchtlingsdruck auf Europa nimmt gefährliche Dimensionen an. Die in Syrien verfolgten Christen könnten wir gerade noch aufnehmen, aber all die anderen sorgen für Angst in der Bevölkerung. Das Boot ist voll. Und Sie müssen mit diesem Einsatz das Leck stopfen.«
»Natürlich kenne ich Wege, die Sache durchzuziehen, aber …«
»Nutzen Sie Ihre Kontakte, denken Sie an Ihre Abschiedsprämie.« Die Lesebrille schaukelt an einem Bügel zwischen den Fingern des Ministers. »Die Analyse der Amerikaner belegt, dass Syrien noch nicht überwiegend von fundamentalistischem Terror durchsetzt ist. Wir müssen kooperieren, um Schaden von der Bundesrepublik fernzuhalten und um dem Flüchtlingsdruck Herr zu werden. Alle wollen zu uns.«
»Es ist eine Frage des Preises.«
»Die Amerikaner und die Briten haben sich mit dem Plazet der Franzosen zu dieser Lieferung entschieden. Die Bundesrepublik stellt lediglich ihre Kontakte zur Verfügung. Durch Sie, Körber.« Von Menzig wedelt mit den Blättern, er zieht die Brille aus der Brusttasche. »Überbestände aus dem Bosnienkrieg. Sie stehen in kroatischen Armeedepots bereit. Granatwerfer Milkor MGL/RGB -6, Panzerabwehrkanonen vom Typ M60 und anderes. Das ist Ihre Liste. Sie regeln die Verschiffung. Die Chefin hat die Sache abgenickt.«
Menzig wirft die Papiere auf den Tisch, richtet sich auf und steckt demonstrativ den Montblanc in die Innentasche seines Jacketts, als wolle Körber ihn stibitzen.
»Die Zeit drängt.« Er erhebt sich und überragt den Mann aus Pullach um mehr als einen Kopf. »Sie informieren niemand anderen als mich. Auch nicht beim BND . Offiziell reisen Sie in meinem Auftrag, um ein paar symbolische Orte wegen eines möglichen Staatsbesuchs der Kanzlerin zu sondieren: Zagreb, Rijeka, die ehemaligen kroatischen KZ s Loborgrad und Jasenovac sowie die Kroatiendeutschen zwischen Vukovar und Osijek.« Wieder starrt von Menzig auf seine Narbe.
»Durchaus glaubwürdig, das gebe ich zu.«
Sobald in der Behörde die Sprache auf die ehemaligen Konzentrationslager kommt, wird niemand weiter nachfragen. Schadenfreude oder Mitleid wird er aus den Gesichtern der Kollegen lesen können, dass ausgerechnet er eine solche Mission übernehmen muss, die ein Anfänger erledigen könnte. Der Beginn des Abstiegs.
»Und um Ihnen den Rücken freizuhalten, kümmert sich so lange Major Weißenfels um die Amtsgeschäfte. Vor allem um die Koordination mit den Italienern wegen der Friedensfeier der Regierungschefs zum Hundertjährigen des Giftgaskriegs an der Isonzofront. Sie rückt immer näher, übergeben Sie ihm die Liste Ihrer Kontakte und bringen Sie ihn auf den aktuellen Stand.«
Ein Tiefschlag. Das ist seit Jahrzehnten Körbers ureigene Domäne. Seine Entmachtung hat also bereits begonnen. Er schluckt trocken und hebt fragend die Brauen. Der Umgang mit den Kollegen in Rom verlangt Fingerspitzengefühl, das er seinem Nachfolger nicht zutraut.
»Die Friedensfeier ist ein Appell für die Stabilität in Europa und die gemeinsame Ächtung von Chemiewaffen ein Zeichen für die Zukunft. Und Sie, Körber, müssen zu allem ja auch die Übernahme von diesem Chemiebetrieb in Torviscosa durchziehen. Die Senatorin, die das Geschäft auf italienischer Seite garantieren soll, ist uns doch hoffentlich noch gewogen.«
»Es ist nur eine Frage von Tagen, bis die Verträge unterzeichnet werden können. Senatorin Castelli de Poltieri will lediglich die Garantie dafür, dass sie im Rahmen der Friedensfeier mit der Kanzlerin zusammentrifft. Könnten Sie das ins Protokoll setzen? Davon hängt alles ab.«
»Diese Produktionsstätte ist wichtig für uns«, unterbricht von Menzig harsch. »Wegen der Waffenexportkontrollen verlagern unsere Konzerne die Produktion ins Ausland. SIG Sauer will in den USA produzieren, und Heckler & Koch muss über ausländische Niederlassungen liefern. Wenn die MainChemie die ChimiCo übernimmt, können wir unser Know-how in der Produktion von Dual-Use-Produkten profitabel in Italien einbringen, ohne dass die Medien Wind davon bekommen. Außerdem sichert es Arbeitsplätze.«
Körber fragt sich, ob Menzig abschweift, um ihn abzulenken. »Die Senatorin wird uns nicht in den Rücken fallen, Herr Minister, solange Sie ihre Unterredung mit der Kanzlerin garantieren. Ohne sie kann der Mehrheitseigner die Firma nicht verkaufen. Diese Frau mischt auch bei der Planung der Friedensfeier in Redipuglia mit. Ich kenne sie seit über zwanzig Jahren, wir müssen uns an die Absprachen halten. Sonst wird sie stur wie ein Esel. Es ist besser, alles in einer Hand zu wissen.«
»Es ist unmöglich, dass Sie das alles gleichzeitig schaffen, Herr Direktor. Es bleibt dabei, die Sache mit der Zeremonie liegt bei Major Weißenfels. Das Zusammentreffen der Senatorin mit der Chefin wird er in Absprache mit mir arrangieren. Sie haben mein Wort. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Immer vorausgesetzt, dass nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt, Herr Minister.« Wieder einmal muss Körber die Drecksarbeit übernehmen, deren Ergebnisse beim nächsten internen Jahresbericht seinem Nachfolger gutgeschrieben werden, der dafür keinen Finger zu regen braucht. »Sind Sie sicher, dass bei Ihnen alle dichthalten, Herr von Menzig?«
Der Minister fährt hoch und wirft seine Brille auf den Tisch, doch Körber fährt unbeirrt fort.
»Wir überwachen seit Monaten einen dieser Schmierfinken, der sich durch nichts abschrecken lässt. Ein Jordan S. Becker, Journalist in Salzburg. Er weiß bereits über die Sache mit der ChimiCo Bescheid. Das ist an sich nichts Schlimmes. Allerdings kennt er sich bei der Übernahme der MEC Bank fast besser aus als alle, die damals beteiligt waren. Seine Artikel haben bisher viel Staub aufgewirbelt.«
»Dann regeln Sie das. Das kann doch nicht schwierig sein. Es bleibt dabei, Sie verantworten die reibungslose Übernahme der ChimiCo durch MainChemie. Und Weißenfels die Zeremonie. Basta.« Nach dem Machtwort lockert sich von Menzig wieder. »Wie lange brauchen Sie?«
»Geben Sie mir einen Monat.«
»Nicht einmal zwei Wochen, Körber. Denken Sie an den Flüchtlingsdruck.«
Ein unergründbares Lächeln umspielt Körbers Mundwinkel, als der um fast zwanzig Jahre jüngere Menzig ihm zum Abschied viel Erfolg wünscht. Die Zeit bestimmt immer noch er, da können die da oben machen, was sie wollen. Und auch von Weißenfels wird er sich nicht ins Handwerk pfuschen lassen.
Kurz vor 9 Uhr verlässt Bernd Körber zielstrebig dieses Symbol der wiedervereinigten Republik. Vergeblich hält er Ausschau nach seinem Wagen und greift verärgert zum Telefon. Sein Chauffeur antwortet erst nach langem Klingeln, während Körber bereits auf den kahlen Platz der Republik hinaustritt. Schwere schwarze Wolken schieben sich über den Himmel, als würde Körber seinem Gemüt freien Lauf lassen. Der Sonnenschein über Berlin dauerte nur kurz. Er weist seinen Fahrer an, vor dem Reichstag auf ihn zu warten. Wie ein einsamer müder Wanderer überquert der kleine Mann die Wiese. Die gelbe Krawatte flattert über seine Schulter.
»Chausseestraße, BND «, knurrt er schließlich und lässt sich auf die Polster des schwarzen Mercedes fallen.
Das Gespräch mit dem Minister hat ihm zugesetzt. Wie immer, wenn ihn die Aussichtslosigkeit seines Lebens nach dem Ausscheiden aus dem Dienst überwältigt, sehnt er sich zurück in die Zeiten seiner großen Triumphe. Afghanistan. Jugoslawien. Kroatien.
März 1990. Zagreb, Stadion Maksimir.
Seit einer Woche hängt eine schwere Wolkenschicht über der Stadt. Nieselregen bei unwirtlichen Temperaturen schränkt das städtische Leben noch stärker ein als der Unwille der Kroaten, angesichts der aufgeheizten Stimmung in der Volksrepublik ihre Arbeitsplätze bei den jugoslawischen Kollektivbetrieben aufzusuchen.
Punkt 8 Uhr verlassen fünf Fahrzeuge das Flughafengelände und biegen in enger Kolonne auf die Hauptverkehrsader Richtung Zentrum ein. Ein silbergrauer Mercedes 300 an der Spitze, dahinter drei weiße Kleintransporter, gefolgt von einem gepanzerten 500 E mit Diplomatenkennzeichen und getönten Scheiben. Rasch durchqueren die Fahrzeuge die breiten Straßen der Unterstadt, doch auf der Maksimirska cesta kommt Nervosität unter den Männern im vordersten Auto auf. Ein Kastenwagen ist in die alte Straßenbahn verkeilt, die Ladung liegt über beide Fahrbahnen verstreut, die Fahrer beschimpfen sich wüst. Hektische Rangiermanöver über den Bürgersteig, dann brausen die Fahrzeuge in Richtung Maksimir-Park, wo sie in der Durchfahrt neben der Haupttribüne des Fußballstadions von Dinamo Zagreb verschwinden, um direkt vor dem Eingang zu den Mannschaftsräumen zu stoppen. Zehn durchtrainierte, bis an die Zähne bewaffnete Männer mit schusssicheren Westen über den Kampfanzügen der GSG  9 entsteigen vor Körber den Fahrzeugen, observieren das Spielfeld mit dem wintermüden Rasen und die leeren Sitzreihen der Tribüne, dann bauen sie sich vor den Lieferwagen auf.
»Dragi Bernd«, ruft Saša Mirković. Der untersetzte Mann tritt mit ausgestreckten Armen und breitem Lächeln aus dem Kreis einer Gruppe Uniformierter auf den Deutschen zu. »Schön, dich zu sehen. Wie geht es Maja und den Kindern?«
Körber lässt sich umarmen. »Was sollen die Scharfschützen auf der Tribüne?«
»Ein Zeichen unseres Vertrauens, Bernd. Um dich zu schützen. Heute schreiben wir die Geschichte neu. Komm herein. Wir wollen uns doch nicht erkälten.«
Bernd Körber und seine Leute waren mit einer Maschine der Flugbereitschaft des Verteidigungsministeriums auf dem Zagreber Flughafen gelandet, nachdem sie zuvor am Standort Fürstenfeldbruck die Verladung der zwei schweren Stahlkisten beaufsichtigt hatten, die noch im Schutz der Dunkelheit von der Bayrischen Landesbank geliefert worden waren. Eine hochsensible Mission, die Europa nachhaltig verändern wird. Niemand außer dem Bundeskanzler, dem Außenminister und Körber selbst kennt ihre wahre Dimension. Sogar der Botschafter in Belgrad soll erst im Anschluss unterrichtet werden. Vor einem Monat hatte Saša Mirković in Bonn mit dem Außenminister verhandelt. Bis zur Unabhängigkeitserklärung Kroatiens von der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien sind es nur noch wenige Schritte.
Saša Mirković führt Körber in die Mannschaftskabine. »Dein Schwager Dušan Verbić ist übrigens heute auch hier. Er ist überall, wo es was zu feiern gibt.« Laut lachend haut er seinem Neffen auf die Schulter. »Stell dir vor, er ist seit gestern mein Stellvertreter in Belgrad. Maja wird sich über die Karriere ihres Bruders freuen. Er und ich gemeinsam, zwei Kroaten aus derselben Familie in der serbischen Hochburg. Das ist doch mal was.«
Körber schaut sich schweigend in dem kahlen, muffigen Raum um. In Pullach ist wohlbekannt, dass seine Frau Maja Verbić die Nichte von Saša Mirković ist, aber Dušan ist er bisher noch in keiner Geheimdienstfunktion begegnet. Er begrüßt ihn ausdruckslos mit Handschlag.
Der BND hatte Maja bis auf die Knochen durchleuchtet, bevor Bernd Körber ihr den Heiratsantrag machte. Über ihren Onkel Saša hatte er sie kennengelernt. Eigenartig, dass der seinen Neffen eingeweiht hat, denkt Körber.
»Setz dich, Bernd«, plaudert Saša Mirković drauflos und zieht einen Stuhl heran. »Dušan ist auf unserer Seite. Der Boss bin aber immer noch ich. Er muss nach meiner Pfeife tanzen, nicht wahr?« Mirković fährt sich über den Dreitagebart.
»Ich hoffe, du hast alles dabei.«
»Sonst wäre ich kaum hier, Saša.« Dass der Chef des jugoslawischen Geheimdienstes seinen Neffen zu seinem Stellvertreter machen konnte, ist ein Coup, denkt Körber, und doch behagt ihm die Sache nicht. Seine Walther PPK steckt ungesichert im Holster.
Der Chef schickt seine Begleiter aus dem Raum. Bis auf Dušan und seinen Sohn Josip, ein Muskelprotz, der trotz des Wetters nur ein schwarzes T-Shirt trägt. Schon am Griff erkennt Körber die Neunmillimeter Zastava CZ -99 in Josips Hosenbund. Breitbeinig baut er sich hinter Saša und Dušan auf, die Hände in die Hüften gestützt.
»Kommen wir zur Sache, Saša. Zwei Ausfertigungen auf Deutsch, zwei auf Kroatisch.« Körber setzt sich an den Tisch und zieht die Verträge aus seiner Aktentasche. Er schiebt sie samt einem stahlglänzenden Parker-Kugelschreiber zu Mirković hinüber. »Jedes Wort so, wie vor einem Monat mit Genscher besprochen.«
»Ein Moment, mein Freund«, bremst Mirković mit ausgestreckter Hand. »Wo sind die Scheinchen, die er uns versprochen hat? Dušan glaubt mir von der Geschichte kein Wort. Nicht wahr, mein lieber Neffe? Kein Wort glaubst du. Sag es selbst.«
»Vermutlich besser, dass ich auf deine Wette nicht eingestiegen bin.« Majas Bruder lächelt verlegen. »Ich kann’s kaum erwarten.«
»Ich auch nicht, du Verräter«, sagt Mirković fast tonlos.
Noch bevor Körber es sich versieht, zieht Josip die schallgedämpfte Waffe und knallt seinen Cousin, ohne mit der Wimper zu zucken, mit einem präzisen Genickschuss ab. Dušan Verbić fällt vornüber auf den Tisch.
»Und jetzt können wir zur Sache kommen, Bernd. Majas Bruder wurde gegen meinen Willen befördert, um mich zu kontrollieren. Ein Verräter, der keinen verschissenen großserbischen Arsch ausgelassen hat, um sich hochzuschleimen. Eine Schande für die ganze Familie. Er war auch für dich gefährlich, Bernd. Ich schlage eine gemeinsame Sprachregelung vor. Ein bedauerlicher Unfall, er ist betrunken von der Tribüne auf den Platz vor dem Stadion gestürzt. Trägst du das mit?«
Körber hebt beide Hände. »Ich bin sowieso nicht hier, Saša.«
Josip steckt die Waffe zurück in den Hosenbund, reißt den Toten mit einem entschiedenen Griff vom Stuhl und schleppt ihn hinaus. Auf dem Tisch bleibt eine kleine Pfütze von blassrotem Schaum zurück. Mirković wischt sie mit einem Taschentuch weg und wirft es zu Boden.
»Niemand macht unseren Plan zunichte, Bernd. Also, wo ist das Geld?«
»Was soll das Misstrauen? Ich käme wohl genauso wenig hier raus, wenn ich versuchen würde, dich zu linken. Ein Sturz von der Tribüne, samt meiner Männer, wie du so schön gesagt hast. Und für die Angehörigen eine Urne, um die Obduktion zu verhindern. Das Geld ist draußen in einem der Fahrzeuge.«
»Dann lass es reinbringen. Handel ist Handel.«
Körber geht stumm zur Tür, drängt sich an den Wachen vorbei und gibt seinen Männern einen Wink. Einer der Kleintransporter nähert sich im Rückwärtsgang, Mirkovićs Leute beobachten ihre deutschen Kollegen argwöhnisch und sind bereit, sofort zu feuern, als fürchteten sie, dass ein Killerkommando aus dem Laderaum herausspringen könnte, um sie alle abzuschlachten. Sie entspannen sich erst, als sie die zwei mächtigen Edelstahlkisten sehen.
»Reintragen könnt ihr sie selbst«, knurrt Körber. »Ich hoffe, du willst jetzt nicht nachzählen, sonst sitzen wir morgen noch hier. Achthunderttausend Scheine mit drei Nullen hinten, Saša! Keine durchgängigen Seriennummern.«
»Handel ist Handel, habe ich gesagt. Wenn so wenig Vertrauen herrschte, wären wir gar nicht an diesen Punkt gekommen.« Mirković führt ihn zurück in die Kabine, während seine Leute die Kisten geräuschvoll neben dem Tisch abstellen.
»Lasst uns alleine. Auch du, Josip«, befiehlt ihr Chef.
Sein Sohn zögert.
»Raus, los jetzt«, herrscht Mirković ihn noch einmal an.
Natürlich weiß Josip, dass der Deutsche für den BND arbeitet, doch über dieses Geschäft ließ sein Vater ihn im Ungewissen. Jeder Mitwisser ist ein Risiko für die künftige Unabhängigkeit Kroatiens.
»Beim Gedanken, wie du die achthundert Millionen am liebsten gleich in Bonn mitgenommen hättest, lach ich mich immer noch krumm. Ich hoffe, du hast ein besseres Fahrzeug hier als den klapprigen Mercedes.«
»Überheblich wie immer, ihr Deutschen, aber dann nicht einmal den eigenen Produkten trauen. Made in Germany.« Mirković klopft ihm lachend auf die Schulter.
»Jetzt setz endlich deinen Namen unter die Verträge«, beharrt Körber und schiebt ihm zum zweiten Mal die Papiere zu. »Mach auf, Saša, wenn du deine Neugier nicht zügeln kannst: Code 1991. Aber erst nach der Unterschrift. Handel ist Handel, wie du weißt.«
Der Lauf des Kugelschreibers ist viermal deutlich zu vernehmen. Als Mirković seine Exemplare einsteckt, klirrt es in seiner Aktentasche, Körber fährt hoch, seine Hand liegt an der PPK , doch Saša zieht grinsend eine Flasche Rakija und zwei Gläser heraus, stellt sie auf den Tisch und schenkt ein.
»Es kommt viel Arbeit auf uns zu. Es wird Krieg geben, aber zusammen schaffen wir das. Nächstes Jahr im Sommer wird Kroatien ein eigener, unabhängiger und von der BRD und Österreich anerkannter Staat sein.« Mirković lächelt breit. In Kürze wird er in Belgrad aus Gesundheitsgründen seinen Rücktritt als Chef des SDB verkünden, in den nächsten Monaten seine eigene Organisation in Zagreb von Feinden säubern und mit politischen Freunden die Unabhängigkeitserklärung vorbereiten.
Er öffnet die erste der beiden gepanzerten Kisten, nimmt ein Bündel Banknoten heraus, die er fast zärtlich durch die Finger laufen lässt, bevor er es zurücklegt und den Deckel sorgfältig verschließt.
»Das ist echtes Geld. Ihr seid verdammt teuer, Saša.«
»Bei dem Gegenwert ist der Preis nicht zu hoch. Eure Unternehmen bekommen bald neue Märkte. Wir begnügen uns mit den Arbeitsplätzen. Endlich habt ihr, wonach ihr seit achtzig Jahren giert. Der Balkan gehört euch. Ab heute hat dein BND das Kommando über meine Leute und den neuen kroatischen Geheimdienst. Sogar über unsere Agenten in Belgrad. Die paar Informationen, die ihr uns über die Serben liefern werdet, sind für euch kein Opfer. Eine Hand wäscht die andere. Auf die Zukunft. Auf das Glück unserer Länder. Auf Kroatien und Deutschland.«
»Seid dankbar, Saša«, sagt Körber zweideutig und hebt sein Glas.
Salzburg, Rudolfsplatz 2. Justizgebäude.
»Follow the money, Herr Staatsanwalt. Banken, Waffen, Geldwäsche, Bestechung, Insidertrading. Das Ergebnis jahrelanger Recherchen.« Jordan S. Becker zieht mit der Hand einen Schlussstrich in die Luft, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. Sein nackter Fuß im sandsteinfarbenen Wildledermokassin wippt. Das gepflegte, leicht gewellte graue Haar bedeckt die Ohren, eine Strähne streicht er wiederholt aus dem Gesicht. Lavendelfarbene Hose, mintgrünes Leinenjackett, aprikosenfarbenes Hemd. Bei der Arbeit neigt er nicht zu Pastelltönen.
»Die Bayern wussten vor der Übernahme alles über die Middle European Credit Bank. Die Beweise dafür habe ich. Sollte es nicht im Interesse unseres Landes sein, dass mir nichts zustößt?«
»Glauben Sie wirklich, Herr Becker, dass das so einfach ist? Man geht zum Leiter der Soko und sagt, man möchte beschützt werden? Dazu braucht es konkrete Hinweise, nachweisbare Bedrohungen, Ermittlungen der Kriminalpolizei.«
Staatsanwalt Neuner-Hebenstreit nimmt die Hornbrille ab und reinigt die Gläser. Die Stirn ist glatt und kein Fältchen um seine Augen.
»Dass bei mir eingebrochen und mein Büro auf den Kopf gestellt, der Computer zertrümmert und Akten gestohlen wurden, habe ich sehr wohl angezeigt. Die Polizei hat nur mit den Schultern gezuckt und auf den kontinuierlich ansteigenden Zustrom an Asylanten verwiesen, wie sie sie nennen. Und auf die Banden vom Balkan.« Becker spricht schnell, aber ohne die Stimme zu heben. »Mit Verlaub, die sind nun ganz sicher nicht an Papierkram interessiert. Diebe hätten meinen Computer mitgenommen und verhökert, nicht zerstört. Schon komisch, dass keine Wertgegenstände fehlen. Und dass ich vor ein paar Wochen am helllichten Tag zusammengeschlagen und in einwandfreiem Deutsch bedroht wurde, ist ebenfalls aktenkundig. Schlägerei unter Betrunkenen, steht im Polizeiprotokoll.«
»Machen Sie Ihren Lebenswandel doch nicht anderen zum Vorwurf, Herr Becker.« Neuner-Hebenstreit zwingt sich zu einer lässigeren Haltung, soweit es der Anzug, das bis zum Hals zugeknöpfte Hemd und die Krawatte gestatten.
»Haben Sie mich nur einbestellt, um in Erfahrung zu bringen, wie viel ich weiß? Ihre Sonderkommission soll Licht ins Dunkel bringen. Noch immer hört man, die Machenschaften der Middle European Credit Bank seien nicht systemrelevant gewesen. Dabei ist alles viel schlimmer: Die MEC war selbst das System. Und ich habe die Belege.«
Der Staatsanwalt runzelt zweifelnd seine Stirn. »Es ist nicht ganz unbekannt, dass Sie, werter Herr Becker, hinter jedem Busch einen Feind sehen.«
»In dreißig Jahren Journalismus wurde ich trotz aller Klagen kein einziges Mal verurteilt. Haben Sie auch alle Prozesse gewonnen, Herr Staatsanwalt?«
Die Sonne fällt durch das Fenster auf den Besuchertisch. Das Gespräch verläuft zäh, misstrauisch checken die beiden einander ab. Sie sprechen ohne Empathie.
»Wenn Sie wirklich Beweise haben, sind Sie verpflichtet, diese auszuhändigen. Ich könnte Ihre Unterlagen beschlagnahmen lassen, Herr Becker.« Der Staatsanwalt lächelt säuerlich. Ein aufrechter Diener seines Staates.
»Sie wissen, dass das nicht rechtens ist.«
Der Staatsanwalt seufzt bitter. »Warum bloß, mein lieber Herr Becker, lassen Sie die Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen und vertrauen auf die Arbeit der Justiz. Die Sache liegt zehn Jahre zurück und hat sich längst stabilisiert. Die abschließenden Ermittlungen brauchen Zeit.«
»Zehn Jahre, und Sie haben noch nicht einmal angefangen. Ihre Kommission leistet doch nur das politisch Erträgliche.« Ein Lächeln zeichnet Beckers Mundwinkel. »Middle European Credit, ein vielversprechender Name. Eine echte Erfolgsgeschichte. Eine österreichische Regionalbank, die zur Geldwaschmaschine gemacht wurde. Der Schlüssel zum Safe mit dem ehemaligen Volksvermögen Kroatiens und für deutsche und österreichische Unternehmen die Tür zu einem neuen Markt. Die Übernahme durch die BavariaFinance Group war nichts anderes als ein Versuch, die kriminellen Machenschaften dadurch zu vertuschen, dass man den Laden in ein anderes Land transferierte. Auch die bayrischen Behörden ermitteln nicht, wenn die Politik es untersagt. Aber in Deutschland tut man es wie immer erfolgreich als Schmarrn von uns Balkanesen ab. Glauben Sie mir, die Bayern können Zahlen sehr genau lesen, auch wenn sie bisweilen einen anderen Eindruck zu erwecken versuchen. Auch das ist System. Sie zu betrügen halte ich für unmöglich. Werfen Sie einen Blick auf den Aufsichtsrat und den Vorstand, die Politik war stark vertreten. Einer hat es mittlerweile zum Kanzleramtsminister in Berlin gebracht. Ein Kick-back-Geschäft mit dem Effekt, dass der Steuerzahler die Verluste von zwanzig Milliarden Euro trägt.«
»Wenn Ihre Behauptungen stimmen, würde das die österreichische Position bei den Schadensersatzprozessen enorm stärken. Bei einem solchen Betrag nehme ich selbst diplomatische Spannungen mit Deutschland in Kauf.«
»Und wenn das stimmt, Herr Staatsanwalt, dann können Sie mir helfen. Solange ich lebe. Und Sie können anschließend sogar die Lorbeeren einheimsen. Ein hohes Amt in der Politik ist Ihnen sicher.«
Neuner-Hebenstreit streckt seine Arme aus, als warte er auf Handschellen. »Mir sind die Hände gebunden. Ich habe Ihnen schon erklärt, was es braucht, um Personenschutz zu gewähren. Sie leiden unter Verfolgungswahn, Herr Becker. Und überschätzen sich. Besorgen Sie sich einen Bodyguard, wenn Sie so sicher sind.«
»Schon 1994 sind die Zahlungen für den Embargobruch über Konten der MEC gelaufen. Als Deutschland unter Führung des BND Waffen aus Restbeständen der Nationalen Volksarmee über den Flughafen Maribor nach Kroatien gebracht hat. Und über den Hafen Triest und Slowenien weiter zu Franjo Tuđjman und Co.«
»Wer erinnert sich heute noch an Tuđjman?«
»Der slowenische Verteidigungsminister hat damals bei jedem Deal, der über sein Land lief, zweihundertfünfzigtausend Dollar eingesackt. Die MEC wurde dabei zur aktiven Kriegstreiberin.« Becker blättert in seinen Unterlagen und legt drei Schwarz-Weiß-Fotos auf den Tisch. »Schauen Sie genau hin. Das ist an einem Grenzübergang von Italien nach Slowenien. 1994. Das Wappen der Nationalen Volksarmee der DDR auf den Kisten ist gut zu erkennen. Das hier sind Vergrößerungen von Aufnahmen, die ich damals gemacht habe. Die Ähnlichkeit der Frau mit der auf dem Foto in der heutigen Presse werden Sie leicht erkennen.«
»Senatorin Castelli de Poltieri vor der Hofburg. Wird die Italienerin die neue Generalsekretärin der OSZE ?« Der Staatsanwalt liest die Headline laut vor und legt die Zeitung auf den Tisch zurück. »Was ist mit dieser Dame?«
»Follow the money, Staatsanwalt. Die Aufgabe Ihrer Soko. Noch bevor die Pressemeldung über die Übernahme der MEC durch die Bayern rausgegangen war, wurden stante pede fünfzig Millionen in Nobelvillen in Triest, Weingüter im Friaul, Seegrundstücke in Kärnten und noch mehr in heikle Vorzugsaktien investiert. Eine der Immobilien gehörte dieser italienischen Senatorin auf dem Foto. Romana Castelli de Poltieri. Das dazu nötige Konto führte sie bei der MEC , bei der sie lange im Aufsichtsrat saß. Auch zwei Bosse der BavariaFinance haben profitiert. Die Vorzugsaktien der MEC verzeichneten mit Bekanntgabe der Übernahme eine enorme Wertsteigerung. Die Herren haben sie noch am selben Tag verkauft.«
»Ziemlich abenteuerliche Geschichte, Herr Becker. Wir haben nichts davon ermitteln können.«
»Beruhigen Sie sich. Es ist alles noch viel schlimmer.«
»Was Sie nicht sagen.«
Becker zieht die Fotokopie eines Kontoauszugs aus seinen Unterlagen und hält ihn seinem Gegenüber vor die Nase. »Sie erhielt umgerechnet zwölf Millionen für eine Villa mit zweihundert Quadratmetern. Das war damals die teuerste Wohnimmobilie in Norditalien.«
»Sie können niemandem vorschreiben, wie er sein Geld auszugeben hat.«
»Recherche, die Ihre Sonderkommission leisten müsste. Wenn ich mit meinen Mitteln so weit komme, dann müsste das für Ihre Leute eine leichte Übung sein.«
»Woher haben Sie das Material?«
»Zugespielt bekommen. Von einem Geprellten«, lügt Becker, um Neuner-Hebenstreit zu verunsichern.
Er hatte die Datei per Mail mit unbekanntem Absender erhalten, den er trotz aller Nachforschungen nicht ermitteln konnte. Der Inhalt stammt zweifellos von einer internen Quelle der Bank, wie die Überprüfung der Details ergab.
»Geprellte und betrogene Ehefrauen oder enttäuschte Geliebte sind die Ersten, die reden. Rache ist ein zuverlässiger Komplize. Hätten die Medien nicht berichtet, dann gäbe es auch Ihre Soko nicht. Ich hoffe, Sie stören die feinen Herren nicht allzu sehr mit Ihren Ermittlungen, Doktor Neuner-Hebenstreit. Aber zumindest könnten Sie mithelfen, dass dieser Dame das Handwerk gelegt wird. Am Embargobruch beteiligt, Geldwäsche und Korruption. Ausgerechnet sie als Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu sehen überschreitet meine Vorstellungen. Ihr Rechtsgefühl darf das nicht zulassen.«
Der Staatsanwalt verzieht keine Miene. »Passen Sie gut auf sich auf.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Weshalb lassen Sie sich nicht von Jack Samir bewachen, Ihrem alten Freund?«
Becker erschaudert und versucht, es zu überspielen. Hier kennt man offensichtlich alle Details seines Lebens, jeden seiner Schritte. »Nichts für ungut, aber Jack ist Taxifahrer, kein Leibwächter. Sie sollten ein Interesse daran haben, dass mir nichts zustößt.«
»Lebensversicherungen gibt es nur im Todesfall, Herr Becker.« Der Staatsanwalt hebt mahnend den Finger, sein Lächeln gleicht dem einer Sphinx. »Gehen Sie einfach eine Zeit lang so wenig wie möglich vor die Tür.«
»Gehen Sie davon aus, dass ich dieses Material längst in sichere Hände gelegt habe. Und zwar nicht in Österreich. Sollte mir etwas zustoßen, wird die Sache erst recht ans Licht kommen.«
»Sie werden von mir hören.« Der Staatsanwalt schaut auf die Uhr.
Wie ein eingespieltes Team erheben sie sich gleichzeitig vom Tisch. Kaum zieht Becker die Tür hinter sich ins Schloss, greift Neuner-Hebenstreit zum Telefon.
»Alles wie befürchtet. Er hat sich verabschiedet«, sagt er knapp und legt sogleich auf. Dann tritt er ans Fenster mit Blick auf den Rudolfsplatz und wartet.
Jordan S. Becker steigt die breite Treppe des Justizpalasts hinab. Er grinst, weil er dem Staatsanwalt ordentlich eingeheizt hat, aber ganz zufrieden ist er nicht, weil er sich wieder einmal auf einen Hahnenkampf eingelassen hat. Je näher er dem Erdgeschoss kommt, umso mehr Menschen umgeben ihn. Beiläufig grüßt er die ihm bekannten Gesichter.
Im grellen Sonnenlicht auf dem Gehsteig kneift er die Augen zu. Das wütende Aufheulen eines sich rasch nähernden Motors irritiert ihn. Ein leichtes Geländemotorrad rast direkt auf ihn zu, macht einen Sprung über die Bordsteinkante. Die Passanten laufen panisch auseinander. Becker bleibt wie angewurzelt stehen. Der Fahrer trägt einen weißen Helm mit Kinnschutz und voller bunter Aufkleber, eine rot-schwarze Jacke und Handschuhe. Mit der Linken schwenkt er einen langen, in der Sonne blitzenden Gegenstand. Becker spürt noch den Windhauch.
Mit metallischem Klang kracht ein furchterregendes Krummschwert neben seinen leblosen Körper auf den Bürgersteig. Unter Jordan S. Becker breitet sich blitzartig eine riesige Blutlache aus. Sein Kopf hängt nur noch an einem Hautlappen am Körper, Augen und Mund sind weit aufgerissen.
Schrille Schreie. Jemand ruft nach Polizei und Rettungswagen. Der Motorradfahrer ist in einer Seitengasse verschwunden.
»Wenn, dann wie John F. Kennedy! Unerwartet und auf die schnellste Art zu sterben ist nur für die Angehörigen schlimm«, hatte Becker stets gescherzt. Seinen Mörder hat er nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Bereits eine Stunde später melden die Nachrichten von Salzburg heute aufgeregt geschwätzig den Mord vor dem Justizpalast. Die Methode erinnere an die Handschrift der Dschihadisten, über die Identität des Opfers hüllen sich die Behörden in Schweigen.
Porto Nogaro, Hafengelände.
Die Ladeluken der EARLY SUN stehen offen, zwei Männer mit Schutzhelmen hängen im Bauch des Schiffs den Kranhaken an ein Rohstahlgebinde und geben dem Kranführer das Signal, die Fracht zu löschen, die sich unter den Augen der Behörden allmählich auf der Mole häuft. Im engen Hafenbecken ziehen Schlepper zwei monströse Schleusentore auf einer langen Plattform aufs offene Meer. Über fünfzig Meter lang und dreißig Meter hoch ist jeder der Kolosse. Neben ihnen wirkt die EARLY SUN lächerlich klein, und die Gangway, die Kommissarin Xenia Zannier hinaufsteigt, ist kurz.
»Ein Schweinestall, das sag ich dir gleich«, begrüßt sie Giuliano Perrone, ein uniformierter Kollege der Polizia Marittima. Er ist in ihrem Alter, doch Xenia erinnert sich nicht, woher sie ihn kennt. »Die Kabinen der Besatzung strotzen so vor Dreck, dass selbst die Kriminaltechniker aufgegeben haben. Sinnlos. Neben den Hinterlassenschaften der Mannschaft finden sich die Spuren Hunderter Matrosen vor ihnen. Den Anblick der Kombüse ersparst du dir am besten, sonst vergeht dir für Wochen der Appetit. Das sind die billigsten Lohnsklaven, die man auf der Welt findet.«
»Wo ist die Besatzung?«, fragt Xenia.
»Zum Duschen im Gebäude des Schiffsmaklers, der dritte Containerbau vor der Ausfahrt. Das Wasser an Bord ist eine Bakterienbrühe. Sie werden im Anschluss verhört, ihre Daten durch die Antiterrorismusdatei gejagt und sie dann wohl umgehend abgeschoben. Die von der Guardia Costiera drehen den Kapitän und seinen Ersten Offizier durch die Mangel, bevor sie die beiden an uns weiterreichen. Türken, zwei Jünglinge, die angeblich von nichts wissen. Die gehen in den Bau, bis sie reden – und dann ab mit ihnen. Bis zum nächsten Mal. Die Hintermänner fassen wir nie, die machen weiter. Denen ist es scheißegal, wenn mal ein Schiff hochgenommen wird. Die werden ja im Voraus bezahlt. Der Aufzug an Bord ist übrigens außer Betrieb. Wer weiß, wie lange schon …« Der Kollege weist auf die Luke zum Abgang. »Ich tu mir die Treppen nicht noch einmal an.«
»Besser so, ich hasse Aufzüge.« Xenia wirft einen Blick auf die steile stählerne Treppe, von der die Farbe abblättert.
»Wenn du schon einmal den Maschinenraum eines Schiffs gesehen hast, erspar es dir. Es ist verdammt warm dort unten, und es stinkt wie Sau. Diese Illegalen haben sich im Kesselraum erleichtert. Wenigstens ist es von der Türkei nicht so weit zu uns.«
»Weit genug zum Sterben ist es immer. Wer weiß, wie viele Leichen die Besatzung über Bord geworfen hat. Ich will wissen, wo man Flüchtlinge einsperrt. Man muss die Dinge mit eigenen Augen sehen, um sich ein Urteil zu bilden.«
Xenias Schritte hallen auf dem Stahl, und je tiefer sie steigt, umso dicker wird die Luft. Sie zögert einen Augenblick, ob sie sich diese Enge wirklich zumuten soll, reißt sich aber schließlich zusammen, holt noch einmal tief Atem und geht weiter. Am blanken Metall entlang des Kurbelwellengehäuses ist sichtbar, wo die Flüchtlinge gesessen haben. Die Luke zum Kesselhaus ist verschlossen, trotzdem mischt sich der Fäkaliengestank mit dem von Diesel und Schmierstoffen. Verwesende Leichen stinken schlimmer, denkt sie.
Eine leichte Erschütterung durchfährt den Schiffsrumpf, als der Ladekran den Stahl im Frachtraum anhebt. Drei leere Wasserkanister liegen in einer Ecke sowie ein säuerlich stinkender Blechkübel. Woher mögen diese verdammten Fliegen kommen, die an seinen Wänden sitzen? Als Xenia den Fuß auf die Treppe setzt, fällt ihr ein großer weißer Plastikfetzen ins Auge, der zwischen den Stufen steckt. Made in Kingdom of Saudi Arabia. Der arabische Schriftzug darunter besagt vermutlich nichts anderes. Ein rautenartiges Emblem zeigt einen Totenkopf und die Ziffer 6 sowie die Großbuchstaben VX . Haben die Kriminaltechniker das übersehen? Instinktiv zieht die Kommissarin die Hand zurück, schießt ein Foto mit dem Telefon und stürmt die Treppe hinauf. Fünf Stockwerke, zwei Stufen auf einmal. Sie schwitzt und kann es kaum erwarten, der Enge zu entkommen und das Deck zu erreichen. Schon die geschlossenen Fenster und Türen im Büro machen ihr zu schaffen, in Hochhäusern zwingt sie sich, egal wie viele Stockwerke, das Treppenhaus hinaufzurennen. Und nur einmal in ihrem Leben hat sie ein Einkaufszentrum besucht, als ein panischer Kunde in der langen Schlange vor der einzigen geöffneten Kasse durchgedreht war und von den Männern der Security nicht bezwungen werden konnte.
Zehn Stufen noch bis zum Deck, doch die Luke ist verschlossen. Xenia rüttelt panisch an der Tür, setzt mit harten Tritten nach. Keine Reaktion. Ihr Puls rast, sie rennt die nächste Treppe hinauf, erreicht den Flur mit den Kabinen der Besatzung, in dem es kaum weniger stinkt als im Maschinenraum. Sie findet ein Bullauge, stößt es auf und zwängt sich hindurch. Endlich steht sie mit den Fersen auf einer Schweißnaht vor dem Deckhaus hoch über der Mole, auf der Seeseite würde sie, ohne zu zögern, ins Wasser springen. Drei Meter unter ihr stehen zwei Uniformierte, die sich lachend auf die Schultern schlagen. Trotz seiner Schirmmütze erkennt sie Perrone.
»Die ist doch eigentlich ganz sympathisch«, sagt der zweite Polizist kichernd.
»Ja, aber ich mach mit dir jede Wette, dass du sie nicht wiedererkennst, sobald sie sich befreit. Eine Furie.« Perrone klatscht vor Vorfreude. »Wir haben das damals auf der Polizeischule mit ihr gemacht. Besenkammer. Sie hat die Tür eingetreten und dann alles um sich herum zertrümmert, die war gar nicht wieder einzukriegen.«
Es reicht. Xenia springt, kommt knapp neben Perrone auf die Füße. Zwei blitzschnelle Ohrfeigen lassen seinen Kopf hin- und herfahren. Sie läuft bereits die Gangway zur Mole hinunter, während der überraschte Mann seine Wangen reibt. Auf halbem Weg dreht sie sich um, ihre Stimme ist ruhig.
»Du hast recht, Giuliano. Eine Furie. Noch einmal, und du kannst Invalidenrente beantragen«, ruft sie hinauf.
»Es ist nicht unsere Schuld. Reiner Zufall, dass die Tür zu ist.«
»Zu blöd zum Lügen, Perrone. Wer hat das Schiff durchsucht?«
Sie wartet die Antwort nicht ab. Der Schweiß rinnt ihr in Bächen vom Körper. Sie muss niesen und greift zum Telefon. Wieder übergeht sie den Questore und ruft direkt im Innenministerium an.
»Hast du das Material über deine Spezialfreundin schon bekommen?«, fragt Nicola Bonanni anstelle eines Grußes. »Dann schließ es weg, es ist nur für dich bestimmt, Xenia. Unterlagen, auf die du scharf bist.«
»Wovon redest du, Nicola? Ich bin seit halb fünf im Einsatz. Ein Frachtschiff, das Flüchtlinge eingeschleust hat. Es wurde in Porto Nogaro beschlagnahmt.«
»Ich habe es in den Kurzmeldungen gesehen. Warum bist du so aufgeregt?« Bonanni ist der Ministerialdirektor für die Sektion Verbrechen mit politischem Hintergrund und mehr als ein alter Verbündeter. Während Xenias Dienstzeit in Ostia waren sie sich gefährlich nahegekommen.
»Im Maschinenraum liegt ein Fetzen Plastik mit arabischer Aufschrift und einer auf die Spitze gestellten Raute, einem Totenschädel, der Zahl 6 und dem Zeichen VX
»Bist du sicher?« Er wartet ihre Antwort nicht ab. »Hochtoxisches Zeug. VX ist ein Nervenkampfstoff, den auch Saddam Hussein im Nordirak eingesetzt haben soll. Liegt noch mehr dort?«
»Ich habe nur das Foto geschossen und bin sofort rausgerannt.«
»Schick es mir umgehend. Wie viele Leute sind an Bord?«
»Zwei Beamte halten Wache.«
»Sie sollen sofort verschwinden. Der Kai muss weitläufig geräumt werden.«
»Ich habe es Questore Falsariga nicht gemeldet.«
»Mach ich schon. Ist es windig?«
»Leichte Bora aufs Meer hinaus.«
»Wenigstens etwas. Es wird Großalarm geben. Die Räumung veranlasse ich. Es dauert zwei Stunden, bis die Spezialisten aus Civitavecchia einfliegen. Undenkbar, was passiert, wenn mehr von dem Zeug an Bord ist und hochgeht. Geh gleich zum Arzt.«
»Das kann warten. Die Flüchtlinge haben es auch überlebt.«
»Geh zum Arzt. Das ist ein Befehl, Xenia. Und nimm danach die Unterlagen unter Verschluss, die ich dir geschickt habe.«
Die Kommissarin vernimmt ein Knacken in der Leitung. Sie winkt Perrone und seinen Kollegen zu sich. »Keine Angst, diesmal tu ich dir nichts. Schick sofort die Arbeiter weg und sorg dafür, dass die Mole abgesperrt wird.«
»Du hast mir nichts zu befehlen, Zannier.« Perrone plustert sich unnötig auf.
»Und zwar bereits an der Hafeneinfahrt. Verdacht auf hochtoxisches Gut an Bord. Auch der Kranführer und die Leute im Laderaum müssen umgehend vom Gelände verschwinden. Alle! Los, beeilt euch.« Wieder niest die Kommissarin. »Spezialisten sind unterwegs. Aber es wird dauern, bis sie hier sind.«
»Hast du übernatürliche Kräfte?« Perrone unterbricht sich und schaut auf sein Telefon. Er nimmt ab, bestätigt Befehle. »Los«, ruft er seinem Kollegen zu, winkt aufgeregt die Arbeiter und den Kranführer zu sich und eilt ihnen zur Einfahrt des Geländes voraus, wo er Anweisung gibt, dass die Schranken geschlossen bleiben. Als die Kommissarin mit dem Scooter vorbeifährt, winkt er ihr eingeschüchtert zu.
Die dreißig Kilometer zurück nach Grado führen durch flaches Land und an dichten Pappelwäldern vorbei, die früher die Zellulose für die Textilproduktion in Torviscosa geliefert hatten. Xenia beschleunigt, endlich trägt der Fahrtwind den Gestank aus den Eingeweiden der EARLY SUN davon, das Visier ihres Helms hält sie auf der ganzen Strecke geöffnet. Manchmal niest sie mehrfach. Giftgas? Oder eine allergische Reaktion auf den Dreck im Schiff?
Als die Sonne endlich die Wolken durchbricht, drosselt sie das Tempo und gleitet gemächlich durch die Landschaft. Zu viel ist an diesem Morgen passiert, worüber sie nachdenken muss. Die Gesichter der Flüchtlinge vermischen sich mit denen der Journalisten und der bescheuerten Kollegen auf dem Schiff. Sie wundert sich über einen Bauern, der einen Acker neben der Straße pflügt. Riesige Schwärme gieriger Möwen stürzen sich hinter dem Traktor auf die reiche Nahrung, die zwischen den Erdschollen freigelegt wird. Der Mann ist spät dran, bei Fiumicello reifen schon bald die Pfirsiche, und auch Gerste und Weizen stehen dank des vielen Regens der letzten Woche hoch, während die weiten Spargelfelder fast abgeerntet sind. Der mächtige Campanile der Basilika Santa Maria Assunta der im römischen Reich so bedeutenden Stadt Aquileia, von der nur ein paar Häuser und ein riesiges Areal an Ausgrabungen übrig geblieben sind, ragt wie ein Wegweiser über die Dörfer und Felder. Vor zweitausend Jahren, denkt Xenia, ging es hier nicht so verschlafen zu wie heute, wo sie fast jeden Tag damit hadert, ob sie sich mit der Versetzung aus dem Süden des Landes tatsächlich einen Gefallen getan hat und wie lange es noch dauert, bis sie ihrem eigentlichen Ziel näher kommt. Ist nicht auch sie zu spät dran, die alten verkrusteten Strukturen aufzureißen und endlich Licht in die Schattenwelt zu bringen, in der die Senatorin mithilfe einiger grauer Eminenzen unter dem demokratischen Deckmäntelchen ihr böses Spiel treibt?
Die Straße führt über eine lange Brücke durch die Lagune nach Grado. Xenia gibt Gas, überholt drei Wohnmobile mit dänischen Kennzeichen und atmet tief durch. Kraniche und Flamingos stehen unbeweglich im Wasser und warten auf den nächsten Fisch. Kleine Ausflugsschiffe fahren unter der Brücke hinaus aufs offene Meer.
An der Ortseinfahrt signalisiert ihr Telefon das Eintreffen einer Nachricht. Sie fährt rechts ran und kramt das Gerät aus der Tasche. Der interne Newsticker der Polizei meldet, dass beim Grenzübergang Tarvisio die Schengen-Zone vorübergehend aufgehoben ist. Nach einem mutmaßlich terroristischen Anschlag in Salzburg wird Wagen für Wagen kontrolliert. Ausgerechnet zum Saisonauftakt. Auch an der ersten italienischen Mautstelle werden die Kontrollen verstärkt, und die Sicherheitskräfte im Nordosten müssen mit Sonderschichten rechnen. Weitere Anweisungen sollen folgen.
In der Via delle Pleiadi ist die Haustür unverschlossen, aus der Küche vernimmt sie Kratzgeräusche. Arne beugt sich über seinen Metalldetektor und fährt vor Schreck zusammen, als sie ihm einen Kuss in den Nacken drückt. Beim Anblick seiner Freundin schmilzt er dahin.
»Hast du frei? Dann bleib ich hier.« Er umschlingt sie und küsst gierig ihren Hals.
»Nein, aber ich brauche eine Dusche und frische Kleider. Ist deine Führung ausgefallen?« Xenia befreit sich aus seiner Umarmung.
»Ohne Honorarersatz natürlich. Nicht einmal abgesagt haben die Schweine. Als ich sie erreichte, gab’s lauwarme Ausreden.«
Arne Nordmann hatte in Münster frühchristliche Archäologie studiert und war vor Jahren in Aquileia gelandet. Seit die Grabungen eingestellt wurden, schlägt er sich als Fremdenführer und Aushilfskellner in einem Hotelrestaurant durch. Alle paar Wochen schickt ihm sein Vater Geld.
»Dann gehe ich eben auf Schatzsuche, hab ich viel zu lange nicht getan. Aber ich muss das Ding erst reinigen und entrosten.«
»Lass dich nicht erwischen.«
Xenia füllt Kaffee und Wasser in die Moka und stellt sie auf den Herd. Während sie auf das aufsteigende Gurgeln wartet, streift sie ihre Jeans ab.
Arne gibt ihr einen Klaps auf den nackten Po.
»Arne, was du tust, ist verboten.« Xenia niest.
»Seit wann?« Noch einmal klatscht seine Hand auf ihren Hintern.
»Schon immer, das sind ungenehmigte Grabungen.«
»Aber die beiden Amphoren und die Münzen letztes Jahr haben einiges gebracht.«
»Dafür hätte ich dich verhaften müssen. Und was war mit der rostigen Senfgas-Kartusche vom Monte San Michele? Ich musste dem Räumkommando weismachen, wir hätten sie beim Anlegen der Beete gefunden.«
»Ich hatte doch nur gehofft, sie würden den Gemüsegarten umgraben«, feixt Arne.
»Wir können froh sein, dass sie nicht losgegangen ist und uns beide zu den letzten Kriegsopfern gemacht hat. Das mit dem Giftgas nimmt nie ein Ende.« Xenia schenkt sich Kaffee ein und legt ihr Sweatshirt ab. »Wenn ich Pech habe, habe ich eine Dosis erwischt. Ich musste auf ein Schiff, das so ein Zeug transportiert hat. Ich sollte eigentlich zum Arzt.«
Das Läuten ihres Telefons holt sie aus der Dusche, sie wickelt sich in ein Badetuch, nimmt ab.
»Sie waren in Porto Nogaro, Zannier. Trotz des Chemiealarms haben Sie das Schiff betreten. Sind Sie verrückt geworden?«, schimpft der Questore sofort. Seit ihrem Dienstantritt in Grado scheint ihr oberster Chef nur darauf zu warten, dass ihr Fehler unterlaufen.
»Welcher Alarm, Dottor Falsariga?«
Xenia steht in der Zugluft und niest. Sie verdreht die Augen und stimmt den unschuldigsten Ton an, zu dem sie fähig ist. Selbst wenn sie ihm die Wahrheit ins Ohr brüllte, würde er ihr nicht glauben. Und falls die Untersuchung des Schiffs keine weiteren Aufschlüsse bringt, wird er sie für den ganzen Aufwand verantwortlich machen. Bonanni hat ihm sicher nicht mitgeteilt, woher er die Information bekam. Eher hatten Perrone und sein Kollege sie aus kleinlicher Rache angeschwärzt.
»Terrorismusalarm. Die Spezialisten vom Militär treffen jede Minute ein. Vermutlich wurde Giftgas eingeschmuggelt. Das Ministerium hat die großräumige Absperrung angeordnet, doch Sie spazieren da einfach rein. Halten Sie sich für unsterblich? Und fast zeitgleich gab es in Salzburg einen islamistischen Anschlag. Ich hätte die größte Lust, Sie an die Grenze zu delegieren. Da fehlt es an Personal.«
»Wie Sie meinen, Dottore. Soll ich gleich losfahren?«
»Beherrschen Sie sich, Commissario. Sind Sie auf den Kopf gefallen? Melden Sie sich umgehend beim Arzt. Es kann sein, dass Sie kontaminiert sind«, brüllt Falsariga, und Xenia stellt sich sein tiefrot angelaufenes Gesicht vor.
»Dann wäre ich kaum am Telefon, und die Flüchtlinge wären nicht lebend angekommen.«
»Sie verkennen die Situation. Unser Amtsarzt ist informiert, dass Sie kommen. Zannier, diese Illegalen schaffen nur Probleme. Und dass sie jetzt schon in Grado anlanden, bedeutet, dass wir die Kontrolle verloren haben. Ganz Europa lässt uns auf ihnen sitzen. Deutschland wird bald wieder dichtmachen, und die Österreicher drohen mit der Entsendung von Militär und hermetischen Grenzbarrieren. Italien bezahlt für alle.«
»Und was passiert jetzt mit diesen Leuten? Wir können sie unmöglich im Theater unterbringen, Dottor Falsariga.«
»Die Sicherheitsüberprüfungen haben Vorrang. Terrorismusabwehr, Zannier. Muss etwa noch mehr passieren? Warten Sie weitere Befehle ab. Der Apparat läuft auf Hochtouren.«
Xenia trocknet sich ab, holt frische Kleidung aus dem Schrank und steckt die Beretta wieder ein, obgleich sie die meist im Tresor lässt. Mit der Dienstwaffe durch den Badeort Grado zu gehen hält sie für überzogen. Was soll hier schon passieren?
Grado, Isola della Schiusa. Kommissariat.
Wenigstens stehen an der Dienststelle die Fenster offen, nach den anhaltenden Niederschlägen lüften die Kollegen durch. Ein Wunder, dass es selbst den Männern zu muffig war. Am Schreibtisch im Entree sitzt Chefinspektor Refolo.
»Ist ein Paket aus dem Innenministerium für mich eingetroffen?«, fragt sie grußlos. Sie kann es kaum erwarten, die Unterlagen von Bonanni anzusehen.
»Das Postfach ist leer.« Refolo hebt die Schultern. »Die Post kam während Donadonis Dienst.«
»Wo ist er jetzt?«, fragt Xenia.
»Ich hab ihn nach Hause geschickt. Er jammerte über Kopfweh wegen zu viel Stress. Wenn er nicht ständig was zu essen bekommt, ist er nicht zu gebrauchen.«
»Memme. Gibt es Neuigkeiten über die Flüchtlinge?«
»Die sitzen im Theater fest. Im Moment werden sie von den Ärzten durchgecheckt. Und die Speznas blockieren noch immer die Straße. Die Anwohner beschweren sich, weil sie sich jedes Mal ausweisen müssen, wenn sie durchwollen. Hier ist eine erste Liste mit Personalien. Ausweispapiere hat angeblich keiner von ihnen, und ihre Staatsangehörigkeiten verschweigen die meisten. Dafür haben die Übersetzer die Sprachen notiert, in denen sie die Leute befragt haben. Das Ganze zieht sich hin, wir haben viel zu wenig Personal.«
Auf einen Blick erkennt sie, dass sich ihre erste Einschätzung bestätigt: Syrer, Iraker, Pakistaner. Afrikaner werden nach wie vor nach Sizilien, Kalabrien oder Apulien geschleust. Dass mit der EARLY SUN der kürzeste Seeweg von der Türkei nach Griechenland umschifft wurde, ist neu. Sollte eine neue Route getestet werden? Dass Flüchtlinge mit größerem Budget für viel Geld auf teuren Segeljachten nach Italien geschippert werden, weiß man seit letztem Sommer. Von einem Frachtschiff ist jedoch seit dem Zusammenbruch des Regimes in Albanien nichts mehr bekannt. Schon 1991 brachten Frachtschiffe wie die VLORA Zehntausende auf der kürzesten Strecke über die Straße von Otranto maximal bis nach Bari. Niemals weiter nach Norden.
Wer auch immer diesen Versuch gestartet hat, kennt sich hier aus. Xenia beschließt, bei Nicola Bonanni darauf zu beharren, in die Ermittlungen unter allen Umständen einbezogen zu werden. Von alleine hätten die Flüchtlinge den Weg zum Busbahnhof nicht gefunden, sogar Fahrscheine hatten sie.
Xenia überfliegt die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und fährt den Computer hoch. Dann schaltet sie an ihrem Telefon die Rufnummernunterdrückung ein und wählt Beckers Nummer, um von ihm mehr über das Attentat in Salzburg zu erfahren. Sie lässt zweimal klingeln, legt wieder auf, dann dreimal und bleibt schließlich dran. Auch wenn sie sich nur selten hören, ist es eine alte Gewohnheit zwischen den beiden, auf die Xenia besteht und an die Becker sich kaum hält. Sie muss lange warten, bis endlich eine Männerstimme mit einem knappen Ja antwortet.
»Ich bin’s«, sagt sie lediglich.
»Wer?«
Xenia kappt die Leitung. Becker fragt nie nach. Schon lange behauptet er, dass sein Telefon abgehört werde. Sie tippt die Suchbegriffe, unzählige Seiten melden fast gleichlautend den Mord in Salzburg. Nur eine nennt den Tatort. Rudolfsplatz, direkt vor dem Justizpalast, wo auch die Büros der Staatsanwaltschaft liegen. Beim Opfer handle es sich um einen etwa sechzigjährigen Mann mit schulterlangem grauem Haar und von durchschnittlicher Statur, der zuvor das Gebäude verlassen habe. Ein Geländemotorrad mit kroatischem Kennzeichen, der Fahrer trug eine farbige Lederjacke. Sturzhelm mit geschlossenem Visier. Bei der Tatwaffe handle es sich um ein osmanisches Krummschwert. Vermutlich ein islamistischer Einzeltäter. Es hätte jeden treffen können. Auch in Salzburg sei man jetzt nicht mehr sicher.
Nervös steckt sich Xenia eine Zigarette an. Obwohl der Mann am Telefon nur ein Wort gesagt hatte, Becker war das nicht. Sie wählt die Nummer von Bonanni im Innenministerium. Er antwortet flüsternd aus einer Konferenz.
»Hast du Kontakte in Salzburg?«, fragt Xenia.
»Hab davon gehört. Lass die Finger davon«, sagt er. »Warst du beim Arzt?«
Ohne seine Frage zu beantworten legt sie auf. Bonanni wird sich melden, sobald er Zeit hat. Sie nimmt ein Blatt Papier und notiert Stichworte. Was ist, wenn die Schleuser neben den Flüchtlingen auch Giftgasbehälter an Land geschafft haben? Wo könnte das Zeug sein, und wo in der Gegend könnte es eingesetzt werden?
Refolo bringt ein dickes Päckchen herein, das ein Kurier angeliefert hat. »Das habe ich unter Donadonis Schreibtisch gefunden. Ich werde ihm eine Abreibung verpassen, wenn er zurückkommt.«
Von Weitem erkennt sie den dicken gelben Briefumschlag mit dem Emblem des Innenministeriums. Dieses Mal ist sie froh über Donadonis Trägheit, dessen Aufgabe es ist, täglich die eingegangene Post zu verteilen. Trotz aller Ermahnungen ist er dem kein einziges Mal zuverlässig nachgekommen. Streng vertraulich steht in großen Lettern über ihrer Adresse. Dieses Paket hätte er sicher geöffnet.
Xenia schiebt Telefon und Tastatur beiseite und reißt es auf. Als Erstes überfliegt sie eine dünne Akte von zehn Seiten. Schließlich zieht sie eine dickere mit vergilbten Papieren heraus. Der rote Stempel des Innenministeriums auf dem Deckblatt mit dem Vertraulichkeitshinweis springt ihr ins Auge. Keine Kopien, Originale. Eine Akte, die es offiziell nicht gibt, wie Bonanni sagte, kann auch nicht entwendet werden. Obenauf das gestochen scharfe Foto einer Frau um die sechzig, darunter ihr Name: Senatorin Romana Castelli de Poltieri.
Fünfundzwanzig Jahre angestauter Hass. Die graue Eminenz, der trotz aller schmutzigen Geschäfte bisher niemand habhaft geworden ist. Senatorin des großen rechten Sammelbeckens, ohne jemals einen Wahlkampf geführt zu haben, doch mit einem bis ins Lager ihrer politischen Gegner reichenden Netzwerk an Abhängigen, die ihr mehr als einen Gefallen schulden. Die Spinne im Beziehungsnetz des Nordostens, die Jobs und Positionen besorgt, bevorzugte ärztliche Betreuung oder Sozialleistungen, genauso wie sie Sonderregelungen durchzusetzen vermag oder nötige Modifikationen zugunsten der Protegés im letzten Moment gut kaschiert in Gesetzesnovellen einflicht. Heute Morgen noch hatte Becker am Telefon angedeutet, sie sei in die dunklen Geschäfte der österreichischen Skandalbank verstrickt gewesen.
Südlich von Rom würde sich niemand über diese Mechanismen wundern. Der Nordosten Italiens aber versteht sich als Insel der Glückseligen, wo die Arbeitslosigkeit im Landesvergleich niedrig und die Einkommen überdurchschnittlich sind. Steuerhinterzieher, Schwarzbauten, Betrug bei öffentlichen Ausschreibungen, Straßenkriminalität gibt es angeblich nur bei den anderen.
Sooft bisher jemand auf die unübersichtlichen Beziehungen der Senatorin hingewiesen hat, so oft wurden die Hinweise ignoriert. Drüben bei Fossalon soll sie sogar an einer Immobiliengesellschaft beteiligt sein, die verlassene Gehöfte billig kauft, notdürftig herrichtet und durch eine gemeinnützige Kooperative zur Beherbergung von Flüchtlingen nutzt. Fünfunddreißig Euro pro Person und Tag. Stockbetten für acht bis zehn Personen in vollgestellten, engen Räumen. Miserable Verpflegung. Lukrative Einnahmen. Xenia würde sich nicht im Geringsten darüber wundern, wenn Romana Castelli de Poltieri auch von der Misere der angekommenen Flüchtlinge profitieren würde.
Sie nimmt ihre Dienstwaffe aus dem Gürtelholster. Ohne hinzusehen, zieht sie das Magazin heraus, lässt die Kugel aus dem Lauf fallen und nimmt den Schlitten ab. Sie blättert weiter, während sie die Waffe säubert und ölt.
Commissario Capo Zannier: Mangel an Teamgeist, exzentrisch, renitent und disziplinlos, gewaltbereit, unberechenbar.
Sie liest sich halblaut vor und verzieht das Gesicht, während sie die Waffe wieder zusammensetzt. »Klingt wie eine Beförderung.« Sie murmelt vor sich hin, als brauche sie noch einmal die Bestätigung. »Ein Brief der Senatorin an den Innenminister. Gegen meine Versetzung nach Grado. Und einer vom Questore, der mich aber als überqualifiziert für diese Stelle bezeichnet. ›Eine Beamtin, die durch ihre Schwerpunktarbeit gegen das organisierte Verbrechen das Sozialgefüge in einem kleinen Provinzkommissariat stören wird.‹ Ganz offensichtlich abgesprochen. Mitsamt einiger Zeugenaussagen der Lieblingskollegen, denen ich im Kommissariat von Ostia den Marsch geblasen hab. Jetzt wird mir einiges klar.«
Sie schiebt das Magazin zurück in die Pistole. Lädt durch und legt sie neben die Papiere. La famiglia steht groß auf dem Deckblatt der dickeren Akte, das erste Blatt zeigt den Familienstammbaum. Wer hat dieses Dossier angelegt?
Chefinspektor Refolo reißt sie aus der Lektüre.
»Wir sollten zum Theater fahren. Es kommt Bewegung in die Sache. Die ersten Flüchtlinge sollen verlagert werden. Außerdem sind die Giftspezialisten am Hafen von Porto Nogaro gelandet und beginnen mit der Durchsuchung.«
Berlin, Hotel am Gendarmenmarkt.
»Unser Militärbündnis wird eine Ausweitung des syrischen Bürgerkriegs auf die Türkei nicht dulden«, sagt die Kanzlerin in den Fernsehnachrichten anlässlich ihres Besuchs bei einer nach Südostanatolien verlegten Bundeswehreinheit, die die Türkei im Rahmen der NATO -Operation Active Fence mit modernen Raketenabwehrsystemen vor Angriffen aus Syrien schützen soll. Ihr Gesicht ist von den Mikrofonen der Journalisten fast verdeckt.
Bernd Körber hängt sein Jackett auf den Bügel und legt die Krawatte ab, als sein Telefon klingelt.
»Mozart ist tot«, sagt die Männerstimme in der Leitung.
»Keine Zweifel?«, fragt Körber und schaltet den Ton des Fernsehers ab.
»Nur wenn man ihm den Kopf wieder annäht.«
Weder mit seinen Telefonaten noch mit den Mails war der Mann mit dem Decknamen »Mozart« besonders sorgsam umgegangen. Seine bisherigen Publikationen über den Bankenskandal um die Middle European Credit Bank hatten bestätigt, dass er außerordentlich gut informiert war und Zugang zu Quellen hatte, deren Enthüllung aus Gründen der Staatsraison verhindert werden musste. Wenn er endgültig zum Schweigen gebracht ist, hat Körber sein Ziel erreicht: Die BavariaFinance ist aus dem Schneider und das Gesicht derer gerettet, die in Aufsichtsrat und Vorstand die Übernahme der angeschlagenen MEC betrieben hatten. Leider ist damit auch Kanzleramtsminister von Menzig aus der Schusslinie.
»Verdachtsmomente?« Körber weiß, dass die Medien die Sache aufbauschen werden.
»Keine. Aber ein Problem könnte es dennoch geben. Mozart behauptete, er habe Kopien der Partitur im Ausland deponiert. Wir wissen noch nicht, ob es stimmt. Oder, falls es die Wahrheit ist, wer sie hat.«
Körber stößt einen leisen Pfiff aus.
»Es kann sich auch nur um einen Bluff handeln.«
»Analysieren Sie seine gesamte Kommunikation und seine Artikel. Und zwar schnell. Listen Sie die Kontakte auf.«
Körber legt grußlos auf und schiebt die Vorhänge zurück. Am Französischen Dom wird die Beleuchtung angeschaltet. Der Regen fällt gegen das Fenster.
Sein Tag war lang gewesen. Noch auf der Fahrt zum neuen BND -Areal wurde Körber unsanft aus seinen Erinnerungen an die große Zeit in Zagreb und den Umbruch auf dem Balkan gerissen. Er hatte nicht auf den Weg geachtet, den sein Fahrer durch unzählige Seitenstraßen wählte. Die Vollbremsung hatte ihn gegen den Vordersitz geworfen, worauf Körber sofort die Tür aufriss und in den Regen hinaussprang. Ein Mann, dessen Kapuze vom Kopf gerutscht war, stützte sich neben seinem Fahrrad auf dem nassen Asphalt ab und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Ein dickes, in Plastiktüten gehülltes Päckchen lag drei Schritte vor ihm in einer Pfütze. Zwei Passanten wollten ihm zu Hilfe zu kommen, doch er wies sie fluchend ab und strich sich die dichten, nassen Haare aus dem Gesicht.
Als Körber auf den Radfahrer zutrat, kam der gerade auf die Beine, wobei er wohl wegen der Schmerzen in einer Sprache schimpfte, die Körber wohlvertraut war.
»Sind Sie verletzt? Ich rufe den Notarzt«, sagte Körber sogleich auf Kroatisch.
»Bist du bescheuert?«, blaffte der Kerl auf Deutsch zurück. »Verschwinde und lass mich in Ruhe. Scheißkrawatte.«
Der Chauffeur näherte sich mit dem Päckchen in der Hand und öffnete es, worauf der massige Radfahrer es ihm entriss. Der schmächtige Körber war wie ein Referee im Schwergewichtskampf zwischen die beiden gegangen, die ihn um mehr als einen Kopf überragten, und schickte den Fahrer zurück zum Wagen. Dann nahm er eine Visitenkarte mit eingeprägtem Bundesadler, auf der nur sein Name und darunter das Wort Direktor stand. Er schrieb seine Mobilnummer dazu.
»Rufen Sie mich an, falls es etwas zu regeln gibt. Ich sorge dafür, dass Sie keine Scherereien bekommen. Wie ist Ihr Name?«
»Miloš Ban.«
»Kroate?«
»Slowene, Kroate, Deutscher. Europäer. Wen interessiert das?«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Der Kerl war auf sein Rad gestützt davongehumpelt, und Körber stauchte den Fahrer zusammen, er möge auf weitere Umwege verzichten und ihn endlich zum BND bringen.
Die anschließenden Sitzungen waren nervtötend gewesen. In einem Vieraugengespräch hatte Major Weißenfels allen Ernstes behauptet, Körbers Ehefrau Maja habe ein doppeltes Spiel betrieben und sei ihrem Mann in den Rücken gefallen, indem sie jahrelang die Serben über seine Dienstreisen nach Zagreb informierte, und dass diese ihn observierten und in den Hotels abhörten und somit auch seine Kontaktpersonen kannten. Ausgerechnet an Majas Todestag trumpfte er damit auf und erklärte von oben herab, dass er über eindeutige Hinweise verfüge. In der anschließenden Abteilungssitzung berichtete Weißenfels, ab sofort der alleinige Koordinator für die Abstimmung der Sicherheitsmaßnahmen anlässlich der Friedensfeier der Regierungschefs zum hundertsten Gedenktag des Giftgaskriegs an der Isonzofront an einem Soldatenfriedhof des Ersten Weltkriegs in Norditalien zu sein. Das konnte Körber nicht durchgehen lassen.
Die Kolleginnen und Kollegen schauten angestrengt zur Decke, zwei von ihnen glotzten auf die Narbe an seiner Stirn, als handelte es sich um einen Stadtplan. Keiner hatte den Mumm auszusprechen, was er dachte. Die meisten kannten Körber seit einer halben Ewigkeit. Aber das schneidige Gebaren des Majors schüchterte sie ein.
Nur eine wirklich neue Sache war auf den Tisch gekommen. Nach einer Information der Kollegen des griechischen Militärgeheimdienstes DDPS hatte gestern ein kleinerer Frachter namens EARLY SUN die Insel Korfu passiert, wo der Dienst die Stimmen an Bord auffing. Syrische, irakische und pakistanische Flüchtlinge. Das Schiff fuhr unter panamaischer Flagge und steuerte die obere Adria an.
»Die wissen doch, dass die Italiener sie aufnehmen werden, statt sie auf offener See zurückzuschicken. Mit ihrem Mare-Nostrum -Programm stellen sie sich als Retter der Menschheit dar, dabei heizen sie die illegale Einwanderung nur noch weiter an.« Weißenfels erntete Zustimmung. »Und im Anschluss schicken sie alle nach Deutschland, dabei ist das Boot längst voll.«
Körber ging anderes durch den Kopf. Er gab Anweisung, ihn über die Position des Schiffs auf dem Laufenden zu halten, und gleich nach der Sitzung führte er zwei Telefonate. Josip Mirković, den Präsidenten der Hafenbehörde im kroatischen Rijeka, informierte er über seinen baldigen Besuch. Der Hafen an der Kvarner Bucht war ideal, um die Waffenbestände nach Syrien zu verschiffen, wie der Minister angewiesen hatte. Und Mirković war dafür die geeignete Person, ihn hatte er im Griff. Körber machte eine kurze Pause vor dem zweiten Anruf, räusperte sich kräftig und setzte schließlich die freundlichste Miene auf, zu der er noch imstande war. Den Abteilungsdirektor im italienischen Innenministerium, Nicola Bonanni, kannte er seit Jahren. Nach kurzem Austausch von Höflichkeiten bat Körber ihn, eventuelle Störmanöver aus seinem Amt zu ignorieren und wegen der Friedensfeier in Redipuglia wie gewohnt ausschließlich mit ihm zu kommunizieren. Bonanni hatte sich nicht weiter über sein Ansinnen gewundert und war wie immer ausgesprochen verbindlich gewesen, allerdings hielt sich der Mann in Rom sehr kurz.
Während er das Bier aus der Minibar öffnete, gingen Körber Bilder von früher durch den Kopf. Als Maja noch lebte. Als sie mit den Kindern unterm Weihnachtsbaum saßen und Geschenke auspackten. Geburtstage. Die Urlaube an der Adria. Das Familienalbum war voll davon.
Berlin, Prenzlauer Berg. Gaudystraße.
»Glaubst du wirklich, dass du das durchhältst, Miloš?«, fragt Clarissa Waisz noch einmal, als sie den Wagen in der einsetzenden Dämmerung am Flughafen Schönefeld vorbei auf die Autobahn Richtung Dresden lenkt. »Das ist eine Mordsprellung. Dein Knie ist ziemlich geschwollen. Das muss geröntgt werden. Ich kann wirklich alleine fahren.«
Die zweiundvierzigjährige Fotografin hatte geplant, am Abend Richtung Süden aufzubrechen, wo sie im Auftrag eines Reisemagazins die östliche Adriaküste vom italienischen Grado bis runter nach Montenegro fotografieren soll, während ein Kollege den westlichen Teil bis zum Salento übernimmt. Ihr Freund Miloš Ban, vereidigter Übersetzer für die slowenische und die kroatische Botschaft in Berlin, wäre ihr dank seiner Sprachkenntnisse eine große Hilfe. Er kennt die Gegend seit seiner Kindheit, was die Reise noch weiter erleichtern würde. Ohne große Umwege oder Zeitverlust kann er sie an die richtigen Orte führen. Doch sein Unfall am Vormittag droht, die Pläne über den Haufen zu werfen. Miloš aber will seine Freundin auf keinen Fall alleine losfahren lassen.
»Es ist wieder mal typisch, dass das ausgerechnet dir passiert«, hatte Clarissa geschimpft, als Miloš gegen 10 Uhr durchnässt und hinkend die Wohnung betrat. »Natürlich ist dir erst wieder im allerletzten Moment eingefallen, deine Rechnungen noch in die Botschaften zu bringen. Ich hab dir schon so viel Geld gepumpt, dass für die Reise Sparkurs angesagt ist.«
Im Flur stand schon ein Koffer mit Clarissas Fotoausrüstung bereit, und auch ihre Reisetasche hatte sie schon gepackt. Miloš warf den Umschlag mit seinen Unterlagen darauf und stützte sich zwischen zwei ihrer gerahmten Vergrößerungen ab.
»Pass doch auf. Nimm die dreckigen Pfoten von der Wand«, schimpfte Clarissa und versuchte, den Abdruck wegzuwischen.
Unter Schmerzen hatte er das Rad nach Hause geschoben, im Treppenhaus angekettet und sich am Geländer die Stufen in den zweiten Stock hochgezogen. Erst als Clarissa erkannte, dass er die Hose nicht alleine abzustreifen vermochte, bemühte sie sich, ihm zu helfen und ihn zu verarzten. Während er sie auf dem Küchenstuhl sitzend gewähren ließ, meinte sie, dass er besser die Polizei gerufen hätte, um den Unfall aufzunehmen und sich mit dem Krankenwagen zur Notaufnahme bringen lassen, anstatt sich mit einer nichtssagenden Visitenkarte zufriedenzugeben. Schon seit geraumer Zeit herrschte dicke Luft zwischen den beiden.
»Körber, kann jeder heißen. Und auch wenn Direktor unter seinem Namen steht und der Bundesadler eingeprägt ist, bist du keinen Deut schlauer«, keifte sie.
»Und du glaubst, dass die Bullen einen Ausländer ernst nehmen, wenn das Auto eine offizielle Regierungsnummer trägt, die kein Normalsterblicher zuordnen kann. Die scheißen sich doch selbst in die Hose.« Miloš humpelte in die Küche. »Außerdem hat der Mann seine Telefonnummer dazugeschrieben, für den Fall, dass was ist.«
»Kannst du das Knie überhaupt bewegen?«, fragte Clarissa, nachdem sie die Wunde gereinigt hatte. Sie leerte einen Packen Eiswürfel aus dem Gefrierfach in einen Plastikbeutel, den sie mit einem Geschirrtuch umwickelte. »Beim Militär haben wir uns bei Prellungen und Zerrungen mit Eis geholfen. Wir waren geschult, Schmerzen zu unterdrücken.«
»Mit einer Kugel im Kopf hat man das bei uns nicht gebraucht.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht bewegte er sein Bein. »Das geht schon vorbei. Wenn du fährst, starten wir wie geplant. Nachts kommen wir gut durch. In sechs Stunden sind wir an München vorbei. Wenn du müde wirst, pennen wir auf einem Autobahnparkplatz. Morgen geht’s mir schon besser.«
»Du kannst ja nicht einmal selber packen. Außerdem fahren wir nicht über München.« Sie zeigt auf die Europakarte auf dem Küchentisch. »Wir fahren über Dresden, Prag, Linz und Graz.«
»Du bist und bleibst ein Ossi. Immer brav durch die Bruderländer.« Miloš stutzte, doch er protestierte vorerst nicht weiter gegen die unsinnige Strecke, solange sie ihn verarztete. »Das wenige, was ich brauche, hab ich schnell zusammen. Morgen früh beginnst du deine Arbeit, und wenn ich kann, dann begleite ich dich. Das Zentrum ist hübsch und überschaubar. Den ersten Tag packst du notfalls auch alleine. Eine Nacht verbringen wir dort, dann fahren wir über Triest nach Istrien zu meinen Eltern.«
»Ich will aber nach Rijeka. Zwei Tage mindestens«, sagte Clarissa trotzig.
»Für Rijeka reicht eigentlich ein Vormittag auf dem Markt«, bemerkte Miloš mit einem Stirnrunzeln.
»Ein bisschen Nostalgie halt. Mit sechzehn wurde ich dort Vize-Europameisterin über sechshundert Meter Freistil. Um Haaresbreite hätte ich gewonnen.«
»Vizemeisterin der sozialistischen Länder, schätze ich.«
»Mach du bloß deine blöden Witze. In der DDR galt Jugoslawien als kapitalistisches Ausland, wo nur bewährte Leute hinreisen durften. An den Europameisterschaften nahmen alle teil.« Clarissa drückte den Eisbeutel fester als nötig auf die Schwellung.
»Hör auf«, rief Miloš. »Ich hab verstanden. Du befiehlst, Clarissa-Schätzchen. Du befiehlst, und du zahlst. Und ich sorge dafür, dass du sparst und schnellstmöglich fertig bist. Denk dran, ich kenn die Gegend wie meine Hosentasche. Auch wenn ich seit dem Krieg nicht mehr dort war.«
»Dafür vergammelst du seither in Berlin. Los, steh auf und versuch, ein paar Schritte zu machen. Das muss in Bewegung gehalten werden. Sei nicht so wehleidig. Und dann pack dein Zeug. Um acht fahr ich los. Mit dir oder ohne dich.«
Auf dem Weg zur Südautobahn machte Clarissa doch noch die gewünschten Abstecher, damit Miloš endlich die Rechnungen abgeben konnte. Eine Stunde vor Mitternacht erstehen sie schließlich nach der Überfahrt auf tschechisches Gebiet die erste Autobahnvignette auf ihrer Reise an die Adria.
Grado Pineta, Via delle Pleiadi.
Die Sonne steht tief, als Xenia mit knurrendem Magen den Computer ausschaltet und die Unterlagen von Bonanni zusammenpackt. Bevor sie das Kommissariat verlässt, versucht sie noch einmal von der Dienstnummer aus, Jordan S. Becker zu erreichen. Tatsächlich meldet sich wieder eine männliche Stimme, die nicht die Beckers ist. Auf ihre Frage, mit wem sie verbunden sei, behauptet der Mann, ein Freund zu sein, Becker sei im Moment verhindert. Xenia faselt von einer telefonischen Rechercheanfrage des Journalisten über die Sicherheitslage für Touristen im Badeort Grado und bittet um Rückruf. Sie legt auf, bevor er nachfragen kann. Als sie aus dem Kommissariat tritt und die Akten unter den Sattel ihres Scooters legt, macht Valerio Alfieri gerade sein Boot am Anleger fest und kommt mit einer Kiste Grünzeug auf sie zu.
»Ganz schön langer Tag heute, Commissario«, sagt er. »Als ich im Morgengrauen rüberkam, waren Sie schon wegen der Illegalen im Einsatz, und jetzt sind Sie immer noch da und nehmen auch noch Akten mit nach Hause. Selten, dass sich ein Beamter so ins Zeug legt. Das Essen sollten Sie aber dennoch nicht vergessen. Ich habe eine Kiste Gemüse, die ich eigentlich jemand anderem versprochen habe. Aber der kann auch bis morgen warten. Hier, Vitamine tun Ihnen gut. Alles sauber, ohne eine Spur Chemie.«
»Der Nachschub an Landarbeitern ist ja nicht Ihr Problem.«
»Guter Witz, Commissario«, lacht Alfieri. »Jetzt muss nur noch jemand behaupten, deshalb sei ich auch der Hintermann bei der Schleuserei. Die Unterkünfte der Senatorin bei Fossalon sind auf jeden Fall lukrativer.« Er stellt die Kiste auf den Sattel ihres Gefährts. »Nehmen Sie es, bitte. Sie würden mir eine Freude machen.«
»Das ist hoffentlich kein Versuch von Beamtenbestechung.« Xenia lächelt verlegen. Sie ist zu müde, um sein Geschenk zurückzuweisen.
»Mit Gemüse wäre es mal etwas Neues. Besuchen Sie mich bei Gelegenheit mal auf Sant’Andrea. Der Sonnenuntergang in der Lagune wird Ihnen gefallen.«
»Vielleicht wenn ich Ihr Grünzeug aufgegessen habe.«
Sie startet den Roller. Xenia wird gute Nerven brauchen. Die Stadtverwaltung hatte gemeldet, dass die Senatorin sich in den kommenden Tagen mit einer Rede zur aktuellen Lage an die Einwohner Grados wenden wird. Mitten im Saisonauftakt fängt sie an zu trommeln, dabei ist die Bürgermeisterwahl, bei der sie ihren Kandidaten durchsetzen will, erst im Herbst.
Der Tag hatte sich im Laufe des Nachmittags beruhigt, nachdem auch die Chemiewaffen-Spezialisten Entwarnung gegeben hatten. Zwar fanden sie noch drei weitere leere Kanister an Bord, aber keine verdächtigen Substanzen. Allein die Frage, ob mit den Flüchtlingen auch Kampfstoff an Land gebracht wurde, blieb unbeantwortet.
Außerdem hatte sich Xenias Laune schlagartig gebessert, als eine Ärztin, die sich im Theater um die weiblichen Flüchtlinge kümmerte, auf ihr Bitten auch sie untersuchte und sie beruhigte. Keine Anzeichen von Vergiftung, auch bei den Flüchtlingen waren keine Symptome aufgetreten. Die Frau wunderte sich zwar über den konkreten Verdacht, doch sie erhielt keine Auskunft. Etwa die Hälfte der Menschen war in ein Auffanglager bei Gradisca gebracht worden, das die Regierung erst vor einem Jahr geschlossen hatte. Aus der Architektur des Gebäudes sprach der Ungeist der einstigen Planer. Mit den hohen grauen Mauern und den glänzenden Stahlgittern erinnerte es an ein Hochsicherheitsgefängnis. Flüchtlinge wurden nicht als Menschen, sondern als Verbrecher betrachtet. Nicht weniger bezeichnend war, dass auch die Kampfeinheit des Questore dorthin delegiert worden war.
Xenia schiebt den Scooter durchs Gartentor. Aus der Küche duftet es verlockend, als sie die Haustür öffnet. Arne eilt ihr wie ein rolliger Kater entgegen, nimmt ihr das Gemüse ab und drückt Xenia ein Glas eisgekühlten Prosecco in die Hand. Der Stapel Unterlagen fällt zu Boden. Sie will ihn nach dem Abendessen lesen.
»Komm mit«, sagt Arne und führt sie in den Garten hinaus. Er hat das wurmstichige Doppelbett aus dem Haus geschleppt und unter der alten Linde aufgebaut. Es musste einem alten bäuerlichen Schlafzimmer entstammen. Dafür hatten sie es billig auf dem Flohmarkt erstanden.
Wie immer, wenn die Wettervorhersage sich zum Besseren wendet und selbst wenn es nachts frisch ist, drängt es Xenia nach draußen. Die Nachbarn sind längst daran gewöhnt, dass sie ab und zu fast nackt durch den Garten geht. Am untersten Ast hängt eine Lampe unter dem Moskitonetz.
»Du bist ein Schatz«, lächelt Xenia. »Ich habe einen Riesenhunger. Was gibt’s?«
»Ach, das braucht noch eine Dreiviertelstunde.« Arne schubst sie aufs Bett.
Als Xenia zum Duschen ins Haus geht, kann sie sich einen Blick in die Küche nur schwer verkneifen. Mit dem Material von Bonanni lässt Xenia sich wieder auf dem Bett nieder und liest sich in der dickeren Akte fest.
»Roomservice, Signora!« Arne trägt eine ofenfeste Form heraus.
»Jetzt weiß ich’s, der Duft von Oregano. Gefüllte Tomaten, herrlich.«
»Leg die Arbeit beiseite. So vergilbt, wie die Seiten sind, kann das warten.«
»Wahrheit hat Eile«, sagt sie. »Aber Hunger kann nicht warten.«
Gefüllte Tomaten nach Arnes Art. Mit Anchovis, Kapern, Knoblauch, Peperoncino, Reis, Pecorino und Oregano. Die Backform dampft auf dem Tisch. Das Wachs der Kerzen tropft auf das Holz und fügt sich zu den anderen Spuren.
Xenia nimmt einen Bissen, sie wedelt mit der Hand. »Heiß! Köstlich! Danke!«
»Und was steht Spannendes in dem Altpapier da?« Nachdem Arne abgeräumt hat, deutet er auf die Dokumente, in die sie sich vertieft.
»Mangel an Teamgeist, exzentrisch, renitent und disziplinlos, gewaltbereit, unberechenbar.« Sie fuchtelt mit einem Blatt. »Was sagst du dazu?«
»Präzise, Volltreffer. Ist das dein Psychogramm?«, lacht er.
»Nein, das ist nur eine unbedeutende Vorbemerkung zu hundert Jahren europäischer Geschichte. Drei Generationen Kriegsgewinnler, die noch immer im Geschäft sind.«
»In der Zeitung stand, die Senatorin hätte die Poleposition als OSZE -Präsidentin.«
»Das wäre die Krönung. Hier ist ihre Familiengeschichte. Lauter starke Frauen, angefangen bei ihrer Großmutter.« Xenia legt den Familienstammbaum auf den Tisch. »Ziemlich aufschlussreich, auch wenn es kein Erbgut gibt, das einen automatisch zum Verbrecher macht. Habgier kann man auch anders weitergeben.« Sie legt ein altes Porträtfoto auf den Tisch. »Diese Maria Hohenhofer wurde 1916 mitten im Großen Krieg Leiterin der Zuteilungsstelle für Lebensmittel in Triest. Die Bevölkerung erhielt immer kleinere Rationen. Kannst du dir vorstellen, was für eine Machtposition das war? Fast alle Lebensmittel wurden an die Front geschickt, Kobarid, Monte San Michele, und später an den Piave. Die reiche Stadt litt Hunger. Und Maria verwaltete den Mangel. Im extremen Winter 1917/18 wurden die Brotrationen von siebzig Gramm pro Kopf und Tag auf die Hälfte gekürzt. Mit einem Generalstreik forderte die Bevölkerung Pane e pace . Und dann wurde auch noch kurz vor Weihnachten die Gasversorgung abgedreht. Maria Hohenhofer war das Bindeglied zwischen offizieller Zuteilung und Illegalität.«
Xenia deutet auf das Foto einer Lebensmittelmarke. Arne nimmt seinen Stuhl und setzt sich Schulter an Schulter, Bein an Bein neben sie.
»Am Ende des Kriegs hatte sie einen riesigen Schatz aus Kunstwerken, Schmuck, Münzen und Hypotheken zusammengetragen. Dankbarkeiten für Hilfe in der Not.«
»So kann man es auch nennen.«
»Und als nach dem Krieg die österreichische Krone durch die Lira ersetzt wurde, italienisierte sie ihren Nachnamen von Hohenhofer flugs in Altavilla. Mit ihrem Vermögen und dem hier verbliebenen Geld ihres österreichischen Familienzweigs betrieb sie Devisenhandel.«
»Und kassierte natürlich wieder.«
»Immerhin bist du doch noch Realist genug. Ich würde allzu gerne wissen, wer diese Akte angelegt hat.« Xenia lächelt schief. »Hier, Maria zog dann auch die österreichische Verwandtschaft über den Tisch, als die nach dem Sieg Italiens die Stadt verließ und ihren Immobilienbesitz verkaufen wollte. Häuser in zentraler Lage riss sie sich unter den Nagel, rings um den Corso Italia und die Piazza della Borsa. Maria Altavilla heiratete einen Ludwig von Pöltl, dessen Name im Faschismus italienisiert wurde. Fortan hieß er Luigi de Poltieri.« Xenia deutet auf den Namen Adele im Stammbaum. »Ihre Tochter heiratete 1948 einen Cesare Castelli. Dessen Vater siehst du hier.«
Xenia zeigt das sepiafarbene Foto eines Schwarzhemds. Strammer römischer Gruß, grimmiger, in die Ferne gerichteter Blick, markantes Kinn.
»Als Mussolini 1938 in Triest die Rassengesetze proklamierte, kam dieser Remigio Castelli als Direktor der staatlichen Sozialversicherung in die Stadt. Damit besaß er die Kartei der ganzen Bevölkerung und diente sich anschließend als rastloser Denunziant den Nazis an. Er bereicherte sich schamlos an der Arisierung des Vermögens. Eine kleine Warnung an die noch in der Stadt verbliebenen Juden vor der nächsten Razzia. Ein Pro-forma-Kaufvertrag für Haus, Firma, Kunstwerke, die er bis zu ihrer Rückkehr freundlicherweise verwalten würde. Die Tinte war noch feucht, als er sie ans Messer lieferte. Ganze Häuserzeilen gingen in seinen Besitz über.«
»Nach dem Krieg kam natürlich auch er ungeschoren davon.«
»Meinst du wirklich?« Xenia schüttelt zaghaft den Kopf. Sie zeigt ein unscharfes Foto eines am Boden liegenden Mannes. Schaum vor dem Mund, die Augen weit aufgerissen. Zwei amerikanische Offiziere blicken auf ihn hinunter. »Bei seiner Verhaftung zerbiss er eine Kapsel mit Zyankali.«
»Der Feigling hat sich den Strick erspart.«
»Du bist ein unverbesserlicher Optimist, mein Lieber.« Xenia zieht ein weiteres Blatt heraus. »Der Totenschein von 1945. Ausgestellt von den Amerikanern. Aber das hier ist ein nie veröffentlichter Geheimdienstvermerk.« Ein mit Schreibmaschine verfasstes Schreiben mit CIA -Briefkopf.
»Woher hast du das?«
»Offiziell habe ich das gar nicht. Castelli ist erst 1985 unter dem Namen John Castle in Miami gestorben. Zum zweiten Mal. Ganze vierzig Jahre später. Unmöglich, die Fotos mit dem des Suizids zu vergleichen. Das ist zu unscharf.« Sie legt Kopien von Artikeln amerikanischer Zeitungen über Kunstauktionen daneben. »In Wahrheit lebte das Schwein bis ins hohe Alter als Kunsthändler in Florida. Und verhökerte Gemälde von Chagall, Lovis Corinth, Franz Marc, Kandinsky, Picasso, Matisse.«
»Und die wahren Eigentümer hat er ans Messer geliefert. Verlang eine DNA -Probe, das muss der Presse zugespielt werden.«
»Eingeäschert und im Wind verstreut. Es gibt keine Überreste von ihm.«
»Und ich dachte, nur wir Deutschen hätten solche Kaliber gehabt.«
»Es ist noch nicht vorbei, Arne. Sein Sohn Cesare Castelli studierte ebenfalls Jura, wurde aber vor dem Kriegseintritt der Amerikaner zum Studium in die USA geschickt. 1945 kam er mit den amerikanischen Truppen nach Triest zurück. Als Befreier. Er übernahm die Kanzlei seines Vaters. Ohne Universitätsabschluss. Big Brother hat es schon damals registriert. So hält man seine Leute im Griff.«
»Dieser Cesare wusste natürlich, dass sein Vater in Florida lebte. Oder?«
»Rate mal, wen er heiratete?«
»Die andere natürlich. Diese Adele de Poltieri. Liegt doch auf der Hand.«
»Richtig. Die Hochzeitsreise machten sie nach Miami. Die Senatorin ist ihre älteste Tochter. Auch sie studierte Jura, ging aber direkt in die Politik.«
Arne schlägt mit der Hand auf den Tisch, eine der Kerzen fällt um. Das Wachs läuft über eine Fotografie von der Verleihung des Doktortitels 1982: die strahlende Romana Castelli de Poltieri mit ihren stolzen Eltern.
»Und was hast du mit alldem zu tun?«
Xenia nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Ich habe erfahren, dass sie eine geheime Akte über mich führt.«
»So wie du über sie?«
»Und wie derjenige, der dieses Konvolut anlegte. Ich kenne die Frau seit Langem.«
Um 22 Uhr 30 klingelt Xenias Telefon. Erleichtert sieht sie Bonannis Nummer, nimmt das Gerät und lässt Arne allein am Tisch zurück.
»Das hat aber lange gedauert«, sagt sie, als sie abnimmt. »Wo warst du?«
»Hört sich nach einem Vorwurf an, mein Schatz. Ganz schön besitzergreifend.« Nicolas ironischer Unterton ist unüberhörbar. Xenia hatte sich während ihrer Affäre stets gegen alle Ansprüche verwahrt, selbst wenn er ihr vorschlug, übers Wochenende nach Terracina in seine Wohnung am Meer zu fahren.
»Du verwechselst Privates und Berufliches, mein Lieber. Was ist passiert?«
»Jetzt ist es offiziell: Bei euch in der Gegend wird bald einiges los sein. Ausgerechnet am Sacrario von Redipuglia soll eine große Zeremonie zur Ächtung von Chemiewaffen zelebriert werden. Zum hundertsten Jahrestag des Giftgaseinsatzes während des Ersten Weltkriegs an der Isonzofront. Der Witz bei der Sache ist, dass nicht die Staatspräsidenten auflaufen sollen, sondern die Regierungschefs. Deutschland, Italien, Österreich, Slowenien und Kroatien. Als herrsche Dauerwahlkampf. Ein Zeichen des Friedens ausgerechnet am Gefallenenmahnmal. Und mich erwischt es doppelt. Die Kollegen haben mir die Koordination übertragen. Das hat man davon, wenn man mehrere Sprachen beherrscht. Sei auf der Hut, Xenia, sonst geht’s dir auch so. Ich musste zähneknirschend akzeptieren und werde eine Menge Geschwätz ertragen müssen, ohne besonders viel Einfluss auf die Vorgänge zu haben. Eher eine Aufgabe für den diplomatischen Dienst. Alle eigenen Überzeugungen ausschalten und jede Programmänderung im eigenen Haus nach außen kommunizieren. Selbst wenn absehbar ist, dass sie im nächsten Moment widerrufen wird. Gute Miene zum bösen Spiel machen.«
»Das kannst du doch ganz gut, Nicola.«
»Hast du das Dossier gelesen?«
»Würde ich eine Biographie der Senatorin schreiben, wäre es hilfreich. Leider sind keine Fakten dabei, mit denen man sie überführen kann. Wer hat die Akte überhaupt angelegt?«
»Das lässt sich nicht mehr feststellen. Ich bin fast zufällig darauf gestoßen.«
»Fast zufällig?«, spottet Xenia. »Was soll denn das heißen? Wenigstens geht daraus hervor, wer gegen mich intrigiert hat, als es um die Besetzung der Dienststelle ging.«
»Das sollte dich eigentlich motivieren.«
»Hast du von dem Attentat in Salzburg gehört? Was ist da dran?«
»Nachdem du mich schon heute früh danach gefragt hast, haben wir uns informiert. Das Opfer ist ein Journalist, der gerade von der Staatsanwaltschaft kam. Auf jeden Fall kein Terrorismus, die Grenzkontrollen werden aufgehoben.«
»Also doch Becker.« Xenia gefriert das Blut in den Adern.
»Kennst du ihn?«
»Allerdings«, flüstert sie. »Ich befürchte, ich muss morgen nach Salzburg.«
22. April 1996, 5 Uhr 55. Triest.
Der Tag nach den Wahlen für das neue Parlament. Morgengrauen. Ein Mannschaftswagen der Polizia di Stato stoppt vor einer schmucken Villa in einem der bürgerlichen Vororte am Meer. Ein dunkelblauer Alfa Romeo hält dahinter. An der Gartenmauer vor der zweistöckigen Villa klebt ein Wahlplakat mit dem Konterfei der Senatorin und dem Logo der Forza Italia. Boia chi molla. Eine für alle lautet der einzige Slogan. Die Politikerin zeigt selbstbewusst lächelnd das Victoryzeichen. Ein Unbekannter hatte in tiefster Nacht mit einem dicken Filzstift »Faschistennutte« auf ihre Stirn geschrieben und ihr ein Hitlerbärtchen angemalt.
Zwei Männer steigen in den Mannschaftswagen um, in dem sechs uniformierte Beamte warten. Der Ispettore Capo ist ein dynamischer Mann um die vierzig, dessen dunkles Haar erste silberne Strähnen zeigt. Ihm folgt der Staatsanwalt, hellhäutig, mager, leicht Basedowscher Blick und trotz seiner jungen Jahre mit schütterem Haar.
»Dies ist keine politische Aktion. Lassen Sie sich nicht irritieren, Signori.« Er stutzt einen Augenblick und fügt lächelnd ein »Signorina« hinzu, als er die blutjunge Polizistin sieht, deren Schulterklappen noch kein Streifen ziert. Er wirft dem Chefinspektor einen Blick zu und, als dieser bestätigend nickt, fährt er fort.
»Die Senatorin wurde gestern zum zweiten Mal gewählt und hat politisch Rückenwind. Sie wird uns mit allen verfügbaren Mitteln das Leben schwer machen. Verhalten Sie sich absolut korrekt, keine Antworten auf erwartbare Provokationen. Sie hat das Recht, ihren Anwalt anzurufen, sie ist aber selbst Juristin, und ich bezweifle, dass sie das in Anspruch nimmt. Ansonsten muss sie die Durchsuchung dulden. Ihre Büroräume im Stadtzentrum werden zeitgleich durchsucht. Ein Beamter wird darauf achten, dass sie keine Beweismittel verschwinden lässt.«
Der Chefinspektor zeigt auf die zwanzigjährige Xenia Ylenia Zannier. Sie lächelt dankbar. Er ist ihr sympathisch. An der Polizeischule hat er ein Seminar über den korrekten Umgang mit Bürgern in Krisensituationen gehalten. Unterhaltsam, unkonventionell, zum Teil zum Lachen komisch, obgleich er alle Beispiele aus der eigenen Berufserfahrung gegriffen hatte, wie aus seinen Schilderungen leicht zu verstehen war. Proteo Laurenti heißt er und ist keiner der Bürokratenhengste, die sich nur an Hierarchien festklammern.
»Wir suchen Unterlagen über Geldtransfers und geheime Bankkonten, welche die Beteiligung der Senatorin 1994 beim Bruch des UN -Embargos gegenüber den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens belegen. Vor zwei Jahren also«, fährt der Staatsanwalt fort. »Verbotene Waffenlieferungen an Kroatien. Sie kennen das Vorgehen.«
Einige der Beamte tauschen vielsagende Blicke, manchen behagt die Sache nicht, die Senatorin kann einen in den Ruin treiben. Doch Befehl ist Befehl. Der Staatsanwalt steigt als Erster aus, klingelt lange am Gartentor. Chefinspektor Laurenti steht neben ihm. Endlich wird ein Vorhang im ersten Stock zurückgeschoben. Die Senatorin ist zu sehen. Dann erklingt ihre Stimme in der Gegensprechanlage.
»Ja, bitte.« Den Hörer hält sie ans linke Ohr. Hinter der Glasscheibe bewegen sich ihre Lippen. Ihr dunkelblondes Haar ist wirr und unfrisiert. Der Staatsanwalt hält ein Stück Papier hoch, Laurenti antwortet.
»Richterlich angeordnete Durchsuchung. Öffnen Sie, oder wir brechen die Tür auf.«
»Warten Sie.«
Er zählt deutlich sichtbar mit den Fingern bis fünfzehn. Der Türöffner zum Gartentor summt. Die Uniformierten rennen zur Haustür und bauen sich mit gezogenen Waffen zu beiden Seiten auf. Wieder dauert es einen Augenblick, bis ein Schlüssel im Schloss knirscht und sich der Knauf dreht. Der Staatsanwalt stößt die Tür auf und steht der Senatorin gegenüber. Romana Castelli de Poltieri ist zweiundvierzig, an diesem Morgen wirkt sie deutlich älter. Ihre Gesichtszüge sind von der Wahlfeier gezeichnet. Die Uniformierten drängen an ihr vorbei und verteilen sich in die Räume. Sie hält den Morgenmantel mit einer Hand geschlossen. Er öffnet sich kurz, als sie nach dem Durchsuchungsbefehl greift. Sie trägt ein Nachthemd aus schmutzigweißer Seide. Sie schließt ihn mit einem entschiedenen Ruck am Gürtel und zerknittert dabei das Papier in ihrer Hand.
»Die Beamtin wird Sie begleiten und während der Durchsuchung nicht von Ihrer Seite weichen. Sie haben das Recht, sich in ihrer Gegenwart anzukleiden. Die Vernichtung oder das Unterschlagen von Beweismitteln unterliegt dem Strafrecht. Sie dürfen Ihren Anwalt anrufen, ansonsten keine Telefonate, keine Behinderungen.« Die Augen des Chefinspektors scheinen zu lachen, während sein restliches Gesicht keine Regung zeigt.
»Höchste Zeit für eine grundlegende Justizreform, mit der dieser Willkür ein Ende gesetzt wird. Immerhin haben Sie bis nach der Wahl gewartet. Aber Sie wissen, dass Sie damit nicht durchkommen werden«, entgegnet die Senatorin übellaunig. »Schlechte Presse für Polizei und Staatsanwaltschaft.«
Sie lassen die Frau wortlos stehen und drängen ins Haus. Xenia folgt der Senatorin die Treppe hinauf in den ersten Stock zu ihrem Schlafzimmer. Als sie die Tür energisch hinter sich zu schließen versucht, stößt die junge Polizistin sie viel zu heftig auf.
»Steh auf und hau ab«, faucht die Senatorin, als unter der Bettdecke das verschlafene Gesicht eines jungen Mannes auftaucht.
Sie würdigt Xenia keines Blickes, nimmt ein paar Kleider von einem Stuhl und Wäsche aus dem Schrank und geht ins Bad. Dieses Mal stellt Xenia den Fuß in die Tür, sieht aber noch, wie der Mann rasch seine Unterhose anzieht und die auf dem Boden verstreuten Klamotten zusammensucht.
»Sie hat einen Gast«, ruft Xenia durchs Treppenhaus. »Er kommt jetzt runter.«
»Scher dich zum Teufel«, schimpft die Senatorin und knallt vergebens die Tür gegen Xenias Stiefel. »Du verletzt meine Intimsphäre.«
»Sie haben nichts, was ich nicht auch habe, Signora.« Endlich steht sie der Frau gegenüber, von der sie überzeugt ist, dass sie ihren Bruder Floriano auf dem Gewissen hat.
»Senatrice«, korrigiert die Frau zischend. »Zeig gefälligst Respekt vor den Institutionen dieses Staats. Dreh dich um.«
»Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.« Tatsächlich dreht sie der Senatorin leicht den Rücken zu, sie sieht sie über die Schulter halb im Spiegel. Knapp einssiebzig, die linke Brust größer als die rechte, fünf Kilo zu viel auf den breiten Hüften, Cellulite, blasse welke Haut, Mangel an Bewegung, obwohl ihr nachgesagt wird, sie habe eine Leidenschaft für Pferde. Sie sieht älter aus, als sie ist, ungepflegt. Das Nachthemd wechselt sie zu selten, denkt Xenia. Romana Castelli de Poltieri zieht Unterwäsche und Strumpfhose an, einen knielangen, grauen Rock und eine hellrosa Bluse. Sie erwischt ihren Blick im Spiegel, während sie sich das Haar bürstet.
»Name und Dienstrang«, faucht die Senatorin.
»Agente Zannier, Xenia Ylenia.« Sie verschweigt den Nachnamen ihrer Stiefeltern. Erst mit der Volljährigkeit hatte sie den Namen ihres Vaters angenommen.
»XYZ ? Deine Eltern können nicht ganz bei Trost gewesen sein.«
Sie sagt es, als versuche sie, sich den Namen für immer einzuprägen. »Such dir einen anderen Beruf, Kleine. Ich kann dir helfen, draußen im richtigen Leben. Aber ich kann dir auch eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Du hast die Wahl.«
Die Senatorin drängt sich an Xenia vorbei, geht strammen Schrittes in einen kleinen, altmodisch eingerichteten und unaufgeräumten Salon, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch stinkt. Sie lässt sich wie eine Versteinerung auf einem unbequemen Holzstuhl direkt vor einer getäfelten Wand nieder. Trotz der ausladenden, mit grünem Samt bezogenen Sessel. Keine Regung, außer ihrem eiskalten Blick, der der jungen Polizistin folgt, die sich anscheinend gelangweilt umsieht. Ein randvoller Aschenbecher steht auf der Fensterbank, zwei Champagnergläser. Die leere Flasche liegt auf dem Boden vor dem Heizkörper. Die Kissen auf dem Sofa sind zerwühlt, die Sessel unberührt.
»Gib mir die Fernbedienung.« Romana Castelli de Poltieri zeigt auf den Couchtisch.
Xenias Blick fällt auf den riesigen Fernsehapparat, dessen Schirm man nur von der Sitzgruppe aus betrachten kann. Sie tut, als hätte sie nichts gehört, und setzt sich rittlings auf einen anderen Stuhl nur einen Meter der Politikerin gegenüber, die Arme über der Lehne verschränkt, ihr Kinn leicht aufgestützt. Sie hält ihrem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. Die Senatorin steht auf, Xenia drückt den Rücken durch und schaut ihr nach. Die Frau geht hinüber, dreht den Fernseher, nimmt die Fernbedienung, doch als sie ihren alten Platz einnehmen will, hat Xenia den Stuhl verrückt und klopft mit den Knöcheln das dunkle Holz der Täfelung ab.
»Lass das«, faucht Romana Castelli de Poltieri böse. »Das ist mein Platz.«
»Setzen Sie sich woandershin«, sagt Xenia ungerührt.
»Glaubst du, du kannst mich herumkommandieren?«
Sie blickt arrogant auf die undekorierten Schulterklappen der Uniform und zieht den Stuhl zurück, doch Xenia weicht nicht von der Stelle und klopft weiter.
»Setz dich hin. Dein Chef hat gesagt, du sollst mir lediglich Gesellschaft leisten. Wie alt bist du überhaupt?«
»Zwanzig, nächsten Monat.«
Xenia stemmt beide Hände gegen die holzvertäfelte Wand und versucht, sie zu verschieben. Sie wackelt leicht mit einem fremden, leicht metallischen Klang, aber sie weicht nicht. Stoisch tastet die Polizistin den Rand ab.
»Untersteh dich, mein Haus zu demolieren, Flittchen.«
Die Senatorin läuft zu der jungen Frau, die mit bloßen Fingern eine Leiste löst, und versucht, sie am Arm zu fassen.
Die Uniformierte macht einen Schritt zur Seite, die Politikerin greift ins Leere, und Xenia hat bereits eine zweite schmale Leiste in der Hand. Sie hält sie hoch wie zwei Schwerter. Romana Castelli de Poltieri weicht einen Schritt zurück, dann verliert sie die Beherrschung und beginnt, wie am Spieß zu schreien.
»Sachbeschädigung und tätlicher Angriff. Such dir einen neuen Job, Flittchen. Ich mach dich fertig. Dich wird man schneller aus der Polizei werfen, als du dir vorstellen kannst. Aufhören! Du Nutte gehörst auf den Straßenstrich.«
Unbeirrbar entfernt Xenia die breiteren Leisten aus der Täfelung. Nut und Feder, keine Spinnweben. Ispettore Capo Laurenti stürmt herein.
»Was ist hier los?«
»Dieses dumme Huhn demoliert meine Einrichtung«, schimpft die Senatorin. »Befehlen Sie ihr, damit aufzuhören.«
Der Vorgesetzte schweigt und beobachtet die junge Kollegin, die wie in Trance eine Leiste nach der anderen aus ihrer Verankerung zieht.
»Jetzt reicht’s.«
Die Stimme der Senatorin bebt, ihr Blick lastet auf dem Chefinspektor. Er macht einen kleinen Schritt nach vorne. Die Szene belustigt ihn. Eine einflussreiche Politikerin verliert die Fassung, weil eine naive Berufsanfängerin starrköpfig davon überzeugt ist, Inspektor Columbo oder einer von Starsky & Hutch zu sein.
Die restliche Täfelung löst sich fast von alleine. Hinter der nächsten Leiste wird der graue Stahl eines großen Tresors sichtbar. Zwei Schienen kommen zum Vorschein. Man kann die Täfelung verschieben, ohne sie zu zerlegen, wenn man den Mechanismus kennt. Xenia löst ihn aus.
»Ich verleime die Leisten wieder«, sagt sie kokett. »Ein Kinderspiel.«
»Wenn die Kollegin das sagt, ist es so.« Der Chefinspektor wendet sich lächelnd der Senatorin zu, die sich mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern auf die Unterlippe beißt. Sie zittert vor Wut.
»Was geht hier vor?« Der Staatsanwalt tritt mit alarmiertem Blick ein. Als er den Tresor entdeckt, hellen sich seine Züge auf. »Öffnen Sie, Senatorin.«
Schweigen. Sekunden verstreichen, in denen man nur die Geräusche der Männer im unteren Stockwerk vernimmt.
»Wenn Sie ihn nicht öffnen, dann werden unsere Spezialisten es tun«, sagt Xenias Chef mit ruhiger Stimme. »Sie gehen meist ein bisschen grob vor. Vermutlich müssen Sie danach einen neuen kaufen.«
Zögerlich setzt sich die Senatorin in Bewegung. Xenia ist auf Abstand bedacht und macht drei Schritte zurück. Nummerntasten, Drehkranz. Eine sechsstellige Kombination. Spitzes Klacken der Stahlstangen. Drei Aktenordner. Papierstapel. Bargeldbündel. Kontoauszüge.
Xenia lässt dem Staatsanwalt und ihrem Vorgesetzten den Vortritt. Vom Fenster aus sieht sie, wie ein Kollege vor dem Einsatzwagen dem Mann aus dem Bett der Senatorin seine Papiere zurückgibt. Wie sie später erfährt, ein österreichischer Student aus Salzburg, der an der juristischen Fakultät Triests eingeschrieben ist und kurz vor dem Examen steht.
Im Juli erhält die Jungpolizistin Xenia Ylenia Zannier bei der Zeremonie zum 144. Bestehen der Polizia di Stato ihre erste Belobigungsurkunde wegen besonderer Aufmerksamkeit. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, doch die Immunität der Senatorin wird von ihren Kollegen nicht aufgehoben.