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Salzburg Leopoldskron, Zwieselweg.
»Nach dem Attentat auf diesen Journalisten ist man nicht einmal mehr bei uns vor den Fundamentalisten sicher.« Die akkurat frisierte Margarete Neuner-Hebenstreit legt die Zeitung beiseite und betrachtet ihre manikürten Hände. Ein Blitz lässt das Licht über dem Frühstückstisch flackern.
Gestern am späten Nachmittag hatte sich der Himmel über Salzburg mit einem Mal verfinstert, starker Westwind trieb schwarze Wolken über das Land. Aus der Ferne näherte sich dumpfes Donnergrollen, als die Ruhe vor dem Sturm einkehrte und die Luft stickig wurde. Keine Stunde später prasselten dicke Regentropfen auf die Stadt nieder. Der Geruch nach Asphalt, nassem Staub, Metall verschwand rasch, als der Himmel schließlich alle Schleusen öffnete, Blitze und Donner die Leute von den Straßen trieben. Die ganze Nacht regnete es ohne Unterlass, und auch an diesem Morgen scheint sich noch keine Besserung abzuzeichnen.
Staatsanwalt Clemens Neuner-Hebenstreit musste auf sein tägliches Bad im Pool seines Gartens verzichten. Beim Frühstück plaudert er nicht wie sonst ausgelassen mit seiner Frau über die Geschehnisse, die ihm beim Durchblättern der Zeitungen erwähnenswert scheinen. Stattdessen verschüttet er den Kaffee über das Wurstbrot auf seinem Teller und über die weiße Leinentischdecke, als er die Headline des Artikels gleich auf der dritten Seite sieht, und zieht sein Mobiltelefon aus der Hosentasche.
Margarete Neuner-Hebenstreit räumt erschrocken den Tisch ab und wechselt das Tischtuch, während er nervös mit den Fingern auf das blanke Holz trommelt und wartet, dass abgenommen wird. Eine andere Nummer von Romana Castelli de Poltieri hat er nicht. Normalerweise meldet sich ihr Bruder Carletto und leitet sein Anliegen an die Senatorin weiter. Kein einziges Mal hatte sie ihn in der Vergangenheit versetzt. Und heute ist es noch wichtiger als sonst. Brisante Meldungen der ausländischen Medien finden frühestens am Folgetag in die eigene Presse. Zeit, die sie nutzen müssen.
Bayern-Faulspiel bei MEC-Deal. Der Titel ist so unverfänglich, dass er auf der Sportseite stehen könnte. Bereits im Untertitel geht es aber zur Sache. Kick-back-Zahlungen statt Due Diligence. Ein Alpen-Adria-Krimi mit Milliardenfolgen.
Als Aufmacher die Abbildung eines Grundbuchauszugs des Katasters in Triest, auf dem der Name eines der beiden Aufsichtsräte der BavariaFinance Group farbig unterlegt ist. Der Artikel beansprucht eine halbe Seite und ist so gehalten, dass noch Schlimmeres zu befürchten ist.
Der Autor dieser Recherche, Jordan S. Becker, wurde in Salzburg brutal vor dem Justizpalast ermordet, kaum dass er das Gebäude verließ. Der Leiter der Soko MEC Dr. Clemens Neuner-Hebenstreit hatte ihn zum Gespräch gebeten. Der Redaktion vorliegende Kontoauszüge aus dem Jahr 2007 belegen Kick-back-Zahlungen an zwei Aufsichtsräte der BavariaFinance Group, die zeitgleich mit der Übernahme der maroden MEC getätigt wurden. Heikel ist dabei auch, dass einer dieser Männer heute Schulter an Schulter mit der deutschen Kanzlerin arbeitet. Der zweite frühere Aufsichtsrat erwarb eine Nobelvilla mit Meerblick im eleganten Triester Vorort Barcola zu einem Preis, der um tausend Prozent über dem damaligen Marktwert lag. Veräußert wurde das Gebäude von der italienischen Senatorin Romana Castelli de Poltieri, die seit 1994 im römischen Senat sitzt. Diese Summe wurde ihrem Konto bei der MEC Bank gutgeschrieben, das sie inzwischen aufgelöst hat. Ähnliche Transaktionen liefen beim Verkauf eines bedeutenden Weinguts im Friaul und anderen Immobilien. Es liegt auf der Hand, dass der italienische Fiskus bei diesem Geschäft leer ausging. Die Originalbelege der Bank, die dem Autor anonym zugespielt wurden, sowie die Grundbuchauszüge sprechen eine deutliche Sprache. Belegbar sind Kick-back-Zahlungen in Höhe von fünfzig Millionen Euro. So stellt sich zwangsläufig die Frage: Waren diese Überweisungen für die Übernahme der maroden Middle European Credit Bank AG entscheidender als eine sorgfältige Prüfung durch die Käuferin, die BavariaFinance Group? Natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Dem Schadensersatzprozess gegen die Republik Österreich, in dem die Bayern sich als Betrogene gerieren, können diese neuen Erkenntnisse eine entscheidende Wendung geben. Die Notverstaatlichung wäre damit unnötig gewesen. Der Leiter der Soko MEC , Dr. Neuner-Hebenstreit, steht jetzt mit seinen Ermittlungen auf dem Prüfstand. Wie viel will und darf er aufdecken?
Verdammt, sein Name steht schwarz auf weiß an prominenter Stelle. Wie war Becker an die Bankunterlagen gekommen? Entweder hatte sie ihm ein Maulwurf in Bayern zugespielt oder jemand aus der Soko. Und auch die Senatorin wird genannt. Er muss sie warnen. Sie hatte damals das Ihrige dazu getan, seinem Curriculum Vitae zusätzlichen Glanz zu verleihen. Neuner-Hebenstreit gilt schon deshalb als Spitzenjurist, weil er über gleich zwei Staatsexamen verfügt. Das österreichische hatte er mit summa cum laude bestanden, beim Abschluss seines zweiten Studiums in Italien war dafür der Einfluss der Senatorin ausschlaggebend gewesen.
Sie hatten sich einst in Triest kennengelernt, wo er während des Studiums nach politisch Verbündeten Ausschau hielt. Der fünfzehn Jahre älteren Dame präsentierte er sich auf Empfehlung des damaligen Kärntner Landeshauptmanns, für dessen politischen Schwung Clemens Neuner-Hebenstreit sich im Land Salzburg stark zu machen versuchte, doch kaum Gefolgsleute fand. An der Universität Triest war er zwar immatrikuliert, doch zeigte er sich dort selten. Aber das Zertifikat eines glänzend bestandenen Studiums ziert in goldenem Rahmen die Wand seines Arbeitszimmers. Romana Castelli de Poltieri hingegen wurde in den Aufsichtsrat der MEC Bank gewählt und bald darauf für ihre Verdienste zur Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen des Landes Kärnten ausgezeichnet.
Der zweite Artikel untermauert die Vorwürfe mit Fotos und Beckers Text.
Europa in rechten Händen
Die Favoritin für die Position des Generalsekretärs der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( OSZE ), die italienische Senatorin Romana Castelli de Poltieri, war 1994 aktive Embargobrecherin, jahrelang saß sie im Aufsichtsrat der MEC .
Vier Fotos zeigen sie in gleicher Pose:
12. 6. 1994, Waffentransfer an einem Grenzübergang bei Triest.
2001, bei der dritten Wiederwahl in den Senat.
2009, Rede beim ersten Parteitag des Rechtsbündnisses Popolo della Libertà.
Vor einer Woche, noch nicht ganz drin: Sitz der OSZE , die Hofburg in Wien.
Bildlegende: Befehlen gewohnt – Manche Posen behält man bei. Senatorin Romana Castelli de Poltieri in über zwanzig Jahren unaufhaltsamer politischer Karriere.
Gut Ding will Weile haben, heißt es im Volksmund. 1994 dokumentierte unser Kollege Jordan S. Becker den Bruch des von der UNO verhängten Embargos gegen die Teilrepubliken des zersplitterten Jugoslawiens. Ein Lkw-Tross mit slowenischen Kennzeichen und mit Waffen aus Deutschland beladen, Altbestände der DDR -Volksarmee, wie die Aufschriften der Kisten vermuten lassen, wurden nachts an einem kleinen Grenzübergang östlich der Hafenstadt Triest unter den Augen der slowenischen Polizei einem kroatischen Kommandanten übergeben. Die Frau im Vordergrund ist die 1994 erstmals in den römischen Senat gewählte Romana Castelli de Poltieri. Bildrecherchen über den Lauf von mehr als zwei Jahrzehnten schließen jeden Irrtum aus. Die Aufgabe der OSZE ist es, Konflikte zwischen den 57 Mitgliedsstaaten zu vermeiden und die Kooperation in Zentraleuropa zu verstärken. Kann dieses Amt von einer Person ausgefüllt werden, die ihre Karriere mit dem Bruch des Waffenembargos begann? Die Politikerin war bis Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Wieder und wieder betätigt Neuner-Hebenstreit vergebens die Wahlwiederholung. Eine halbe Stunde später sitzt er im Büro Rudolfskai an seinem Schreibtisch und schielt auf die Nummern, die in kurzen Abständen auf dem Display seines Dienstapparats aufleuchten. Es können nur Journalisten sein, die sich ein Statement erhoffen. Freunde wissen, wie sie ihn erreichen können, doch von ihnen meldet sich keiner. Der Staatsanwalt sagt alle Termine ab, tippt sein Plädoyer in eigener Sache und druckt es aus, um sofort zur Anwaltskanzlei eines früheren Kommilitonen zu eilen, der daraus die einstweilige Verfügung gegen das Blatt formulieren soll. Derartige Anschuldigungen müssen unmittelbar untersagt werden.
Adria-Schiffsroute nach Süden.
Ein rhythmisches Stampfen, begleitet von einem sonoren Geräusch ist das Erste, was Clarissa vernimmt, als sie zu sich kommt. Um sie herum ist es stockdunkel, doch der leicht vibrierende Metallboden unter ihrer Haut ist wärmer als der Stahl des Containers in Rijeka. Ihre Kehle ist trocken, sie fühlt sich zerschlagen, ihr Gesicht schmerzt, mit dem linken Fuß stimmt etwas nicht. Vorsichtig tastet sie ihn ab. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel brennen höllisch, nässende Wunden an den Leisten. Ihr platinblondes Haar ist starr vor Schmutz und Salz. Der Raum stinkt nach Fäkalien. Wo ist sie, und wie kam sie hierher? Vorsichtig stützt sie sich auf und lauscht in die Finsternis. Zaghaft versucht sie, auf die Beine zu kommen, berührt bald eine Stahlwand mit einer dicken Schweißnaht, der sie folgt. Zwei Ecken zählt sie, bis sie auf eine Vertikalstruktur stößt, eine Tür. Jetzt tastet sie sich mit beiden Händen voran, findet einen dicken Metallbügel, er quietscht, sie zuckt zusammen, doch dann legt sie ihn ganz um. Die Luke bewegt sich tatsächlich, Neonlicht fällt durch einen Spalt auf ihre helle Haut. Erschrocken zieht sie sich zurück, atmet durch, öffnet die Tür erneut und streckt vorsichtig den Kopf hinaus. Der Korridor eines Schiffs. Der einst grün gestrichene Metallboden hat fast alle Farbe verloren, die Schweißnähte haben Rost angesetzt. Wohin ist sie unterwegs?
Clarissa zögert einen Augenblick, bevor sie auf den Flur hinaustritt. Ein paar Meter weiter öffnet sich ein riesiger Raum, durch den die Schraubenwelle läuft. Es ist warm, auch hier stinkt es nach Rohöl und Fäkalien. Weiter hinten stößt sie auf eine Stahltreppe, die steil nach oben führt. Zwanzig Stufen vielleicht. Angestrengt horcht sie, doch außer dem Stampfen der Maschine kann sie keine Geräusche vernehmen. Den linken Fuß aufzustellen bereitet ihr Schmerzen. Der kleine Zeh ist stark geschwollen. Plötzlich erinnert sie sich wieder an alles.
Das Wasser der Adria gibt ihr die Stärke zurück. Ihre Schmerzen verklingen nach den ersten Zügen, mit der sie sich von der Mole des Hafens Rijeka entfernt. Erst weit draußen taucht sie auf, um die Richtung auszumachen, in die sie schwimmen muss. Damals beim KSK 18, der Kampfschwimmereinheit der Volksmarine in Kühlungsborn an der mecklenburgischen Ostseeküste, hatten die Ausbilder sie zum Training auch im Winter und bei Sturm ins eiskalte Wasser gejagt, und als einzige Frau in der Einheit war sie bei voller Fahrt noch vor den Männern aus dem Schnellboot in die grauen Wellen gesprungen. Nie hatte sie auch nur die geringste Schwäche gezeigt. Für sie wäre es sogar ein Leichtes gewesen, in den Westen zu schwimmen, doch daran hatte sie nie Interesse gehabt. In der sommerlichen Adria hingegen wird sie stundenlang durchhalten, der hohe Salzgehalt trägt sie fast von allein. Die Schraube des Frachtschiffs wirft weiße Gischt auf und entwickelt einen starken Sog, sie muss nur weit genug davon wegkommen. Ein Stück entfernt schaukelt ein Boot auf den Wellen, auf dessen Bug groß PILOT aufgeschrieben steht. Die Entfernung schätzt sie auf etwa hundert Meter, sein Heck liegt ihr zugewandt. Mit aller Kraft zieht sie durch und krault in seine Richtung. Nach etwas mehr als der halben Strecke taucht sie ab. Trotz der Zigaretten, die sie seit Monaten raucht, hat sie noch immer genug Luft, um unter seinem Bug zur landabgewandten Bordwand durchzutauchen und vorsichtig den Kopf aus dem Wasser zu heben. Zwei große Fender hängen über die Reling. Clarissa greift sich den ersten, wenn sie sich nicht täuscht, wird das Boot den Frachter aus dem Hafen und vielleicht noch durch die Meerenge zwischen dem Festland und der Insel Cres geleiten, wenn nicht sogar den Lotsen aufnehmen. So lange hält sie durch, und dann wird sie auch weit genug von Rijeka entfernt sein, wo ihre Peiniger bereits aufgeregt nach ihr suchen. Nur der unsägliche Durst setzt ihr zu. Seit ihrer Gefangennahme hat sie weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen. Vor allem hat sie keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Wo ist eigentlich Miloš? Sucht er nach ihr? Auf der Herfahrt hatte er noch versucht, ihr Angst vor den Haien in der Kvarner Bucht zu machen. Lächerlich, hatte sie gespottet. Und war schließlich selbst in ihre Hände gefallen. An Land.
Das Boot nimmt Fahrt auf, Clarissa klammert sich am Fender fest und lässt sich mitziehen. Das Frachtschiff muss auf der anderen Seite laufen, sie bemerkt es erst, als sein Bug in der Dunkelheit über dem Lotsenboot auftaucht und lauthals Befehle gegeben werden. Es nähert sich stetig, dann wird die Gangway ausgefahren. Sie muss handeln. Mit voller Kraft stößt sie sich ab, taucht unter dem Rumpf des Lotsenboots hindurch und zieht sich auf der anderen Seite wieder empor. Das Boot hat direkt an der Gangway festgemacht, die keinen Meter über ihr hängt. Schritte eines herablaufenden Manns in weißer Uniform, er springt an Bord. Auch Clarissa drückt sich ab. Mit den Fingerkuppen bekommt sie gerade noch die untere Plattform zu fassen. Das Boot hat bereits abgedreht. Sie fasst rasch nach, fädelt ihre Beine ein und spürt den Zug der Gangway, die hydraulisch eingezogen wird.
Nur an eines erinnert sie sich nicht: Wie zum Teufel ist sie in den stinkenden Frachtraum gelangt? Hier muss sie das Bewusstsein verloren haben. Selbst einen Stock höher riecht sie noch den Gestank.
Eine unbekleidete blinde Passagierin an Bord eines Schiffs, von dem sie nicht weiß, wohin es fährt. Völlig ungeschützt, niemand weiß, wo sie ist. Sie darf sich auf keinen Fall erwischen lassen, schon gar nicht nackt. Seeleute sind einsam. Auf so einem trostlosen Seelenverkäufer vermutlich schon seit langer Zeit.
Zaghaft schleicht Clarissa durch den Gang, sieht einen Wasserschlauch, trinkt daraus und wäscht sich, so gut es geht. Als sie die Pfütze sieht, in der sie steht, schimpft sie über ihren Leichtsinn. Dann aber öffnet sie den Wasserhahn, bis der Schlauch tropft. Als hätte ihn jemand nicht richtig zugedreht. Sie steigt eine Treppe nach der anderen empor und befindet sich endlich oberhalb der Bordwand.
An Steuerbord schaut sie aus dem Bullauge. In weiter Ferne verläuft die Küste. Welche? Clarissa steigt weiter nach oben, vernimmt Schritte. Sie schlüpft durch eine Tür und befindet sich in einer engen Einzelkabine. Flugs lässt sie sich unter die Koje gleiten, der Boden strotzt vor Dreck. Sie presst sich gegen die Wand und wartet, zählt ihren Puls, um wenigstens eine Idee von Zeit zu bekommen. Zehn Minuten müssen etwa vergangen sein, Clarissa kriecht aus ihrem Versteck, knipst das Licht an, das Bullauge ist mit einem dreckigen Stück Stoff verhängt. Auf einem Klappbord liegt eine angebrochene Packung Kekse, die in einer Sprache bedruckt ist, die sie nicht kennt. Sie stopft das süße Gebäck in sich hinein. Dann stößt sie auf eine Thermoskanne mit lauwarmem Tee. Zuerst nimmt sie kleine Schlucke, dann leert sie gierig die ganze Kanne. Sie kann sich kein Durchatmen erlauben, schnell wird ihr die Situation wieder bewusst: Sie muss hier raus. Clarissa schaut sich hektisch in der Kabine um. Ein großes, kariertes Männerhemd an einem Haken, es stinkt nach Schweiß, trotzdem streift sie es über und krempelt die Ärmel hoch. Der Kerl, dem es gehört, muss riesig sein, es reicht ihr bis über die Oberschenkel. Erst jetzt sieht sie die rote Baseballcap mit den drei kyrillischen Buchstaben. КГБ steht für KGB . So etwas gab es während der Sowjetzeit nicht. Der Besitzer muss ein Blödmann sein, oder er versteht die Sprache nicht, die sie auf der Schule hatte lernen müssen. Sie zwingt ihre Haare darunter. Auf der Liege findet sie zwei Blätter: Das Schiff befindet sich auf der Fahrt nach İskenderun in der Südtürkei. Auch das Datum ist vermerkt. Clarissa überschlägt die Zeit. Ein Tag und eine Nacht fehlen ihr also. Wieder schaut sie aus dem Bullauge. Die Küste kommt näher, es kann nur die italienische sein. Der direkteste Weg für den Frachtverkehr führt dicht an Apulien vorbei. Vermutlich passieren sie Bari, bevor das Schiff die Adria durch die Straße von Otranto verlassen wird und ins Ionische Meer weiterfährt.
Sie öffnet behutsam die Kabinentür, der schwach beleuchtete Flur ist verlassen. Noch. Sie weiß, dass diese Kübel mit kleiner Besatzung fahren, doch auch die hat ihre wechselnden Ruhezeiten. Sie muss schnellstens von hier verschwinden.
Die Luke hinaus aufs Deck ist schwergängig, sie braucht ihre ganze Kraft, um sie aufzustemmen. Clarissa vergewissert sich, dass niemand von der Brücke herabblickt, dann läuft sie ans Ende der Reling. Der Schiffsverkehr ist dichter geworden, abgesehen von einigen Fischkuttern sieht sie in gar nicht zu großem Abstand Frachter und Öltanker, die nach Süden fahren, andere kommen auf Backbord entgegen. Ein schnittiges türkisches RoRo-Schiff, wie sie es in Triest am Hafen gesehen hat, schiebt sich mit hohem Tempo vorbei. In dichten Reihen stehen Schwerlastwagen an Bord, deren Auflieger Namen türkischer Spediteure tragen. Clarissa sieht die Küste näher kommen, drüben scheinen Strandbäder, Campingplätze und Feriensiedlungen zu liegen, über deren knallroten Dächern die italienische Tricolore weht. Die Entfernung schätzt sie auf drei Seemeilen, fünfeineinhalb Kilometer. Das ist zu schaffen, im Wasser mit dem lädierten linken Fuß allemal leichter als an Land. Clarissa springt.
Grado, Isola della Schiusa. Kommissariat.
Eine leichte Bora ist aufgezogen und sorgt für kristallklare Luft. Wieder ist Xenia lange vor Arne auf den Beinen. Ein Anruf von Nicola Bonanni hat sie geweckt. Von seinem Verbindungsmann beim Inlandsgeheimdienst hatte er erfahren, dass ein Kollege aus Pullach sich kollegial um eine Telefonauskunft bemüht hatte. Xenias Nummer. Drei Auslandsgespräche hatte sie zuletzt geführt: Jordan S. Becker in Österreich, Clarissa Waisz und Miloš Ban erfolglos unter deutscher Vorwahl. War es etwa leichtsinnig gewesen, die Nummern zu wählen, nachdem Živa Ravno vom Vorfall im Hafen von Rijeka berichtet hatte? Nach dem Gespräch mit Nicola läuft sie an den Strand und wirft sich in die Wellen. Eine halbe Stunde schwimmt sie, dann wirft sie sich das Kleidchen über ihren nassen Körper und geht die paar Meter zurück, um sich dienstfertig zu machen. Als sie die Moka auf die Flamme setzt, vibriert ihr Telefon. Auf diesen Anruf wartete sie seit gestern vergeblich. Miloš Bans Stimme lässt darauf schließen, dass er an diesem Morgen noch mit niemandem gesprochen hat.
»Commissario, ich habe Ihre Nachricht erst jetzt erhalten. Haben Sie Neuigkeiten über Clarissa? Ist sie bei Ihnen? Lebt sie? Kann ich mit ihr sprechen?« Er verhaspelt sich, spricht italienisch und schwankt zwischen Räuspern und Aufregung.
»Wo sind Sie, Gospod Ban?« Xenia spricht ihn in seiner Muttersprache an. In Krisensituationen hat das oft beruhigende Wirkung.
»Bei Salzburg, auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Mit Plattfuß und kaputtem Kotflügel. Und Clarissa? Wissen Sie etwas?«
»Ich weiß nichts. Offiziell weiß ich nichts. Und alles andere sind keine guten Nachrichten. Deshalb habe ich Sie gesucht. Es wäre am besten, wenn Sie zurück nach Grado kommen.«
»Ich muss zuerst das Rad wechseln. Ich bin eingeschlafen und habe auf der Autobahn die Leitplanke erwischt. Ich habe fast kein Geld mehr, aber der Tank ist halb voll. Es müsste reichen. Wo ist sie?«
»Kommen Sie ohne den Wagen. Gehen Sie davon aus, dass man Sie sucht.«
»Wo ist Clarissa?«
»Darüber sollten wir nicht am Telefon sprechen. Wo befinden Sie sich genau?«
»Ich sagte doch schon, ich weiß es nicht. Irgendwo bei Salzburg.«
»Beschreiben Sie die Umgebung.«
Zuerst druckst Miloš Ban herum, beschreibt den leeren Parkplatz. Endlich nennt er die Namen der Geschäfte. Xenia verdreht die Augen. Die gibt es zigfach und überall.
»Beschreiben Sie, was Sie sonst noch sehen. Los! Sie haben keine Zeit zu verlieren.«
Xenia atmet auf, als er endlich eine Billigtankstelle mit Waschstraße beschreibt. Damit lässt sich mehr anfangen als mit den von Stadt zu Stadt gleichen Einkaufszentren an den Einfahrtsstraßen.
»Ich schicke jemanden. Entfernen Sie sich von Ihrem Wagen. Verstecken Sie sich. Hinter den Müllkübeln oder den Einkaufswagen, oder was auch immer Sie sehen. Er wird Sie finden, falls Sie zwischenzeitlich nicht beim Friseur waren. Er kommt allein. Sollten Sie ein Auto mit mehreren Insassen sehen, bleiben Sie in Ihrem Versteck.«
»Aber …«
»Sobald wir aufgelegt haben, trennen Sie sich von Ihrem Telefon. Ist das klar?«
»Aber warum? Was ist, wenn Clarissa anruft?«
»Clarissa wird nicht anrufen. Löschen Sie das Gesprächsverzeichnis und lassen Sie das Telefon im Wagen, damit niemand Sie verfolgen kann. Haben Sie mich verstanden?« Xenia nimmt die brodelnde Moka von der Flamme und schenkt sich ein.
Miloš schweigt lange, bevor er zögernd nachgibt. »Wenn Sie es sagen …« Er wiederholt ihre Worte.
»Keine Tricks, Gospod Ban, sonst kümmern sich andere um Sie, die Ihnen nicht freundlich gesinnt sind. Telefone kann man ersetzen. Und den Wagen holen Sie ab, wenn alles vorbei ist. Tun Sie, was ich gesagt habe. Versprochen?«
»Versprochen.« Seine Stimme ist jetzt klar. »Danke, Commissario.«
»Bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten, Miloš. Verstecken Sie sich und warten Sie. Es kann durchaus dauern. Aber Sie werden abgeholt. Und jetzt löschen Sie die Gespräche und trennen Sie sich vom Telefon. Sofort.«
Sie nimmt einen Schluck vom Kaffee und wählt die Nummer von Jack Samir. Es dauert, bis er sich meldet.
»Ich habe mich gerade hingelegt, hatte Nachtdienst, Commissario. Was ist los?«
»Schlafen können Sie später, Jack. Ich brauche Ihre Hilfe.« Sie beschreibt das Einkaufszentrum, doch erst die Tankstelle erkennt der Taxifahrer wieder. Sie beschreibt Miloš, so gut sie kann, und bittet Jack, ihn so lange zu suchen, bis er ihn gefunden hat. Und anschließend nach Grado zu bringen. In Beckers Interesse, der Journalist hätte es so gewollt.
»Jordans Material ist übrigens in der Presse«, sagt Jack noch und nennt den Namen des Blatts. »Titelseite und zwei lange Artikel. Haben Sie das veranlasst?«
Sie bleibt ihm die Antwort schuldig. »Fahren Sie gleich los und suchen Sie Miloš Ban. Wenn er Ihnen nicht traut, nennen Sie meinen Namen und wohin Sie ihn bringen sollen, Jack. Wir sehen uns später.«
Bevor Xenia aus dem Haus geht, stellt sie eine Tasse dampfenden Kaffee neben das Bett unter der alten Linde. Arne blinzelt und will sie umarmen, doch sie drückt ihn zurück aufs Kissen.
»›Morgenstund hat Gold im Mund‹, Arne. Ist das nicht ein deutsches Sprichwort?«
»›Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf‹ aber auch.«
»Siehst du, nicht einmal mehr auf Redewendungen kann man sich verlassen.«
Noch einmal wählt sie die Nummer von Clarissa Waisz und lässt es klingeln, bis die automatische Ansage anspringt. Wenn die Deutschen sich deshalb nach ihrer Nummer erkundigt haben, wird sie es bald erfahren. Dann startet sie den Scooter und fährt zum Kommissariat.
Während ihr Computer hochfährt, erhält Xenia den Anruf des Inspekteurs des Gesundheitsamts, der von der Durchsuchung der Flüchtlingsheime bei Fossalon berichtet. Die Mängelliste sei lang, doch das sei keine Seltenheit bei diesen Einrichtungen, kommentiert er lapidar. Es fehle nicht viel, um die Unterkünfte zu schließen. Bei seiner Ankündigung, den Rapport und die Mängelliste mit der Heimleitung besprechen zu wollen, sei er erwartungsgemäß auf Widerstand gestoßen. Er wäre für polizeiliche Begleitung dankbar. Xenia verspricht, selbst vorbeizukommen. Sie will wissen, wie diese Einrichtungen auf dem Rücken Hilfloser Profite machen. Sie verabreden sich an der Kreuzung vor dem Anwesen.
Als Xenia Zannier aus der Dienststelle tritt, hebt sie neugierig den Kopf. Valerio Alfieri schließt soeben das Tor auf und kommt ihr bestens gelaunt entgegen.
»Gleich ist es so weit, Commissario. In Kürze bin ich die Fabrik los. Ich fahre mit dem Boot rüber.« Er grinst zufrieden. Nicht einmal zu diesem Anlass hat er sich umgezogen und gleicht wie immer einem Altrocker in chronischer Midlife-Crisis.
»Na dann, viel Glück.«
Während sie den Helm aus dem Fach nimmt, hat Alfieri am Anleger schon die Leinen losgemacht und richtet den Bug auf den Kanal, der aufs offene Meer führt. Breitbeinig steht er am Steuer und schiebt den Gashebel vor, die Gischtwelle wird immer höher. Bei vollem Tempo dauert die Fahrt nach Triest kaum eine halbe Stunde.
Triest, Piazza San Giovanni. Büro im Piano nobile.
Der Kameramann trägt seine Ausrüstung vom Lieferwagen der RAI in den riesigen neoklassizistischen Palast, in dem das Büro der Senatorin die Hälfte der zweiten Etagen einnimmt. Als Alfieri mit dem Taxi vorfährt, ist der Aufzug mit dem Equipment belegt. Er steigt die breite steinerne Treppe empor. Seit einer Viertelstunde wird er erwartet, der Bruder der Senatorin hat bereits zweimal besorgt angerufen, um sich nach seinem Verbleib zu erkundigen. Die drei deutschen Vertreter der MainChemie AG seien längst eingetroffen und auch der Emissär der Bundesregierung, maulte Carletto. Die Senatorin sei sauer über die Respektlosigkeit Alfieris, sie warten zu lassen. Alfieri lachte laut, den CEO kennt er noch gut aus seinen Frankfurter Jahren, und ohne ihn findet der Deal sowieso nicht statt.
Carletto Castelli de Poltieri betrachtet abschätzig seinen Aufzug: Stiefel, Jeans, Lederjacke, und sein dickes Haar hat er nicht einmal zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Fahrtwind hat es zu einer dunkelgrauen Löwenmähne aufgebläht. Der Notar hält mahnend sein Exemplar des Vertrags hoch, doch der offizielle Akt beginnt erst, wenn das Kamerateam bereitsteht. Der herrschaftliche Raum mit seinen reichen Stuckverzierungen ist nach den Anweisungen der Senatorin hergerichtet. Hinter ihrem breiten Edelholzschreibtisch stehen antike Stühle. Die Vertragsunterlagen liegen in schweren Ledermappen zur medienwirksamen Besiegelung des Geschäfts obenauf. Nachdem man ihm den Emissär der Regierung namens Bernd Körber vorgestellt hatte, scherzt Alfieri auf Deutsch mit dem Vorstandsvorsitzenden der MainChemie AG .
»Ein bisschen schmerzt es mich, euch den Laden zu überlassen. Ich hatte Großes vor mit der ChimiCo und Torviscosa. Aber besser, ihr bekommt ihn, als der russische Investor, der daran interessiert war, oder die Chinesen. Den europäischen Interessen zuliebe gilt es eben ein bisschen Verzicht zu üben, und ihr habt auch verhandelt wie die Teufel. Die Senatorin hat eine Menge Wirtschaftsförderung für euch herausgeholt, um die sie sich für mich nie bemüht hat. Das muss euch einiges gekostet haben.«
»Sie wissen selbst, lieber Herr Alfieri, wie solche Dinge laufen. Ihr Betrieb besetzt zwar eine schöne Nische im Markt, aber unverzichtbar ist er für uns natürlich nicht. Sagen wir es mal so, ich tue Ihnen einen Gefallen, so, wie Sie mir damals einen getan haben bei der Kapitalerhöhung der MainChemie.«
Der grau melierte Vorstandschef lächelt süffisant, während Alfieri zu Körber schielt, der mit Romana Castelli de Poltieri lauernd am Tisch steht. Die Senatorin scheint nicht gut auf den Deutschen zu sprechen zu sein und wendet sich von ihm ab, sobald sie erkennt, dass die Fernsehteams aufnahmebereit sind und die Vertreter der Printmedien nur darauf warten, so bald wie möglich wieder in ihre Redaktionen zurückzufahren. Sie geht zum Schreibtisch und nimmt in der Mitte Platz, dann weist sie den Deutschen, dem Notar und Alfieri ihre Plätze zu. Hinter ihr sind die italienische Tricolore, die deutsche Bundesfahne, die europäische Flagge und sogar das Banner ihrer Partei drapiert. Alfieris Appell, die Übernahme der ChimiCo nicht zur Parteiwerbung zu missbrauchen, hat sie demonstrativ ignoriert, und ein Protest vor laufenden Kameras ist nicht angebracht. Romana Castelli de Poltieri würde nicht davor zurückscheuen, ihn bei ihrer Ansprache als glücklosen Unternehmer in Misskredit zu bringen, ohne ihm Raum für eine Replik zu gewähren.
»Die kontinuierliche Verbesserung der europäischen Zusammenarbeit ist ein Ziel, für das ich seit Jahren kämpfe. Heute ist ein großer Tag für die Beschäftigten und die Wirtschaft in unserer Region. Seit der ersten Kontaktaufnahme habe ich diese neue Kooperation zwischen Italien und Deutschland begleitet und bei den Verhandlungen Wert darauf gelegt, dass die sozialen Aspekte von über hundert Mitarbeitern nicht vernachlässigt werden. Unsere deutschen Partner haben sich dabei, wie nicht anders zu erwarten, zwar als zähe Verhandlungspartner erwiesen, doch sich auch in Bezug auf die Wichtigkeit der regionalen Belange verständig gezeigt. Das Resultat ist eine langjährige Bestandsgarantie für alle Arbeitsplätze und, dank der globalen Marktstärke der neuen Eigentümer, auch eine Chance für den symbolträchtigen Standort Torviscosa und das gesamte Friaul-Julisch Venetien. Mein persönlicher Dank gilt dem CEO und seinen Kollegen der MainChemie für die glänzende Zusammenarbeit, die damit einen Maßstab für die Zukunft setzt. Der Notar hat die ausgehandelten Verträge überprüft, meine Herren, ich bitte Sie, die neue gemeinsame Zukunft mit Ihren Unterschriften zu besiegeln.«
Die Dokumentenmappen werden geöffnet, teures Schreibwerkzeug gleitet über die Seiten, dann werden sie ausgetauscht. Der Kameramann richtet das Objektiv auf das Exemplar des Vorstandschefs. Ein wertvoller Füllfederhalter, gepflegte Hände, ein glänzender Ehering, dezente Krawatte, ein gewinnendes Lächeln, als er sich erhebt und Alfieri die Hand drückt, während Romana Castelli de Poltieri über sie wacht. Körber hält sich im Hintergrund und löst sich erst am Ende von der Wand, an der er lehnt. Er geht zu Alfieri, dem der Notar soeben den Zugang zum Treuhandkonto übergibt, und gratuliert ihm. Der Senatorin schenkt er keine Beachtung. Carletto öffnet die Flügeltüren, zwei Pinguine hüpfen herein und bieten billigen Schaumwein an. Man prostet sich zu, nippt ein wenig am Glas und lächelt. Die Deutschen verabschieden sich rasch, um von Triest aus mit dem Firmenjet zurückzufliegen.
Valerio Alfieri hat einen guten Schnitt gemacht. Allein die anfallenden Verluste der ChimiCo und die angehäuften Schulden nicht mehr tragen zu müssen ist ein Erfolg. Mit dem Kaufpreis kann er den viertausend Liter fassenden Tank seiner großen Motorjacht während der sommerlichen Fahrten mit seiner Frau Feride füllen, sooft er will.
Vieste, Gargano. Spiaggia Sfinalicchio.
Kaum spürt Clarissa den Grund unter ihren Füßen, watet sie die letzten Meter an Land und lässt sich erschöpft in den Sand fallen. Sie bettet die Stirn auf ihre Unterarme und schläft in der prallen Sonne sofort ein. Das Geschrei der Kinder und ihrer Mütter hört sie nicht.
Sie hat keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hat, als sie jemand heftig an der Schulter rüttelt. Eine Frauenstimme. Clarissa versteht die Sprache nicht, benommen versucht sie, sich aufzurichten, die Frau in dem roten T-Shirt mit dem weißen Schriftzug Life Guard zieht ihr das karierte Hemd über die Hüfte und bedeckt sie, dann hält sie ihr eine Wasserflasche an die Lippen.
»Are you alone? What’s your name? Can you hear me?«
Sie zeigt auf die Wunden an Clarissas Armen und auf die Hämatome an ihren Beinen. Clarissa schüttelt den Kopf und steht unbeholfen auf. Sie schaut an sich herunter, das karierte Hemd ist schmutzig. Sie lächelt verlegen.
»Too much sex. Everything is okay. Thank you. I just wanted to sleep a bit.« Mit der Hand zeigt sie auf die Gebäude hinter einem Pinienhain. »What time is it?«
»Half past two.«
»Thank you very much.« Clarissas Stimme ist leise. »I have to go to lunch, my family is waiting.«
Sie hinkt einfach in Richtung der Feriensiedlung los und durchquert die am Strand in Reih und Glied aufgestellten Liegestühle unter den Sonnenschirmen. Die Wunden an ihren Leisten brennen, sie muss sie reinigen, den Sand auswaschen. Die Menschen schauen ihr verwundert nach. Hätte Clarissa sich selbst durch das Objektiv einer ihrer Kameras gesehen, hätte sie zweifelsohne sofort abgedrückt: rote Baseballcap mit weißem KGB -Aufdruck, platinblondes Haar, ein zeltartiges, groß kariertes Hemd und viel mehlweiße Haut mit einem Anflug von Sonnenbrand. Hinter dem schmalen Pinienhain erstrecken sich die schachbrettartig angeordneten Bungalows mit den glänzenden roten Dächern. Nur wenige Familien sitzen noch beim Mittagessen, die anderen liegen vermutlich am Strand. Auf den Terrassen flattert Wäsche an der Leine. Vor einem der Häuschen ist der Tisch noch gedeckt, ein Rest Lasagne steht in einer Backform, daneben ein übrig gebliebener Schnitz Wassermelone. Es ist nichts zu hören. Clarissa steigt die drei Stufen hinauf und stopft gierig das Essen in sich hinein. Wie lange hat sie nichts gegessen? Das Mineralwasser aus der Flasche stürzt sie in einem Zug hinunter. Sie sieht die Flasche mit Olivenöl, gießt es über ihre Leisten und versucht mit den Fingern, die Wunden zu reinigen. An einem Kleiderhaken hängen ein türkisfarbener Bikini und ein pinkfarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck Choose Life. Bitch is back.
Ohne zu zögern streift sie das Männerhemd ab und zieht sich an Ort und Stelle um. Ein dicker Mann in einer viel zu kleinen roten Badehose bleibt stehen, schaut grinsend zu und kratzt sich das Gemächt. Kaum bemerkt er ihren Blick, verdrückt er sich eilig zwischen den Ferienhäusern. Clarissa schlüpft in ein paar herrenlose Badelatschen, dann macht sie sich davon. Sie findet an einer Wäscheleine ein paar weiße Shorts, zieht sie über, obwohl sie zu groß sind. Humpelnd nähert sie sich der Rezeption, an der eine Landkarte angeschlagen ist. Ein roter Punkt mit einem Pfeil markiert die Feriensiedlung. Die nächste Ortschaft heißt Vieste. Dreieinhalb Stunden Busfahrt bis Bari im Süden, wo Fährverbindungen nach Dubrovnik, dem albanischen Hafen Durrës und nach Bar in Montenegro zeigen. Alle halbe Stunde kommt hier ein Linienbus vorbei. Vor dem kleinen Laden neben der Rezeption sitzt unter einem Sonnenschirm eine Familie und bestellt fünf Eisbecher. Clarissa betritt das Geschäft, die Bedienung beachtet sie kaum, während sie die Bestellung zubereitet. Clarissa nimmt eine Sonnenbrille mit weißem Gestell und großen Gläsern, die ihr halbes Gesicht verdeckt. Von ihren liebenden Gatten geschlagene Frauen tarnen sich so. Sie kratzt das Preisschild ab und steckt sie in ihr weißblondes Haar. Dann fädelt sie einen Gürtel in die Bundschlaufen der Shorts und zieht ihn eng. Die Ladenkasse ist halb geöffnet. Als die Bedienung die Eisbecher hinausträgt, greift Clarissa zu.
Sie nimmt nicht alle Scheine. Einhundertsiebzig Euro steckt sie bis auf einen Zehner, den sie in der Hand behält, in den Slip des Bikinis. Sie wartet an der Kasse mit einem Päckchen Kaugummi in der Hand, fragt schließlich, wo sie eine Busfahrkarte kaufen kann. Die freundliche Bedienung gibt sie ihr, sie stutzt, als sie die Kasse öffnet, um herauszugeben, und schüttelt den Kopf. Sie mustert Clarissa, Bikini, Shorts, T-Shirt. Zögerlich weist sie ihr den Weg zur Bushaltestelle schaut ihr misstrauisch hinterher. Entschieden schließt sie die Ladenkasse.
Grado, Riva Slataper. Hotel Savoy.
Xenia rechnete mit einem heftigen Zusammenprall, als sie mit dem Inspektor des Gesundheitsamts bei der Flüchtlingsunterkunft vorfuhr. Doch Carletto Castelli de Poltieri hatte die Besprechung mit dem Gesundheitsamt dem offiziellen Leiter der drei ehemaligen Höfe überlassen. Luigi Ferlan, ein ehemaliger Hotelbesitzer, der wegen betrügerischem Bankrott drei Jahre bei Vollpension auf Staatskosten verwahrt worden war, glaubte wohl, die Flüchtlingsunterkünfte entsprechend der überfüllten Gefängniszellen gestalten zu müssen. Dem Bruder der Senatorin war er restlos ergeben. Offiziell leitete er die Häuser ehrenamtlich. Xenia war klar, dass er unter der Hand entlohnt wurde und damit seine Minimalpension aufbesserte. Von den in der Vergangenheit angehäuften Schulden würde er bis zum Ende seiner Tage keinen Cent zurückerstatten. Als sie mit dem Inspektor des Gesundheitsamts ankam, ließ der Mann zuerst lange auf sich warten, zeigte sich schließlich bockig und warf der Behörde vor, die Einrichtung aus Fremdenhass zu schikanieren. Er sah erst von seinen Beleidigungen ab, als Xenia ihm vorrechnete, dass er bei einer Strafanzeige des Gesundheitsinspektors aufgrund seiner Vorstrafen nicht auf Bewährung hoffen könne. Widerwillig nahm er bei der Inspektion die lange Mängelliste an. Xenia schnürte es fast die Luft ab beim Anblick der eng gestellten Stockbetten mit fleckiger Bettwäsche, zwischen denen sich zu bewegen fast unmöglich war. Von der Sauberkeit der Räume gar nicht zu reden. Die schlecht beleuchteten Flure strotzten vor Dreck, und beim Anblick der Küche konnte einem der Appetit vergehen. Hinter dem Anwesen stapelten sich gigantische leere Konservendosen und Eimer, die den Etiketten nach vorgekochtes Essen enthalten hatten. Dieses Paradies für Ratten und andere Schädlinge häufte sich offensichtlich schon seit Wochen an.
Bereits nach dem ersten Drittel der Besichtigung wurden die Rechtfertigungen Luigi Ferlans immer dünner, bis er sie ganz aufgab und nur noch zaghaft nachfragte, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Er bekam zehn Tage Zeit, die Mängel zu beheben. Sonst drohte die Schließung der Flüchtlingsheime.
Xenia atmet auf, als sie nach über zwei Stunden endlich das Anwesen verlässt. Mit aufgeklapptem Visier fährt sie nach Grado zurück und überholt auf der Mittellinie die lange Kolonne an Urlaubern auf dem Weg in den Badeort. Sie rechnet im Kopf den Umsatz der drei Höfe hoch und kommt auf monatlich gut zweihunderttausend Euro bei Vollbelegung bei einem Kaufpreis samt Land von weniger als zwei Millionen. Der wäre schon in zehn Monaten verdient.
Als ein Mercedes SUV , ohne zu blinken, plötzlich nach links ausschert, ist es zu spät. Sie knallt gegen die Fahrertür und findet sich auf dem Asphalt wieder. Ihr Knie schmerzt.
»Sie sind viel zu schnell gefahren. Ich rufe die Polizei.« Schimpfend rutscht der kleine Mann vom Fahrersitz, macht aber keine Anstalten, seinem Opfer zu helfen.
»Die ist bereits hier. Sie sind abgebogen, ohne den Blinker zu setzen.« Xenia richtet sich mühsam auf, klopft den Staub von den Hosenbeinen und betastet ihr Bein.
In beide Richtungen staut sich der Verkehr. Der Mercedes mit Münchener Kennzeichen steht mit eingedellter Fahrertür vor der Einfahrt zum Hotelparkplatz quer auf der Fahrbahn, der Scooter liegt daneben. Hotelgäste gaffen, als freuten sie sich über die Abwechslung. Aus der Ferne nähert sich die Sirene eines Streifenwagens.
Der Mann scheint sie nicht verstanden zu haben. »Eine Frechheit, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben, Signorina«, zetert er weiter. »Was überholen Sie auch wie eine Irre? Das ist eindeutig Ihr Fehler. Aber ich will mal nicht so sein. Sie haben sich nichts getan, also geht jeder seiner Wege und Schluss. Die Reparatur der Tür meines Wagens ist teurer als die paar Kratzer an Ihrem Roller.«
Xenia hält ihm die Dienstmarke vor die Nase, steckt sie aber weg, als er danach greifen will. Seine Bierfahne spricht für sich.
»Dann bin ich ja in guten Händen. Es tut mir leid, entschuldigen Sie. Ich bleibe ein paar Tage. Wir regeln das einvernehmlich. Sagen Sie mir, wie teuer die Reparatur Ihres Rollers ist, und ich gebe Ihnen gleich morgen das Geld.«
Ein Rettungswagen fährt vor, vermutlich von den Gaffern verständigt. Xenia schickt die Sanitäter weg und lässt ihre uniformierten Kollegen die Arbeit erledigen, denen der Mann seine Papiere aushändigt. Ein in blaues Leder gebundener Diplomatenpass mit stolzem, in Gold geprägtem Bundesadler.
»Ist das Ihr Wagen, Herr Körber?«, fragt der Uniformierte, der seine Papiere kontrolliert.
»Ja.«
»Hier steht Bundesvermogensverwaltung, Abt. Sondervermogen – Referat Kraftfahrwesen, Helene-Weber-Allee, Munchen«, radebrecht der Italiener, ohne die Umlaute auszusprechen.
»Dienstwagen. Ich arbeite für die Bundesregierung. Das ist ein Diplomatenpass.«
»Ein Dokument wie alle anderen. Sie sind in Italien nicht akkreditiert.«
»Sie werden den Unterschied schon noch verstehen.«
»Haben Sie getrunken?«
»Nein.« Körbers Stimme ist fest.
»Bei Unfällen mit Verletzten ist ein Alkoholtest vorgeschrieben. Sie haben das Recht, diesen zu verweigern, dann werden Ihr Führerschein sowie Ihr Fahrzeug beschlagnahmt. Kommen Sie mit.«
Am Streifenwagen pustet Körber nach Anleitung in das schwarze Gerät. Er fühlt sich sicher. Zweimal muss er im vorgeschriebenen Zeitabstand blasen. Zuerst liegt er knapp unter dem Limit, dann leicht darüber. Der Beamte zeigt ihm das Ergebnis.
Körber reagiert sofort und scharf. »Ist das Gerät überhaupt geeicht?«
»Selbstverständlich. Das ist die Plakette.«
»Ist ja klar, dass man keine Chance hat, wenn der Kontrahent einer von euch ist. Muss die keinen Test machen?«
»Aber sicher muss sie.«
Xenia begutachtet den Scooter. Das Blinkerglas ist kaputt, eine Chromleiste abgerissen, der rechte Rückspiegel abgebrochen. Wäre sie schneller gefahren, läge sie jetzt schon in der Notaufnahme. Der Motor springt beim ersten Druck auf den Anlasser an. Sie stellt ihn ab, als der Kollege ihr das elektronische Messgerät reicht. Sie nickt kurz, bläst kraftvoll hinein und gibt es zurück. Der Mann zeigt den Messwert dem Mercedes-Fahrer, der resigniert nickt. Die Kommissarin wendet ihm den Rücken zu und gibt Anweisung.
»Drückt wegen des Alkohols ein Auge zu, hier vor dem Hotel. Verpasst ihm einen Strafzettel, der sich gewaschen hat. Falls er nicht bezahlt oder pampig wird, nehmt ihr ihm den Führerschein ab. Lasst euch nicht verarschen. Kontrolliert seine Buchung und wie lange er bleibt. Aber vergesst nicht, dass der Ort von den Touristen lebt.«
Auf seinem Zimmer liest Körber das Unfallprotokoll. Der Name der Polizistin steht auch auf dem Blatt der Datenanalyse des Salzburger Journalisten, das Frau Lämmle geschickt hat. Xenia Ylenia Zannier. Ein bescheuerter Name, findet er. Außerdem gehört zu ihr die Telefonnummer, die ihm Mirković durchgab, mit der zweimal auf Clarissa Waisz’ Apparat angerufen wurde. Und sie ist die Vertrauensperson des toten Journalisten, wie Frau Lämmle berichtet hatte. Damit besitzt sie auch dessen Unterlagen. Körber nimmt ein Bier aus der Minibar und setzt die Flasche an die Lippen. Wie passt das alles zusammen? Die Privatadresse der Polizistin steht im polizeilichen Protokoll. Und seine Vermutung, dass die Waisz und ihr Begleiter weder in Grado noch in Rijeka zufällig waren, verfestigt sich zunehmend. Ausgerechnet mit einer Polizistin stecken sie unter einer Decke. Ließ sie vielleicht auch die Zeitungsmeldung mit Beckers Informationen los, über die Frau Lämmle ihn heute gleich als Erstes informiert hatte? An der Rezeption hatte man ihm beschieden, dass die aktuelle Auslandspresse immer erst einen Tag später eintrifft.
Dieser Polizistin ist Körber also viel schneller nahegekommen, als gedacht. Daran anzuknüpfen wird ein Leichtes sein. Er zieht sich um und geht hinunter auf die Hotelterrasse, wo er ein frisch gezapftes Pils bestellt.
»So salopp kenne ich Sie gar nicht, Herr Direktor. Als wären Sie im Urlaub. Wo haben Sie Ihre famose Krawatte gelassen?«
So schnell hatte er nicht mit Weißenfels gerechnet. Der Major, wie immer im faltenfreien, langärmligen Hemd mit ordentlich geschlossenen Manschetten, lächelt süffisant über seinen Chef. Weiße Frotteesocken, Sandalen und ein kurzärmliges rot-grün kariertes Hemd, das er über den weißen kurzen Hosen trät. Staksige, dünn behaarte Beine. Neben dem Bier ein Schälchen mit Kartoffelchips und zwei Mobiltelefone auf dem Tisch.
»Was tun Sie denn hier? Sollten Sie nicht in der Chausseestraße in Ihrem klimatisierten Büro sitzen?«, giftet Körber.
»Dann wäre mir Ihr Unfall entgangen. Ganz schön schusselig, ohne Blinker abzubiegen. Schade um den Mercedes. Wie viele Promille hatten Sie denn?«
»Wie Sie wissen, ist nichts passiert.«
»Die Italiener haben wohl wegen dem Diplomatenpass ein Auge zugedrückt? Die fürchten sich, wenn’s kompliziert wird.«
Der Major setzt sich ohne Aufforderung und bestellt ebenfalls ein Pils. »Wegen Ihnen bin ich früher angereist, Herr Körber. Wie lief es in Kroatien? Konnten Sie die Reise der Kanzlerin tatsächlich so schnell organisieren? Ich staune immer wieder, was Erfahrung ermöglicht.«
Bernd Körber fixiert ihn schweigend.
»Ich habe Ihnen die letzten Bewegungsdaten bis zu meinem Abflug mitgebracht, aber erklären Sie mir bitte den Telefonüberwachungsauftrag dieses Übersetzers namens Miloš Ban«, fährt Weißenfels unbeirrt fort. »Haben Sie auch ihn in Rijeka getroffen?«
Körber faltet widerwillig das Blatt auf, das der Major vorlegt. Er stutzt. Zur Mittagszeit war Ban bereits in Zagreb gewesen. Bei der deutschen Botschaft. Was verdammt noch mal hat er da getan? Eine Stunde später verließ er die Stadt schon wieder, den Zeiten und zurückgelegten Entfernungen zufolge mit einem langsamen Kleinwagen. An der Grenze zu Slowenien muss sich der Verkehr Richtung Schengen-Zone kräftig gestaut haben, erst nach eineinhalb Stunden bewegte er sich wieder schneller. Er fuhr über Maribor nach Österreich und nach Graz in Richtung Norden, wo er fast eine Stunde im Stau gestanden haben musste. Körbers Befehl, Miloš Ban noch in Kroatien festzusetzen, war trotz aller Verzögerungen zu spät gekommen. Der letzte Eintrag vor Weißenfels’ Abreise kommt aus einem Vorort im Norden Salzburgs, wo das Signal verharrt. Miloš Ban will offensichtlich zurück nach Deutschland. Frau Lämmle muss dringend die Grenzbehörden verständigen und auch die Österreicher.
»Ein Zufall, oder führen Sie seit dem Unfall in Berlin Krieg gegen ihn?«
»Solange Sie noch an Zufälle glauben, Major, bleiben Sie genau der schlechte Analytiker, als der Sie sich bisher erwiesen haben.«
»Unter Ihrer Ägide, mein lieber Herr Körber, sind unsere Leute bis heute zu langsam bei der Analyse von Datenmaterial. Was wollen Sie eigentlich von dieser Polizeikommissarin, die im Besitz der Unterlagen des Journalisten aus Salzburg sein soll?« Der Major kennt offensichtlich jeden seiner Schritte.
»Heikles Material, Weißenfels. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
»Und was haben Sie mit dieser Pleitebank zu tun? Vergessen Sie nicht, dass ich Sie vertrete, wenn Sie außer Haus sind. Ich muss nicht einmal schnüffeln, um ein immer klareres Bild von Ihnen zu bekommen. Es läuft alles über meinen Schreibtisch.«
»Alles nicht, Weißenfels. Aus guten Gründen.« Körbers Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Bisher konnten die Dinge bis zu seiner Rückkehr warten, oder er hatte sie telefonisch gelöst. Der Major lässt sich anscheinend keine Gelegenheit entgehen, um in die Geschäfte zu drängen. »Stecken Sie Ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten.«
»Das tun wir doch täglich, Herr Direktor. Es ist unsere Arbeit.«
»Seien Sie auf der Hut. Intern und extern ist nicht das Gleiche.«
»Stellen Sie die Loyalitätsfrage, Herr Direktor Körber?« Weißenfels lacht höhnisch. »Loyalität gibt es in unserem Beruf nur gegenüber dem Dienstherrn. Und der ist die Bundesrepublik Deutschland.«
»Sie wollen es also nicht anders. Haben Sie für Ihre Reise nach Grado einen Urlaubsantrag eingereicht? Ich habe keinen gesehen.« Körbers Tonfall ist schneidend. »Ihre Hotelbuchung wurde vom Büro übernommen. Und der Leihwagen ebenfalls. Wie kommen Sie dazu, Ihr Privatvergnügen dem Dienst zu belasten?«
Der Major erblasst. Körbers Angriff ist so unvermittelt wie unfair. Körber bestellt ein weiteres Bier, während er seines noch nicht einmal angerührt hat. Die Schaumkrone ist längst in sich zusammengefallen.
»Kann ich alles rechtfertigen. Ich bin wegen der Sicherheitskonferenz in Triest gekommen. Der erste Flug am Vormittag startet zu spät. Und morgen früh muss ich mich vorbereiten, das geht vor Ort besser.«
»Lächerlich, Major. Sie kosten nur Geld und Zeit. Ihnen ist bekannt, dass ich wegen weiterer Aufträge ohnehin in dieser Gegend bin. Sie leiden an Profilneurose.«
»Menzig hat mir nachdrücklich den Auftrag gegeben, die Interessen der Bundesrepublik zu vertreten. Interne Rangeleien sind verantwortungslos. Die Disziplin verlangt, Befehle sofort auszuführen.«
»Was für ein Musterknabe. Immerhin haben Sie der Senatorin den Termin mit der Kanzlerin bestätigt. Auch in dieser Sache haben Sie vergessen, mich zu unterrichten.«
»Sie gibt nach der Sicherheitskonferenz einen Empfang in ihren Räumen.«
»Weiß ich. Aber Sie fliegen mit der ersten Maschine zurück. Das ist ein Befehl, Major. Buchen Sie den Rückflug um. Die Senatorin hat nichts mit der vorbereitenden Konferenz zu tun.«
»Und warum ist es dann so wichtig, dass sie die Kanzlerin trifft?«
»Wegen einer völlig anderen Angelegenheit. Hat Ihnen das der Kanzleramtsminister etwa verschwiegen?«
»Ich werde es schon noch erfahren.«
»Würde ich nicht über zuverlässige Quellen verfügen«, knurrt Körber wütend, »würden Sie durch Ihre Disziplinlosigkeit unsere Anliegen vermasseln. Sie mit Ihrem sturen, egoistischen Ehrgeiz.«
»Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Haben Sie sich über den Verrat durch Ihre Frau Gedanken gemacht? Sie bewegen sich auf ganz dünnem Eis, Körber.«
»Was die Vorwürfe gegen Maja betrifft, können Sie gerne versuchen, damit durchzukommen. Aber das Leben ist voller Überraschungen, Major: Ich habe den Antrag auf Frühpensionierung zurückgezogen. Die Tür ist zu. Gehen Sie zurück zur Bundeswehr. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.«
Weißenfels bleibt auf der Terrasse zurück. Körber hat ihn wie einen Pennäler abgekanzelt. Und sollte er auch noch zur Sicherheitskonferenz kommen, ist es mit dem geplanten großen Auftritt vorbei, mit dem der Major die Weichen für die Zukunft stellen wollte. Körber ist für ihn zu einem noch größeren Problem geworden.
Der Zimmerservice bringt ein Bier, und Bernd Körber nimmt einen großen Schluck, als eines seiner Telefone klingelt.
»Die EARLY SUN befindet sich längst in der Obhut des britischen Kriegsschiffs, Bernd. Ich will meinen Lohn. Ich hoffe, du hast genug Bares dabei.«
»Was ist mit der Blonden, Mirković?«
»Die Urne ist auf dem Weg nach Berlin. Aber es gibt da ein kleines Problem. Weit kann sie nicht kommen.«
»Was faselst du da?«
»Offiziell obduziert und eingeäschert.«
»Darin seid ihr Spezialisten. Und was ist das Problem?«
»Jetzt nimmt alles seinen bürokratischen Lauf. Die Überstellung der Urne an die Angehörigen erfolgt über die kroatische Botschaft in Berlin.«
»Du spinnst, Mirković. Wo ist sie?«
»Wir hatten sie fast so weit, dass sie auspackte. Es ist mir ein Rätsel, wie sie entkommen konnte. Sie muss sich auf dem Hafengelände verstecken, aber sie ist nackt und verletzt. Wir finden sie bald. Da kommt sie nicht raus. Wir haben jetzt freie Hand, offiziell ist sie tot.«
»Ich habe gesehen, wie gut ihr das Gelände sichert. Reingekommen ist sie auch.«
»Aber da war sie bekleidet und konnte gehen.«
»Du bist ein Volltrottel, Mirković. Ihr genügt es, ins Wasser zu kommen. Treib sie sofort auf. Seit wann ist sie weg?«
»Gestern abend gegen halb zehn.«
»Was? Du lässt eine ganze Nacht und einen halben Tag verstreichen, bis du mir das mitteilst?«
»Reg dich ab, Körber. Mein Teil ist erfüllt. Dass sie hinter dir her war, ist nicht meine Schuld. Ich will mein Geld.«
»Wofür willst du bezahlt werden? Du hast versagt.«
»Ich komme es mir holen, Körber. Früher als du denkst, und dann fahr zur Hölle.«
Vieste – Bari.
An der Haltestelle setzt sich Clarissa auf den Randstein. Den vorigen Bus hatte sie knapp verpasst, erst in einer halben Stunde kommt der nächste. Sie stützt die Ellbogen auf die Knie, schiebt die Sonnenbrille ins Haar und legt das Gesicht in ihre Handflächen. Jetzt, da sie alleine ist und sich nicht weiter beherrschen muss, bricht ihr Unglück ungehemmt aus ihr heraus. Der Heulkrampf fährt ihr durch den Körper wie die Stromschläge, die ihr der Glatzkopf im Container in Rijeka verpasst hatte. Ihre Sonnenbrille fällt auf den Asphalt, der erste Kratzer im Glas. Als sie endlich aufblickt, sieht sie den Bus heranfahren, der direkt vor ihr zum Stehen kommt. Clarissa schiebt die Sonnenbrille ins Gesicht und zieht die Fahrkarte aus der Tasche, steigt grußlos ein. Der Platz hinter dem Fahrer ist frei, zum ersten Mal erblickt sie ihr Gesicht im Rückspiegel. Wie eine glückliche Urlauberin sieht sie nicht aus.
Clarissa hat keinen Blick für die Schönheit des Gargano, den der Bus auf gewundenen Sträßchen entlang der Steilküste über dem blauen Meer durchquert. Sie grübelt, wohin sie von Bari aus fahren kann. Dort zu übernachten schließt sie aus, die Hoteliers fragen beim Einchecken nach dem Ausweis, und das Geld wird sie noch brauchen. Die Fähren nach Kroatien, Montenegro oder Albanien kommen genauso wenig in Betracht. Wie sollte sie ohne Papiere aus Italien ausreisen oder dort drüben einreisen? Also mit dem Zug nach Norden fahren? Am besten gleich nach Berlin? Sich bei Miloš melden? Nein, sie wird ihn auf keinen Fall anrufen, wer weiß, ob nicht sein Telefon überwacht wird. Im Container hatte sie genau gehört, wie einer der Männer gleich mehrmals den BND erwähnte.
Oder soll sie das deutsche Konsulat um Hilfe bitten? Was sagen? Wie ist sie hierhergekommen? Schwimmend? Das glaubt ihr niemand. Und wenn man sie überprüft? Clarissa bekommt Gänsehaut, sie schwitzt und fröstelt zugleich, als ihr klar wird, dass die Schweine fest vorhatten, sie umzubringen. Sie versucht zu begreifen, weshalb sie davon überzeugt waren, dass sie Böses im Schilde führt. Sie wollte doch nur Bilder machen. Clarissa schluchzt leise, lehnt den Kopf an die Scheibe und nickt ein. Ein traumloser Schlaf, in den lediglich die Geräusche des Busses dringen.
Am Stadtrand von Bari verdichtet sich der Verkehr zunehmend, doch die Stadt gleitet an ihr vorbei, ohne dass sie viel von ihr wahrnimmt. An der Endhaltestelle auf der Piazza Aldo Moro gegenüber dem Hauptbahnhof schaut der Fahrer sie fragend an, als Clarissa noch immer wie eine Skulptur auf ihrem Platz sitzt. Sie versteht nicht, was er sagt, doch sie erhebt sich mühsam und steigt umständlich über die Stufen auf die Straße hinab. Als der Fahrer sich eine Zigarette anzündet, bemerkt er ihren Blick auf die Packung und hält sie ihr hin. Clarissa zwingt sich zu einem Lächeln und lässt sich Feuer geben. Auf seiner Armbanduhr sieht sie, dass es fast halb fünf ist. Sie nimmt zwei tiefe Züge und hinkt hustend los. Palmen säumen die Piazza, die Mitte ist begrünt, der Brunnen trocken. Würde sich eine stolze Wasserfontäne aus dem Becken erheben, Clarissa würde keinen Augenblick zögern, sich hineinzustellen. Sie hat unsäglichen Durst. Im Erdgeschoss der gesichtslosen Paläste an der Piazza sieht sie die üblichen Imbisse, wie sie auf der ganzen Welt in Bahnhofsnähe zu finden sind. Doch dann entdeckt sie das Schild einer Apotheke und versucht, dem etwa fünfzigjährigen Inhaber verständlich zu machen, was sie braucht. Sie verlangt Wundsalbe, Gaze, Pflaster und Aspirin. Wenige Meter weiter sieht sie das Schild eines Kebab-Ladens. Der junge Türke hinter dem Tresen spielt gelangweilt mit seinem Telefon. Clarissa bestellt etwas zu essen und nimmt eine Colaflasche aus dem Kühlschrank. Während der Türke das Fleisch vom Spieß schneidet, fragt sie nach einem öffentlichen Telefon. Kopfschütteln, das gibt es nicht mehr, seit jeder Rentner ein Smartphone besitzt. Sie legt zehn Euro auf den Tisch und deutet auf das Handy des Türken neben der Kasse. Er reicht es ihr lächelnd. Sie versteht nicht, was er sagt. Die zehn Euro will er nicht. Sie tippt die Nummer und wartet lange und vergebens. Nach der zweiten Cola und einem Teller Kebab mit Reis fühlt sie sich besser, bittet noch einmal um das Telefon, doch noch immer kriegt sie keine Antwort. Dann fragt sie nach der Toilette, wo sie sich notdürftig verarztet. Als Clarissa endlich den Laden verlässt, macht sie Kassensturz. Ihr bleiben einhundertzwanzig Euro. Sie muss haushalten, nur Zigaretten und ein Feuerzeug wird sie sich noch leisten.
Sie hinkt zum Bahnhof hinüber und stellt sich in die Schlange vor der Auskunft. Wie überall ist nur ein Schalter geöffnet. Nach einer halben Stunde erfährt sie endlich, dass die schnellste Verbindung nach Berlin zweiundzwanzig Stunden dauert und mit zweihundertfünfzig Euro Fahrpreis für sie unbezahlbar ist. Ganz abgesehen davon, dass sie über keinen Ausweis verfügt und Deutschland und Österreich schon auf ihrer Fahrt nach Süden die Grenzbarrieren wieder errichtet hatten. Ratlos humpelt sie hinaus auf den Bahnhofsvorplatz, holt plötzlich tief Luft und brüllt unvermittelt los. Sie zeigt in die Menschenmenge. Zwei Polizisten nähern sich, bevor sie es sich versieht.
»A thief, a thief. Help! Catch him, he is trying to get away.«
Die beiden Beamten machen keine Anstalten, eine Verfolgung aufzunehmen. Stattdessen fragen sie nach ihrem Ausweis, und als sie hilflos die Arme hebt und wiederholt, dass ihr alles gestohlen worden sei, ihre Handtasche und der Koffer, fordern sie Clarissa auf, ihnen zu folgen. Falsche Tränen. Die Beamten sind freundlich und führen sie ins Büro der Bahnhofspolizei. Einer gibt ihr einen Becher Wasser, das sie dankbar runterstürzt. Dann nähert sich eine Kollegin, trotz Diensthose und Hemd eine attraktive schwarzhaarige Frau, die sich ihr in gutem Englisch vorstellt und lächelnd erklärt, Clarissa müsse Anzeige erstatten, dürfe sich aber keine Hoffnung machen, ihr Gepäck und ihre Tasche wiederzufinden. Doch mit dem Papier könne sie sich morgen an das deutsche Honorarkonsulat in Bari wenden, wo man ihr weiterhelfen würde. Und die Notfallnummer der Botschaft in Rom gibt ihr die Beamtin auch.
Endlich ein Erfolg, Clarissa unterdrückt ihren Triumph nur schwer, als sie den Bahnhof verlässt. Dann vernimmt sie aufgeregte Rufe. Vor dem Kebab-Laden sieht sie den jungen Türken mit den Armen wedeln. Mit dem Telefon in der Hand winkt er ihr eindeutig zu. Sie gerät fast unter einen Bus, als sie kopflos den Platz überquert, und entreißt ihm atemlos das Gerät.
»Ja?« Ihre Stimme ist brüchig, Tränen laufen über ihre Wangen. »Aber ich bin’s doch, Clarissa. Ich weiß auch nicht, warum ich mir deine Nummer eingeprägt habe.«
»Ich rufe immer zurück, vorhin habe ich deinen Anruf wegen des Bootslärms nicht gehört. Du hörst dich an, als wäre was Schlimmes passiert«, sagt Valerio Alfieri, Clarissa verschluckt sich immer wieder, als sie schluchzend beschreibt, wo sie sich befindet, in einem gestohlenen Bikini, geklautem T-Shirt, Shorts und Badeschlappen. Verletzt und geschunden. Und wie sie dahin gekommen ist. Der junge Mann wendet ihr halb den Rücken zu, doch immer wieder dreht er sich um, schaut sie erstaunt an, als würde er sie verstehen.
»Wenn das wirklich stimmt, bist du noch immer in Gefahr. Dann suchen sie nach dir, bis sie dich finden. Aber wir schaffen das«, sagt Valerio Alfieri trocken, als sie endlich verstummt. »Gib mir den Mann.«
Clarissa gibt dem Türken das Telefon und beobachtet ihn neugierig. Er antwortet mehrfach in seiner Muttersprache, dann wieder auf Italienisch. Offensichtlich widerspricht er zuerst, doch dann hört sie immer wieder die gleichen Worte, als wiederhole er mehrfach Anweisungen. Als vergewissere er sich, alles verstanden zu haben. Am Ende reicht er ihr das Telefon mit besorgtem Blick.
»Clarissa, der Mann heißt Mustafa, er erklärt dir jetzt alles. Komm hierher, dann sehen wir weiter.«
»Was ist, wenn die italienische Polizei eingeweiht ist?«
»Dann hätten sie dich doch schon gehabt. Ich hole dich irgendwo ab, wo es keiner mitbekommt. Aber du musst verdammt vorsichtig sein. Du bist zu auffällig. Du wirst dich ordentlich anziehen und wie eine ganz normale Touristin nach Norden fahren. Aber eine mit kurzen schwarzen Haaren, verstanden.«
»Aber reicht nicht schwarz alleine? Ich will meine Haare nicht schneiden lassen.«
»Kurz, sagte ich, mach keine Dummheiten«, sein Tonfall ist streng. »Die Bescheinigung der Polizei ist fast so gut wie ein Personalausweis. Mustafa kauft dir die Fahrkarte, und während du nach Norden fährst, kläre ich, wie es weitergeht. Wenn du heute noch einen Zug erwischst, kommst du mitten in der Nacht hier an. Kopf hoch, Clarissa. Auf Sant’Andrea bist du in Sicherheit. Hierher kommt nur, wen ich reinlasse.«
Bei seinen letzten Worten kommen ihr trotz seiner Zuversicht die Tränen. Stumm gibt sie Mustafa das Telefon zurück. Doch woher kennt eigentlich Alfieri seinen Namen?
»Da hätten wir uns ja gleich auf Deutsch unterhalten können«, sagt Mustafa, als er das Gerät zuklappt. »Ich bin in Kreuzberg aufgewachsen. In Deutschland konnte ich nicht bleiben, in der Türkei auch nicht. Komm mit. Ich helfe dir.«
»Wohin?«, schnieft sie in einem Anflug von Hoffnung.
»Zuerst die Klamotten.« Er schaltet den Grill ab, legt die Schürze beiseite, nimmt Geld aus der Kasse und steckt es in seine Geldbörse, schnappt Telefon und Schlüsselbund.
»Und woher kennst du Alfieri?«
»Valerio? Ich kenne ihn nicht, aber er hat mir sein Wort gegeben. Seine Frau ist Türkin. Ich kenne ihre Personalagentur.«
Der Türke sperrt das Lokal zu und führt Clarissa eine Straße weiter zu einem einfachen Geschäft.
»Mach schnell, du musst nicht zur Modeschau. Danach bring ich dich zu meinem Friseur.« Sie behält das altbacken geblümte Kleid nach der Anprobe gleich an, dann wählt sie eine leichte Jacke. Die Frau an der Kasse trennt nur noch die Etiketten ab und präsentiert die Rechnung. Mustafa zieht, ohne mit der Wimper zu zucken, die Scheine aus der Tasche und führt Clarissa hinaus.
Zwei Sessel aus rotem, mit Klebeband geflicktem Kunstleder, zwei Waschbecken vor dem breiten Spiegel, dessen Ecken blind sind. Der kleine Herrenfriseursalon in der Parallelstraße wirkt nicht besonders vertrauenerweckend. Mustafa wechselt einige Worte mit dem Friseur, dessen Haar selbst nach der Hand eines Profis schreit.
»Er ist gut, er schneidet mir immer die Haare. Und billig dazu. Ich habe gesagt, dass er schnell sein soll, aber dich nicht hässlich machen darf. Und abschneiden muss er sie bis auf fünf Zentimeter.«
Wie benommen fügt sich Clarissa ihrem Schicksal und schließt die Augen. Sie fühlt die Hand des Friseurs in ihren Haaren und zuckt bei jedem Schnippen der Schere wie unter Schmerzen zusammen. Der Friseur legt Strähne für Strähne auf die Ablage vor dem Spiegel. Sie wagt nicht, sie anzusehen, sie erinnert sich an den Dienst im KSK 18. Auch dort wurde sie vom Friseur ihrer männlichen Kollegen geschoren. Irgendwann drückt er sie an den Schultern über das Waschbecken, sie spürt das lauwarme Wasser wie eine Erlösung über ihren Kopf fließen, mit geübten Handgriffen massiert er das Färbemittel ein. Mit geschlossenen Augen richtet sie sich irgendwann auf und spürt den warmen Luftstrahl des Föhns.
»Fertig«, sagt Mustafa, als er zurückkommt. »Schau dich an. Gar nicht schlecht. Steht dir fast noch besser.«
Mit erwartungsvollem Blick wartet der Friseur hinter ihr, als sie endlich in den Spiegel schaut. Von wegen fünf Zentimeter. Ein schwarzer Igel schaut zurück, sie ist den Tränen nahe. Der Türke dirigiert sie über den Gehweg in Richtung Bahnhof und kauft am Ticketschalter eine Fahrkarte erster Klasse nach Triest. Der Zug steht abfahrbereit auf dem Gleis, die meisten Reisenden sitzen schon auf ihren Plätzen. Mustafa drängt Clarissa zur Eile, hinkend folgt sie ihm zum Waggon. Er zieht die Geldbörse, zählt vierhundert Euro ab und gibt ihr ein Mobiltelefon, das er gekauft hatte, während sie beim Friseur saß.
»Was …?«, stammelt Clarissa.
»Valerios Nummer ist gespeichert. Er hat gesagt, du sollst auf seinen Anruf warten und dich auf keinen Fall selbst melden, verstanden?« Mustafa schaut sie streng an. »Keine Sorge, er gibt mir alles zurück.«
Kaum hat Clarissa den Erste-Klasse-Waggon bestiegen, schließen sich die Türen. Sie stützt sich auf die Sitzlehnen, als sie durch den Gang geht und nach ihrem Sitzplatz sucht. In zehn Stunden würde sie in finsterer Nacht dort ankommen, wo sie die Reisereportage in Miloš’ Begleitung begonnen hatte. Immer wieder starrt sie auf das dunkle Display des Telefons. Sie kennt nicht einmal den Klingelton.
Grado, Isola della Schiusa. Kommissariat.
Xenia stopft in ihrer Stammbar vor der Brücke über den Kanal gleich zwei Tramezzini in sich rein, trinkt eine Cola und bestellt einen Espresso.
»Heute noch nichts bekommen, Commissario?«, scherzt Gigi, der Barista. »Dabei sind wir Gastronomen die Einzigen, die in diesem Kaff wissen, was Stress bedeutet.«
»Red nicht weiter, Gigi. Sonst verlierst du eine treue Kundin.«
»Du würdest mir fehlen. Ich hab trotzdem recht. Während du noch am Boden lagst, hat mir schon einer von deinem Pech erzählt. Lass dein Knie röntgen.«
»Schmerz ist am schönsten, wenn er nachlässt.«
Sie legt einen Schein auf den Tisch und wartet auf das Rückgeld. Sie fährt am Kommissariat vorbei bis zum Pontil de’ Tripoli zur Werkstatt eines Freundes. Er hat sich zwar auf Boote spezialisiert, verspricht aber, zumindest Blinker und Rückspiegel des Scooters zu reparieren. Den Blechschaden und die Kratzer könne Xenia auch später richten lassen.
Während sie den kurzen Weg zum Kommissariat humpelt, denkt sie an das Gespräch mit Živa Ravno zurück. Josip Mirković ist ein Mann mit guten Verbindungen und einer zurechtgestutzten Vergangenheit, ganz ähnlich wie die Senatorin, mit der ihn zumindest frühere geschäftliche Interessen verbinden. Xenia muss mehr über ihn in Erfahrung bringen. Ein berüchtigter Kommandant im jugoslawischen Sezessionskrieg, und heute? Sie kennt ihn nur von Beckers Fotos, der ihn auch noch in einer verregneten Nacht an einem schlecht beleuchteten Grenzübergang hinter Triest abgelichtet hat. Und der ist nun der Präsident der Hafenbehörde in Rijeka?
Nur noch wenige Meter trennen sie vom Kommissariat, als das Salzburger Taxi sich über die Brücke nähert und direkt vor der Einfahrt stoppt. Jack betätigt die Lichthupe, als er die Kommissarin sieht. Sie deutet ihm an, den Wagen wenigstens ein paar Meter weiter zu parken. Was haben bloß alle, dass sie ausgerechnet die wichtigste Zufahrt nach Feuerwehr und Rettungsdienst blockieren wollen?
»Wir haben länger gebraucht, als ich dachte«, sagt Jack beim Aussteigen. »Zuerst hat es eine Ewigkeit gedauert, bis ich Miloš gefunden habe. Er hat sich teuflisch gut zwischen den alten Kartonagen versteckt und ist dort eingeschlafen. Hätte ich das Gelände nicht irgendwann zu Fuß inspiziert, wäre er vermutlich in einem Müllauto verschwunden. Auf der Fahrt standen wir zwei Mal auf der Tauernautobahn wegen dieser verfluchten Urlauber im Stau.«
»Jetzt sind Sie ja da«, sagt Xenia und gibt beiden die Hand. Clarissas Freund sieht elend aus, dicke Augenringe, das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Miloš, Sie nehmen ein Zimmer in dem B & B gegenüber, wo Sie schon vor ein paar Tagen abgestiegen sind. Vorerst nur für eine Nacht. Ich weiß nicht, wie lange ich Sie brauche. Der Laden ist nur selten ausgebucht, notfalls können Sie verlängern. Erfrischt euch und kommt dann rüber. Ich warte auf euch.«
»Ich fahre gleich wieder zurück.«
»Sie sind völlig übermüdet, Jack.«
»Der Wagen hat die Tageseinnahmen nicht reingeholt, zumindest die Nacht über muss er fahren.« Der Taxifahrer steht schon wieder an der Fahrertür.
»Ruhen Sie sich aus.«
»Die drei Stunden halte ich schon durch. Richtung Norden herrscht kaum Verkehr.«
»Wollen Sie nicht wissen, weshalb Sie Miloš hergebracht haben?«, wundert sich Xenia.
»Nein, Commissario. Erstens hat er mir während der Fahrt alles erzählt, und zweitens habe ich selbst lernen müssen, dass es nicht immer Erklärungen braucht, um jemandem zu helfen. Denken Sie daran, was Becker für mich getan hat. Ich habe schon beim ersten Mal begriffen, wer Sie sind. Sie tun auch nicht nur Ihren Job. Ich kann hier sowieso nichts ausrichten, und wenn Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen. Mach’s gut, Miloš, ich fahr heim.«
Kaum hat er den Wagen gewendet, steigt er noch einmal aus. »Commissario«, ruft er. »Ich hätte fast vergessen, Ihnen die Zeitung zu geben, dabei habe ich sie noch extra gekauft. Wie haben Sie das nur hingekriegt?«
Während Miloš zum B & B hinüberschlurft und Xenia die Stufen zum Kommissariat hinaufgeht, legt Alfieri das Boot an. Dafür, dass er endlich seine Fabrik verkauft hat, sieht er nicht besonders erleichtert aus. Sie winkt ihm mit der Zeitung zu.
»Gib mir bitte das Unfallprotokoll«, sagt sie zu Molinari, der am Empfang sitzt. »Und die Daten von diesem Deutschen, der mich zu Boden gebracht hat.«
»Die Kollegen haben erzählt, er habe sich mächtig gewunden, als ihm klar wurde, dass er eine Polizistin angefahren hat. Wollen Sie sich rächen?«, fragt er lächelnd.
»Dass jemand mit einem Diplomatenpass hier Ferien macht, ist mir neu. Hast du schon einmal Urlauber gesehen, die im grauen Anzug und mit einer dämlichen, knallgelben Tennisschläger-Krawatte anreisen?«
»Macht ihn das verdächtig?« Molinari kramt in den Unterlagen und reicht ihr das Papier. »Vielleicht gehört er einfach zu denen, die sich selbst in der Freizeit noch zu wichtig nehmen. Sind diese beiden Journalisten schon zurückgekommen?«
»Nur er. Ohne die Fotografin.«
Xenia öffnet die Fenster ihres Büros und dreht sich eine Zigarette, während der Computer hochfährt. Sie gibt Körbers Daten ein. Ein beliebiger Name. Über die ganze Bundesrepublik verstreut findet sie einen Psychologen, einen Malermeister, einen Gitarrenbauer, gleich mehrere Ingenieure, Versicherungsagenten, Unternehmer, Sportler, Makler und andere unverdächtige Berufe. Aber keinen Bernd Körber im Dienst des deutschen Staats. Wer ist er? Und was will er hier? Eine von den Kollegen angeheftete Notiz bestätigt, dass er im Savoy für fünf Nächte reserviert hat. Sie muss Arne bitten, der dieser Tage als Aushilfskellner für Frühstück und Abendessen angefordert wurde, über Körbers Gewohnheiten zu berichten.
Bayern-Faulspiel bei MEC-Deal. Kick-back-Zahlungen statt Due dilligence. Die deutsche Tageszeitung, die Jack ihr mitgebracht hat, bringt schon auf der Titelseite das Thema ganz groß. Xenia blättert neugierig weiter. Die Journalisten haben Beckers Text zwar an manchen Stellen entschärft, folgen aber uneingeschränkt seinem Fazit. Sogar einen Nachruf auf den ermordeten Kollegen haben sie verfasst, der ihr die Tränen in die Augen treibt. Zu Lebzeiten hatte die deutsche Presse seiner Arbeit keine große Aufmerksamkeit geschenkt und die großen Skandale im Nachbarland hämisch als österreichische Provinzpossen behandelt. Immer wieder begegnet Xenia diese Arroganz auch im Gespräch mit deutschen Kollegen: Organisierte Kriminalität gibt es angeblich überall, nur nicht in Deutschland, und wenn, dann höchstens unter Ausländern. Dabei ist es ökonomisch und logisch völlig widersinnig, dass ausgerechnet die größte Wirtschaftsmacht in Europa davor gefeit sein soll, das mitzubetreiben. Wieder und wieder betrachtet Xenia die Fotos der Senatorin. Ausgerechnet in ihrem Büro hat Alfieri heute die ChimiCo in Torviscosa verkauft. Sie würde sich wundern, wenn Romana Castelli de Poltieri nicht auch davon in irgendeiner Form profitiert.
»Volltreffer, Arne. Ich habe soeben die Zeitung erhalten. Du hattest recht«, sagt Xenia am Telefon zu ihrem Freund, der sich zu Hause für seinen Job im Hotel fertig macht. »Ich bin gespannt, wann und wie unsere Medien darauf einsteigen.«
»Sie müssen Beckers Unterlagen auf Echtheit überprüft haben«, antwortet Arne zufrieden. »Sonst bringen sie solche Meldungen nicht. Jetzt sollten wir ihnen das restliche Material zuspielen.«
»Aber wie?«, wehrt Xenia sogleich ab. »Ich fürchte, es gibt inzwischen zu viele, die mitlesen oder es gar abfangen können. Und wenn es dumm läuft, können sie sogar Rückschlüsse darauf ziehen, wo das Material hochgeladen wurde. Die warten nur darauf, dass wir einen Fehler machen. Das Beste wäre, den ganzen Packen direkt in die Redaktion zu bringen. Ich kann das nicht tun, sonst bin ich meinen Job los. Du auch nicht«, ergänzt sie, bevor Arne sich anbietet. »Auch das fiele auf mich zurück.«
»Ich komme vor der Arbeit vorbei. Das muss ich selbst sehen.«
Molinari führt Miloš Ban herein, Xenia beendet das Gespräch. Er hat geduscht, seine dicken Locken sind noch nass. Er ist nervös, erhebt sich gleich wieder von dem Stuhl, den sie ihm angeboten hat, und beginnt ohne Aufforderung seine wirre Schilderung vom Aufenthalt in Rijeka. Molinari hört in der Tür stehend zu. Erst allmählich ordnen sich Miloš’ Sätze. Als er vom ersten Morgen am Markt erzählt, unterbricht er sich plötzlich und fummelt eine kleine Speicherkarte aus der Hosentasche.
»Wie konnte ich die nur vergessen? Die hat sie mir zugesteckt, als man sie das erste Mal gefasst hat. Da muss irgendwas Wichtiges drauf sein. Können wir die Daten auslesen?«
Molinari streckt die Hand aus. »Ich mach das, aber nicht mit den Dienstgeräten. Ich fahre nach Hause und hole meinen Computer. Aber dann ist niemand am Empfang.«
»Ich sage Donadoni, dass er dich vertreten soll. Und Miloš, hören Sie auf damit, wie ein Irrer durch mein Büro zu stapfen. Setzen Sie sich endlich und konzentrieren Sie sich. Schauen Sie her.« Xenia deutet auf ein Blatt voller farbig markierter Namen, die sie während seinen Schilderungen mit Strichen verbunden und mit Zahlen versehen hat. »Stimmen diese Verbindungen?«
»Den kenne ich«, ruft Miloš und zieht stattdessen die deutsche Tageszeitung zu sich. »Josip Mirković. Das Schwein war mein Kommandant bei der Operation Oluja. Und in Rijeka habe ich ihn am ersten Morgen auf dem Markt gesehen, als Clarissa völlig verstört vom Hafen zurückkam. Wo sind wir da nur reingeraten?« Er bricht in Tränen aus. Xenia wartet, bis er wieder aufblickt, und ergänzt einen weiteren Namen auf ihrem Blatt.
»Sehen Sie sich jetzt diese Verbindungen an. Wer fehlt noch?« Ihre Stimme ist streng, doch sie dringt nicht zu ihm durch, Miloš ist zu stark mit seinen Erinnerungen beschäftigt.
Molinari meldet sich zurück und fragt nach dem Speicherchip. Sie bittet ihn, Miloš mitzunehmen und sie zu rufen, sollten sie fündig werden.
Bari – Triest.
Nur einmal, nach der ersten halben Stunde auf der Fahrt nach Norden, führen die Gleise von der Küste weg, um den bergigen Sporn des italienischen Stiefels im flacheren Hinterland zu durchschneiden, nachdem sie zuvor an Europas größter Saline von Margherita di Savoia entlangführten, deren angehäuftes weißes Gold in der Abendsonne leuchtete. Gleich nach der Abfahrt in Bari hatte der Schaffner den Fahrgästen der ersten Klasse Getränke und Zeitungen angeboten. Clarissa bat um Rotwein und deutete auf das erstbeste Blatt, das sie zwar nicht lesen konnte, aber aus den Bildern, Personen und Ortsnamen in den Titeln und Untertiteln grob zu verstehen hoffte, was in der Zeit ihrer Gefangennahme und Flucht passiert war.
Angeblich hatten die Russen Satellitenaufnahmen der Absturzstelle eines Air-Malaysia-Flugs in der Ukraine gefälscht. Die italienische Marine rettete fast dreieinhalbtausend Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste aus den maroden Kähnen, mit denen sie die Überfahrt nach Sizilien nicht überlebt hätten, und bei den Parlamentswahlen in der Türkei verlor die AKP von Präsident Erdoğan ihre absolute Mehrheit, weil zu dessen fundamentalem Ärger eine kurdenfreundliche Partei der Völker stattliche dreizehn Prozent kassierte. In Bayern hatte dafür der G-7-Gipfel getagt, auf dem die Staatschefs beschlossen, die in Irak und Syrien kämpfende Terrormiliz Islamischer Staat schnell zu besiegen.
Clarissa gelingt es nicht, sich lange zu konzentrieren, immer wieder gleitet ihr Blick über die weite Landschaft Apuliens und über das stahlblaue Meer und die unzähligen Frachtschiffe, als die Gleise nördlich des Gargano wieder parallel zur Küste verlaufen. Mit einem dieser Schiffe war auch sie hierhergekommen. Die Dämmerung senkt sich allmählich herab, und kurz bevor der Zug in den Bahnhof von Pescara einfährt, legt sich die Nacht übers Land. Clarissa Waisz betrachtet ihr Spiegelbild im Waggonfenster, als gehöre es einer Fremden. Blasser Teint, schwarze kurze Haare, tiefe Schatten unter den ungeschminkten Augen, kitschig geblümtes Kleid. Ganz und gar nicht das Bild einer Frau, die in die erste Klasse gehört. Erst der freundliche Schaffner reißt sie wieder zurück in die Gegenwart, als er ihr noch ein Glas Rotwein und Salzgebäck serviert. Kaum hat sie ihr Gläschen geleert, überwältigt sie der Schlaf. Kurz vor Bologna kommt sie zu sich. Hier muss sie umsteigen, hatte ihr Mustafa eingebläut. Dann eine Stunde später noch einmal in Mestre, dem Eisenbahnknoten vor Venedig. Fast zehn Stunden dauert die Fahrt nach Norden.
Die Brandwunden an ihren Leisten schmerzen, und ihr kleiner Zeh pocht. Während sie durch den Bahnhof hinkt und nach dem richtigen Bahnsteig sucht, kommt sie an zwei Polizisten vorbei, ein Mann und eine Frau, die sie interessiert mustern. Zu auffällig ist ihr Gang und zu verstört ihr Gesichtsausdruck. Angriff ist die beste Verteidigung, denkt Clarissa und fragt sie auf Englisch nach dem Weg. Die Beamtin erklärt ihn lächelnd. Sie bedankt sich und humpelt weiter, sieht das Schild eines Tabakladens, ein großes weißes T auf schwarzem Grund, und fragt nach ihrer Marke. Tatsächlich zieht der Inhaber ein Päckchen Parliament Night Blue aus dem Regal, mit einem Hauch von Fröhlichkeit gibt sie ihm das Geld und steckt sich auf dem Bahnsteig endlich eine Zigarette an.
Kaum fährt der Zug an, erkundigt sich wieder ein freundlicher Schaffner danach, was sie zu trinken wünsche. Wieder bestellt sie Rotwein, doch diesmal zwingt Clarissa sich, wach zu bleiben. Dieser Streckenabschnitt ist zu kurz, und den Anschlusszug darf sie auf keinen Fall verpassen. Vorwiegend elegant gekleidete Geschäftsreisende sitzen mit ihr im Waggon, sie telefonieren unablässig. Nur ihr Apparat bleibt stumm. Lange starrt sie auf das Display und widersteht nur schwer dem Wunsch, Alfieri anzurufen. Doch Mustafa hatte ihr eingeschärft, dass sie nur antworten dürfe. Sie muss ihm vertrauen. Die Po-Ebene fliegt an den Fenstern vorbei, die Lichter kleinerer Ortschaften. Sie sieht in weißer Schrift auf blauem Grund die Namen Ferrara und Padova, die einzigen Städte, in denen der Zug hält. Dann die Ansage für den nächsten Halt in Mestre, sie steht behutsam auf, um zum Waggonende zu gehen. Die Stufen zum Bahnsteig sind eine Qual.
Grado, Via Caprin. Pizzeria.
Major Weißenfels verzichtet auf sein Abendessen im Hotelrestaurant, um einer weiteren Konfrontation mit Körber aus dem Weg zu gehen. Er macht sich zu Fuß in Richtung Zentrum auf, wo er nach einem Lokal Ausschau hält, in dem er in Ruhe essen und nachdenken kann. Er braucht einen Plan, wie er Körber noch vor der Konferenz loswerden kann. In der Viale Italia entscheidet er sich für eine Pizzeria, die sogar auf Deutsch damit wirbt, das neapolitanische Original zu servieren. Er wählt eine Pizza mit Würstel. So viel Italienisch versteht er, zum Teufel mit Körber.
»Buona sera, Commissario. Wie schön, dass Sie uns besuchen. Sie sehen wie immer blendend aus«, schleimt der Kellner halb scherzend auf Deutsch.
Weißenfels blickt auf. Überschwänglich weist der Kellner einer kurzhaarigen Blonden und ihrem Begleiter, einem bärigen Typen mit langen Locken und ungepflegtem Bart, den Nebentisch zu. Die Frau, der Körber vor dem Hotel den Weg abgeschnitten hat. Kaum haben sich die beiden gesetzt, sind sie in eine heftige Diskussion verstrickt. Weißenfels nimmt einen großzügigen Schluck Bier.
»Clarissa hat gut daran getan, Ihnen den Chip zuzustecken, Miloš.« Xenia spricht slowenisch mit ihm. »Aber zuerst bestellen wir.«
Der Kellner steht wieder am Tisch. »Zwei Bier. Und eine Marinara wie üblich, nehme ich an, Commissario? Und für den Herrn?«
»Eine Romana bitte, mit Kapern und Knoblauch. Knoblauch schützt vor Bissen.« Miloš bestellt auf Italienisch, aber mehr Leichtigkeit bringt er nicht zustande. Sein Blick versinkt im Nirgendwo, selbst als Xenia sich ihm wieder in seiner Muttersprache zuwendet.
»Sind Sie wirklich sicher, dass der kleine Mann mit der komischen Krawatte der gleiche ist, mit dem Sie den Unfall in Berlin hatten?«
»Ja, verdammt noch mal.« Vier Worte auf Deutsch, dann wechselt er ins Slowenische zurück. »Auch wenn es nur drei Fotos sind. Der hat vor nichts Angst. Die Art und Weise, wie er mit seinem Chauffeur umgegangen ist – an Machtbewusstsein fehlt es ihm nicht. Dass er mit meinem früheren Kommandanten zusammenarbeitet, ist überhaupt kein gutes Zeichen. Die Deutschen hatten immer einen guten Draht zu den Kroaten, spätestens seit den Nazis und der Ustascha.«
»Das Schiff hatten wir ein paar Tage vorher beschlagnahmt. Es wurde jedoch schnell wieder freigegeben. Aber die Container, die in Rijeka verladen wurden, geben mir zu denken.« Xenia übergeht den Kommentar. »Hilfsgüter verlädt man nicht bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion.«
»Sie wurden auf Militärlastern gebracht. Und das Foto dieses Journalisten ist eindeutig: Mirković und diese Frau an der Grenze. Die Kisten kenne ich gut. In der DDR entwickelte Wieger-940-Gewehre. Die sind bei uns an der Front gelandet. Beim Sturm auf die Republika Srpska Krajina hatte ich selbst so eins.«
Der Kellner serviert Bier und Pizza.
»Und vermutlich haben Sie damit geschossen«, fährt Xenia fort, als sie wieder alleine sind.
Miloš entgeht ihr Unterton nicht »Und nie getroffen. Schießen lernte ich beim Militärdienst in der Nähe von Split. Es hat mich nicht besonders interessiert. Ich war dann in Istrien an einer Batterie der Küstenartillerie eingesetzt. Wir lagen meistens am Strand.«
»Aber die Waffen kennen Sie?«
»Ja, die Wieger-Gewehre waren neu für uns. Wo Mirković die herhatte, wusste ich nicht. Ich bin sowieso im ersten Moment abgehauen und über die neue Grenze nach Piran zu meinen Eltern geflohen.«
»Desertiert?« Xenia horcht auf.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Warum sollte ich zwei Mal in den gleichen Krieg ziehen, nur weil ich von einem Moment auf den anderen nicht mehr eine, sondern zwei Staatsangehörigkeiten hatte? Mirković habe ich in Rijeka zum ersten Mal wiedergesehen. Er hat mich nicht bemerkt, aber vermutlich hätte er mich sowieso nicht erkannt. In seiner Einheit mussten wir uns den Schädel kahl rasieren. Ich fürchte, er würde mich heute noch umbringen, weil ich abgehauen bin.«
»Das ist lange her. Nur wenn wir wissen, was die in Rijeka verladenen Container enthalten, kommen wir weiter.«
»Was transportieren Militärlaster wohl? Zählen Sie eins und eins zusammen: Der eine ist Deutscher, der andere ist Mirković. Waffen natürlich.«
»Ich bin nicht begriffsstutzig, Miloš. Sind Sie sicher, dass Clarissa nur für das Reisemagazin fotografieren wollte?«
»Was denn sonst?«
»Warum ist sie in den Hafen eingedrungen? Was hat sie da gesucht?«
»Hören Sie doch auf damit. Sie hätte es mir gesagt.«
»Sie sagten selbst, dass sie Kampfschwimmerin in der DDR -Marine war. Hat sie wirklich keine Kontakte mehr?«
»Nein, verdammt«, entfährt es Miloš auf Deutsch. »Sie spielt kein doppeltes Spiel. Ich kenne sie genau. Wenn sie nicht arbeitet, sitzt sie beim Friseur und lässt sich die Haare färben. Sonst nichts.«
»Oh, Entschuldigung«, antwortet Xenia spitz und ebenfalls auf Deutsch. »Niemand sollte sich des anderen sicher sein. Das ist das Erste, was man in meinem Beruf lernt.«
»Entschuldigung.« Die Stimme des blonden Norddeutschen am Nebentisch klingt schüchtern, sein Blick ist es nicht. »Ich habe gehört, dass Sie deutsch sprechen. Darf ich Sie was fragen?«
Xenia lächelt kauend und nickt.
»Ich bin für zwei Tage hier, was kann ich morgen in Grado unternehmen?«
»Fahren Sie mit dem Schiff durch die Lagune, es gibt ein interessantes Ausflugsprogramm. Fragen Sie im Hotel, die helfen Ihnen.« Sie hält sich kurz.
»Eine nette Idee, aber den ganzen Tag habe ich leider nicht Zeit.«
»Bummeln Sie durch die Altstadt, schauen Sie die Mosaiken an. Essen Sie Fisch.«
»Leben Sie schon lange in Grado?«
»Allerdings. Wo kommen Sie her?«
»Ich lebe in Berlin. Ich dachte, Italiener beherrschen keine Fremdsprachen.«
»Sehen Sie. Schöne Ferien.«
Xenia ist es leid, einen einsamen Touristen zu unterhalten, sie switcht zurück ins Slowenische und wendet sich wieder Miloš zu. Als sie beim dritten Bier sind, stößt Arne zu ihnen. Obgleich sie zum Italienischen übergehen, bleibt er wortkarg, als Xenia mit Miloš weiter beim Sie bleibt. Ein Freund ist das offensichtlich nicht. Und am Schluss bezahlt sie sogar die Rechnung.
»Du solltest dir mal einen halben Tag freinehmen. Du kannst nicht ständig nur arbeiten«, sagt Arne auf dem Heimweg. »Ich koch dir was Feines.«
»Was weißt denn du schon. Aber morgen vielleicht. Wohin willst du? Und was essen wir da?«
»Lass dich überraschen. Morgen ist die Gelegenheit. An- und Abreisetag. Keine Führungen. Und auch das Hotel braucht mich nur für den Frühstücksservice. Den mach ich aber. Wenn die Gäste mich sehen, stecken sie mir vielleicht auch ein bisschen Trinkgeld zu.«
Grado Pineta, Via delle Pleiadi.
Das kleine Häuschen aus den Sechzigerjahren ist bescheiden und dunkel. Auch in der Nachbarschaft brennen kaum Lichter. In einem Fenster gegenüber das Flimmern eines Fernsehers. Der Moment scheint günstig, er lehnt das Fahrrad an den niedrigen Gartenzaun und nimmt den Blumenstrauß aus dem Hotelzimmer vom Gepäckträger. Eine Ausrede, falls doch jemand da ist. Seine Entschuldigung für den Unfall. Wenig glaubwürdig zwar, aber auch kaum zu widerlegen. Das Gartentor ist unverschlossen. Behutsam drückt er es auf. Im Gegensatz zu dem in Pullach öffnet es sich fast geräuschlos. Vorsichtig setzt er die Füße auf und geht an der Fassade entlang, bis er den Garten sieht. Im sanften Mondschein erkennt er ein Bett unter einem Moskitonetz, das am Ast eines großen Baums hängt, sowie ein Tischchen mit zwei Stühlen. Auch der Garten ist verlassen. Bernd Körber schleicht zur Hintertür, sie wackelt in dem einfachen Schloss, der Bartschlüssel auf der anderen Seite wurde offensichtlich nur einmal gedreht. Er wundert sich, dass das Haus einer Polizistin nicht besser gesichert ist. Das zweite Fenster zu seiner Linken ist sogar nur angelehnt, er drückt es auf, legt den Blumenstrauß auf die Fensterbank und zieht sich hoch. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt er die Umrisse der Küche. Sauberes Geschirr wartet neben dem Spülbecken darauf, weggeräumt zu werden. Einfache Möbel, ein alter Gasherd. Leere Weinflaschen stehen neben der Tür. Er geht durch den Flur, in einem Zimmer nichts außer einem geöffneten Kleiderschrank, vermutlich stand das Bett in der Mitte des Raums, bevor es in den Garten geschleppt wurde. Im nächsten Zimmer erkennt Körber einen Arbeitstisch voller Papiere. Er schaltet die Taschenlampe seines Telefons an und ist perplex. Das Foto der Senatorin und das ihres Bruders hängen an der Wand, dazu eine Menge an Aufzeichnungen, Notizen, Blättern mit Daten. Es ist unverkennbar der Raum einer Ermittlerin, die ihr Material auf traditionelle Weise sammelt und ordnet. Ganz ähnlich hatte früher auch Bernd Körber in komplexen Fällen die Einzelelemente in seinem Büro aufgehängt, um kein Detail zu übersehen. Er schaltet den Blitz ein und schießt ein Foto. Als er sich in die Unterlagen auf dem Schreibtisch vertiefen will, hört er zwei Motorroller näher kommen. Rasch knipst er die Taschenlampe aus. Das Motorengeräusch erstirbt vor dem Haus. Körber läuft den Flur zurück, öffnet die Hintertür und rennt zum Zaun des dunklen Nachbargrundstücks. Als die Lichter in Haus und Garten eingeschaltet werden, landet er auf der anderen Seite in einem Busch und robbt auf allen vieren in Richtung Straße.
»Du hast schon wieder vergessen, die Hintertür abzuschließen, und das Küchenfenster ist auch noch offen.«
Körber hört die vorwurfsvolle Männerstimme, als er schon am nächsten Zaun angekommen ist. Er hält den Atem an, um besser zu hören.
»Was redest du da? Ich habe wie immer alles abgesperrt.« Nun scheint auch die Polizistin im Garten zu sein. »Ah, du Schlaumeier wolltest, dass ich den Blumenstrauß auf der Fensterbank entdecke. Arne, ich habe dir schon einmal verboten, mir ständig Blumen zu schenken. Und der ist nicht einmal besonders originell. Spar dir dein Geld.«
Körber klettert über den Gartenzaun auf den Gehweg und läuft zum Fahrrad, das er im Hotel ausgeliehen hatte.
»Ich habe keine Blumen gekauft«, protestiert Arne und schaut verwundert den Strauß an. »Der sieht aus wie die, die wir im Hotel bei Neuankünften auf die Zimmer verteilen müssen.«
Xenia läuft zurück ins Haus und schaltet das Licht in ihrem Arbeitszimmer ein. Beckers Unterlagen liegen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Sie erinnert sich genau, dass sie diese in den Karton zurückgelegt und ihn nach der letzten Lektüre geschlossen hat. Sie macht sofort das Licht aus, entsichert die Beretta, öffnet behutsam die Haustür und streift die Außenwand entlang. Nichts. Dann tritt sie auf die Straße hinaus, die unter der spärlichen Beleuchtung verlassen daliegt. Sie blickt auf die Stelle am Zaun, wo bei ihrer Ankunft noch ein Fahrrad gelehnt hatte, über das sie sich wunderten. Es ist weg. Xenia steckt die Waffe in den Hosenbund und startet den Scooter. Nur zwei Wege führen aus der Via delle Pleiadi. Über die breite und übersichtliche Hauptstraße würde sie niemals die Flucht mit einem Fahrrad antreten. Sie entscheidet sich für den Park. Doch außer einigen eng umschlungenen Pärchen sieht sie dort niemanden. Erst in der Nähe der Altstadt sind ein paar Leute mit Rädern unterwegs. Zwei maulen, die Wege seien für Motorfahrzeuge gesperrt. Xenia gibt Gas und fährt zum Kommissariat. Der diensthabende Beamte blickt errötend vom Bildschirm auf, als seine Chefin eintritt, und gibt ein paar Tastaturbefehle ein. Als sie neben ihn tritt, ist kein Programm mehr geöffnet.
»Habt ihr heute Abend irgendwelche Meldungen aus Grado Pineta erhalten?«
»Bis jetzt ist es ruhig. Kein einziger Anruf seit meinem Dienstbeginn. Wohnen Sie nicht dort, Commissario?«
»Ruf mich sofort an, wenn du etwas hörst.«
Fünf Minuten später ist sie wieder zu Hause.
»Wo warst du?« Arne wartet im Garten auf sie.
»Wir sind zu früh zurückgekommen, Arne. Wir haben jemanden gestört. Ich bin mir sicher, dass ich auch die Hintertür abgeschlossen hatte. Irgendjemand hat in Beckers Unterlagen geschnüffelt. Wären wir später dran gewesen, dann lägen sie jetzt vermutlich auf einem anderen Tisch. Los, hilf mir, das Zeug in Sicherheit zu bringen. Grab ein Loch unterm Bett. Ich verpacke es in Plastiksäcke.«
»Und was ist, wenn der heute Nacht noch einmal zurückkommt?«
»Dann kann er was erleben. Aber der kommt nicht mehr. Zumindest heute nicht. Kannst du morgen früh im Hotel gleich feststellen, auf welchem Zimmer ein Blumenstrauß fehlt? Schaffst du das?«
Bari – Triest.
Der Bahnhof von Mestre ist grau und seelenlos. Unendlich viel Beton, Taubenscheiße, eine schmutzige Unterführung. Die Läden und Bars in der Halle sind längst geschlossen. Wieder stehen zwei Bahnpolizisten am Treppenaufgang und mustern sie. Wieder fragt sie nach dem Bahnsteig, als sie endlich oben angekommen ist, und wieder wird sie in die Unterführung hinab und zu einem anderen Gleis geschickt. Hier ist zwar die Umsteigezeit kürzer, doch der Regionalzug spartanisch und verdreckt. Das Erste-Klasse-Abteil ist nur ein kleiner abgetrennter Bereich von vier zerschlissenen Sitzbänken. Der Waggon füllt sich rasch, viele Leute müssen stehen, und der Zug hält schließlich an jedem Misthaufen. In San Donà steigen die meisten aus, Pendler vermutlich. Bisher wurden nicht einmal die Fahrkarten kontrolliert. Clarissa nickt wieder ein, bis der Schaffner ihr auf die Schulter tippt.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt er, während sie umständlich das Ticket aus der Gesäßtasche fummelt und ihm reicht.
»Everything okay, thank you«, flüstert sie. »How much does it take to Trieste?«
»One hour, Signora.«
Der Mann mustert sie noch einmal und wendet sich erst ab, als sie lächelt.
Warum hält ein Zug um diese Uhrzeit eigentlich noch an so kleinen Bahnhöfen, wo kaum jemand mehr ein- oder aussteigt, fragt sich Clarissa. Sie ist jetzt alleine im Abteil. Das monotone Gerumpel des Waggons schläfert sie schon bald wieder ein.
Entsetzt fährt sie hoch, als sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürt, die sie wach rüttelt. Vor Schreck zuckt sie zusammen. Als sie das Gesicht erkennt, stößt sie einen schrillen Schrei aus.
»Valerio! Mein Gott, hast du mich erschreckt.« Die Tränen laufen wie ein Bergbach über ihre Wangen.
»Wir haben nicht viel Zeit, Clarissa. Wir steigen gleich aus.«
»Sind wir schon in Triest?«
»Nein, zuerst kommt Monfalcone. Dort steht mein Wagen.«
Er hatte alle Waggons nach ihr abgesucht, er musste sich beeilen, zwischen beiden Haltestellen liegen keine zehn Minuten Fahrt. Wäre der Zug voll besetzt gewesen, hätte er Mühe gehabt, sie zu finden. Anstelle der prächtigen blonden Mähne blickte er auf einen verstümmelten schwarzen Kurzhaarschnitt durch die Hand eines Friseurs, den ein anatolischer Hirte nicht einmal zum Schafscheren angestellt hätte.
»Steht dir gut, die neue Frisur, meine Liebe, aber müde siehst du aus. In einer Stunde liegst du in einem weichen Bett und schläfst, bis du wieder bei Kräften bist.«
Der Bahnhof von Monfalcone hat wenige Gleise, außer ihnen steigen drei weitere Personen aus, die zu der Unterführung zum kleinen Bahnhofsgebäude eilen. Aus Bangladesch stammende Arbeiter auf dem Weg zur Schicht auf der riesigen Werft für Kreuzfahrtschiffe. Den beiden Polizisten am Ausgang winken sie wie alte Bekannte lässig zu.
Clarissa kommt nur langsam voran, sie stützt sich auf Valerios Arm. Als sie die kleine Bahnhofshalle verlassen, verstellt ihnen einer der Uniformierten den Weg und fragt nach ihren Ausweisen. Alfieri zückt seinen deutschen Personalausweis, Clarissa sucht nach der Diebstahlsanzeige aus Bari.
»Sie hatte einen Unfall«, erklärt Alfieri sogleich. »Sie wird sich bei mir erholen.«
Skeptisch überfliegt der Uniformierte das zerknitterte Blatt. Dann wechselt er ein paar Worte mit seinem Kollegen, der mit dem Papier hinaus zum Streifenwagen geht.
»Stimmt was nicht?«, fragt Valerio Alfieri.
»Controllo di routine«, antwortet der Polizist einsilbig.
Clarissa blickt ihn mit wässrigen Augen an, doch er verzieht keine Miene. Der Zeiger der Bahnhofsuhr steht kurz vor halb vier.
»La signora è ferita?«
Misstrauisch mustert er Alfieri.
»Eine Operation«, sagt Clarissa in der Hoffnung, dass der Mann sie versteht.
Der zweite Uniformierte kommt zurück und schüttelt den Kopf.
»Alles in Ordnung«, sagt er und reicht ihr die Papiere.
Die flache Landschaft, die sie durchfahren, zeigt sich schemenhaft im Licht des zunehmenden Mondes. Weite Felder, ein paar wenige, spärlich beleuchtete Bauernhöfe, dann hohes Schilf zu beiden Seiten der Landstraße, zwei Brücken. Ein breiter Flusslauf schillert unter ihnen, Clarissa reckt sich, um einen besseren Blick zu haben.
»Das ist der Isonzo«, erklärt Alfieri.
»Isonzo habe ich schon gehört. Erster Weltkrieg, glaube ich. Giftgas.«
»Das war vor hundert Jahren.«