Es gibt viele verschiedene Wege zu einem erfolgreichen, kreativen und glücklichen Leben. Manche Menschen kommen voran, indem sie selbstbewusst, streitlustig und gelegentlich störend auftreten. Andere halten sich stärker bedeckt; sie sind dezent, posaunen die eigenen Vorzüge nicht hinaus und kritisieren andere nur selten. Trotz ihres fehlenden Geltungsdrangs können sie aber vieles erreichen. Ihre Erfolgsbilanz ist atemberaubend, und dennoch würden sie niemals damit prahlen.

Zur japanischen Lebensart gehört es, die direkte Konfrontation zu vermeiden, selbst wenn man nach Innovationen strebt. Natürlich gibt es jede Menge japanischer Erfolgsgeschichten. Nach Beispielen muss man nicht lange suchen: Sony, Toyota, Honda und Nissan – sie alle haben ihren Ursprung im Land der aufgehenden Sonne, und das sind nur einige der großen Firmen, die die Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg prägen. Und trotzdem sind die Japaner für ihre Reserviertheit bekannt. In der Regel sind sie bescheiden, nehmen eine Niederlage mit Würde hin und bleiben unauffällig bei einem Sieg. Sie behalten ihre Meinung für sich – was so weit geht, dass manche Leute das Schweigen unangenehm finden. Die Japaner haben viele wunderbare Dinge erreicht, ohne zwangsläufig die eigenen Vorzüge vor sich herzutragen.

Hinter der Stille und der Zurückhaltung japanischer Menschen steckt ein lang gehütetes Geheimnis: das Wissen darum, wie man im Leben Wohlbefinden und Harmonie erreichen kann. Im vorliegenden Buch geht es um genau diesen Weg zu innerer Erfüllung und Ausgeglichenheit.

Lassen Sie uns mit dem Kleingedruckten anfangen. Die meisten Selbsthilfebücher versprechen, Sie glücklich, wohlhabend oder erfolgreich zu machen – oder manchmal sogar alles drei. Tatsächlich wird in vielen Büchern Glück mit Reichtum und Erfolg gleichgesetzt. Im Gegensatz dazu geht es in diesem Buch nicht darum, Abkürzungen zu Glück, Erfolg oder Reichtum zu finden, sondern darum, die positiven Aspekte unseres Lebens zu verstehen und zu stärken, um die Schwierigkeiten auszugleichen, mit denen wir es alle unweigerlich zu tun bekommen. Es geht darum, den Wert unserer guten Eigenschaften, unseres Glücks und Erfolgs so weit wie möglich zu steigern, um unser Wohlbefinden zu verbessern und uns widerstandsfähiger zu machen. Diese Resilienz ermöglicht es uns, mit den negativen Dingen im Leben besser umzugehen. Dazu muss man allerdings anerkennen, dass es im Leben immer auch Unangenehmes gibt und dass die Ausgewogenheit von Gutem und Schlechtem und allem dazwischen unser Leben reicher und gehaltvoller macht. So wie etwas Säure oder Bitterkeit den Geschmack mancher Gerichte verbessert, so lernen wir, das Schöne in unserem Leben mehr zu schätzen, wenn wir schwierige Zeiten durchzustehen haben.

Was also ist das Geheimnis? Die Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen:

NAGOMI.

Wenn Sie dieses Wort noch nie gehört haben, dann liegt das nicht an Ihnen. Selbst wenn Sie bereits eine Menge über andere Kulturen wissen, ist es Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht untergekommen. Dieses ehrwürdige Konzept entspricht zwar dem Kern dessen, wofür Japan und seine Einwohner stehen, war aber dennoch lange Zeit das bestgehütete Geheimnis der japanischen Herangehensweise an Arbeit und Leben.

Dies ist – soweit ich weiß – das erste Buch, das nagomi dem Rest der Welt nahebringt. Es erkundet das Konzept von nagomi, seine Relevanz im heutigen Leben sowie seine historischen und kulturellen Hintergründe und stellt es zugleich in einen modernen Kontext.

Aber zuerst einmal: Was ist nagomi? Man könnte sagen, es steht für Gleichgewicht, Behaglichkeit und Ruhe von Herz und Geist. Bei nagomi kann es um die Beziehung zur eigenen Umwelt gehen oder um die Art, wie man mit anderen Menschen kommuniziert. Es kann – etwa beim Kochen – ein ausgewogenes Mischungsverhältnis von Zutaten bezeichnen, aber auch die eigene Geistesverfassung, wenn man mit sich selbst und der Welt im Einklang ist. Letzten Endes ist nagomi ein Zustand des menschlichen Bewusstseins, geprägt von einem Gefühl der Leichtigkeit, der emotionalen Ausgeglichenheit, des Wohlbefindens und der Ruhe. Entscheidend dafür ist etwa die Auffassung, dass es unterschiedliche Elemente gibt, nicht bloß ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes. In den kanji (der japanischen Version der chinesischen Schriftzeichen) wird es mit demselben Schriftzeichen (Nagomi) dargestellt wie wa, das Wort für »Harmonie«.

In semantischer Hinsicht ist nagomu ein intransitives Verb, das ein spontanes Erreichen des Zustands von nagomi wiedergibt. Das transitive Verb nagomaseru dagegen beschreibt den aktiven Prozess, verschiedene Komponenten zusammenzufügen und auf diese Weise eine harmonische Einheit zu erschaffen. Im täglichen Gebrauch stehen die Verben nagomu und nagomaseru dafür, Erleichterung von Stress, Spannung, Streit oder Sorge zu finden, die das moderne Leben leider kennzeichnen, in Japan ebenso wie anderswo. Das Wort nagomi ist außerdem mit nagi verwandt, einem Wort für »ruhiges Meer«. In manchen Zusammenhängen kann nagi Beschaulichkeit und Frieden ausdrücken.

Für nagomi als Wort mit so vielen subtilen und detailreichen Nuancen gibt es keine einfache Entsprechung. Seine Bedeutung verändert sich leicht, je nach Zusammenhang. In diesem Buch behandele ich deshalb die verschiedenen Aspekte von nagomi, um zu zeigen, wie es sich auf alle Bereiche des Lebens anwenden lässt.

Wegen seiner positiven Konnotationen ist nagomi in Japan ein beliebter Begriff. Restaurants, Altersheime, Grünteemarken, Eissorten, heiße Quellen, Hochzeitsplaner, Anbieter von shinrin-yoku (»Waldbaden«), die Wellnesseinrichtung eines Luxushotels, ein Orchester und eine Computerschriftart – sie alle tragen die Bezeichnung nagomi. Außerdem ist es der Name eines besonderen Zuges, der allein dem Kaiser vorbehalten ist. Der Nagomi-Zug wurde mit neuester Technologie und größter Sorgfalt konstruiert, wie es für die Japaner typisch ist. Er ist dunkelviolett – eine Farbe, die traditionell als aristokratisch gilt – und wird auf Hochglanz poliert. Wie genau der kaiserliche Waggon von innen aussieht, ist nicht bekannt, und der Zug darf ohnehin die meiste Zeit von kaum jemandem betreten werden. Bei seltenen Anlässen bekommt allerdings auch die Allgemeinheit die Chance, mit dem Nagomi-Zug eine besondere Strecke zu fahren, und in Berichten darüber hört man ausnahmslos, was für ein wunderbares Gefährt das sei. Dass nagomi der Name dieses qualitativ ausgesprochen hochwertigen Transportmittels ist, zeugt davon, wie stark nagomi in der kulturellen und historischen Tradition Japans geschätzt wird.

Bei nagomi geht es aber nicht bloß um Tradition. Es entwickelt sich weiter, da Japan seine Türen mehr und mehr für die Außenwelt öffnet. Zum Beispiel ist es auch die Bezeichnung für ein Besuchsprogramm für ausländische Touristen; dabei heißen registrierte japanische Haushalte internationale Besucherinnen und Besucher willkommen und kochen für sie, um beim gemeinsamen Essen eine schöne Zeit zu verbringen.

Nagomi gilt als »Mutter« solch wichtiger Konzepte wie wabi sabi (Wahrnehmung von Schönheit), Zen, kintsugi (eine Reparaturmethode für Keramik), ichigo ichie (die Kunst, den Moment zu nutzen) und ikigai (Lebenskunst). Tatsächlich ist es nicht übertrieben, nagomi als Inbegriff japanischer Kultur und als zentral für die japanische Lebensphilosophie zu bezeichnen. Die überragende Bedeutung von nagomi kann bis zu der »17-Artikel-Verfassung« zurückverfolgt werden, die Prinz Shōtoku im Jahr 604 niederschrieb und die als erstes staatsrechtliches Dokument Japans gilt. In Artikel eins heißt es: »Wa ist bedeutsam«, wobei mit »wa« die chinesische, etwas förmlichere Darstellung des Nagomi-Konzepts gemeint ist. Der Verfassung zufolge beruht also die Entstehung der japanischen Nation auf dem Leitbild von nagomi.

Nagomi ist stark mit innerem Wohlbefinden verknüpft, aber man kann nagomi auch dann finden, wenn man nicht so glücklich ist. Denn es kann uns lehren, mit dem scheinbaren Fehlen von Glück oder sogar mit gelegentlichen Schicksalsschlägen besser umzugehen. Nagomi kann uns auch dabei helfen, bestimmte Situationen zu akzeptieren, selbst wenn sie nicht ideal sind. Das mag zunächst verwirrend klingen, aber ich werde noch erklären, wie nagomi uns viele Wege aufzeigen kann, stressfreier, entspannter und widerstandsfähiger zu werden. Und das Beste daran ist, dass es jedem helfen kann – egal, wer Sie sind oder woher Sie kommen.

Ich freue mich darauf, Ihnen das Konzept von nagomi vorzustellen, dem Herzstück der japanischen Lebensphilosophie.

Lassen Sie uns nun gemeinsam die Reise zu nagomi antreten.