Im Jahr 1945 brach ein junger Medizinstudent in Osaka, einer Stadt im Westen Japans, zu einem langen Fußmarsch auf. Damals hatten die Brandbomben der US-amerikanischen Air Force fast die gesamte Stadt zerstört. Der junge Mann hatte großen Hunger. Als er auf ein Haus stieß, das den Flammen getrotzt hatte, klopfte er an die Tür. Die Bewohner öffneten und sahen einen ernsten jungen Studenten in schäbiger Kleidung, der sich mehrmals verbeugte, als hätte er ein dringendes Anliegen. Von Mitleid erfüllt, gaben sie ihm drei onigiri (Reisklöße) von ihren knappen Vorräten. Der junge Mann aß gierig, als hätte er schon lange nichts mehr gegessen. Gestärkt durch die onigiri und die Güte der Fremden, bewältigte er die achtzehn Kilometer von Osaka zurück nach Takarazuka, wo er mit seiner Familie lebte. Später erfuhr er, dass das Haus der Menschen, die ihm so selbstlos die Klöße gegeben hatten, ein paar Tage nach seiner Begegnung mit ihnen zerbombt worden war.

Auf seinem langen Heimweg fasste der Student den Entschluss, Manga-Künstler zu werden. Heutzutage sind erfolgreiche Manga-Zeichner hoch angesehen und werden gut bezahlt, aber damals gab es den Beruf im Grunde genommen noch nicht. Es war, als hätte der Student sich vorgenommen, mit verbundenen Augen ins Meer zu springen. Doch so illusorisch sein Vorhaben auch erschien – hätte er diese Entscheidung zu jener Zeit nicht getroffen, wäre die Geschichte des Mangas womöglich ganz anders verlaufen. Für viele von uns ist es ein Glücksfall, dass der junge Mann seinen ungewöhnlichen Plan so hartnäckig verfolgte.

Der Medizinstudent hieß Osamu Tezuka, und er wurde ein äußerst produktiver Künstler, der heute berühmt ist für Werke wie Astro Boy, Choppy und die Prinzessin, Kimba, der weiße Löwe, Black Jack, Buddha und Adolf. Tezukas Kreativität und Erfolg waren so groß, dass man ihn auch den »Vater des Mangas« und bisweilen sogar »Gott des Mangas« nannte.

Tezukas Schaffen begeisterte ein großes Publikum und inspirierte Generationen von Manga-Künstlern. Zudem besaß er eine warmherzige, zugewandte Art im Umgang mit aufstrebenden jungen Kunstschaffenden, die sich in der Hoffnung auf professionellen Rat, Inspiration und Förderung um ihn scharten. Genauso hatten sich im 18. Jahrhundert die Kaufleute von Matsusaka um den Gelehrten Norinaga Motoori versammelt, um mittels seiner Weisheiten die Klippen des Lebens besser umschiffen zu können.

Wir alle brauchen erfundene Geschichten, um unser Leben leichter, besser und erträglicher zu machen. Je schwieriger eine Situation ist, desto stärker und unverfälschter tritt der Schaffensdrang oftmals zutage. Niemand kann genau wissen, warum Tezuka an jenem Tag den Entschluss fasste, Manga-Künstler zu werden, und was der Anblick seiner verbrannten Heimat damit zu tun hatte. Doch vermutlich hatte die Wucht seiner Gefühle entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung seines Schöpfergeists.

Mangas sind eine sehr zugängliche Kunstform – jeder kann sie lesen und erschaffen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich selbst als Schuljunge daran versuchte (meistens waren es lustige Mangas, wie die von Fujio Akatsuka) und sie mit denen meiner Freunde verglich. Natürlich waren meine Werke nicht besonders gut. Aber sie entstanden aus der Auffassung heraus, dass sich alle – auch ohne entsprechende Ausbildung – an die Kunst des Mangas heranwagen könnten.

Diese demokratische Herangehensweise an die Kreativität ist seit jeher eines der Kennzeichen der japanischen Gesellschaft. Insbesondere in jungen, erst im Werden begriffenen Kunstrichtungen herrscht keine Wertehierarchie (beim Manga gibt es keine New York Times, keinen New Yorker oder Guardian als Hüter hoher kultureller Ansprüche!). Eine scharfe Trennung zwischen »Hochkultur« und Populärkultur hat es in Japan nie gegeben. Vielmehr besteht zwischen den kulturellen Genres ein natürliches nagomi.

Im Jahr 1867 begann die Entstehung des modernen Japans mit der Wiedereinsetzung des Kaisers als Alleinherrscher (woraus sich später die konstitutionelle Monarchie entwickelte). Damals war die Regierung in Tokio bestrebt, dem Land die sogenannte westliche Hochkultur einzuverleiben. Im Zuge dessen begannen die Japanerinnen und Japaner, in Öl zu malen, Romane zu schreiben, klassische Musik zu hören und zu spielen und die Stücke Shakespeares in japanischer Übersetzung aufzuführen. Vornehmlich bei den Mächtigen und Gebildeten gab es die Tendenz, zwischen hoher und populärer Kultur zu unterscheiden, wobei zu Ersterer die gesamte westliche Kultur zählte und darüber hinaus japanische Kunstformen wie Kabuki (»Gesang und Tanz«), Nō (Maskentheater) und Bunraku (Puppentheater). Für die Regierung waren Ausprägungen der »Hochkultur« besonders schutz- und förderungswürdig, da es das Prestige der japanischen Nation in den Augen des Westens zu steigern galt. Aus dem historischen Zusammenhang heraus ist das verständlich, schließlich hatte Japan einiges aufzuholen.

Das Wunderbare am Manga ist, dass seine führenden Vertreter nie davon ausgingen, einer Gegenkultur anzugehören. Den Gründervätern des modernen Mangas bereitete das im Vergleich zu heute geringe gesellschaftliche Ansehen ihrer Kunst kein Kopfzerbrechen. Es war ihnen sogar völlig gleichgültig. Sie empfanden keinen Neid auf Künstler, die sich dem Theater oder der Ölmalerei widmeten, und sahen daher auch keine Notwendigkeit, gegen deren vermeintliche Vorherrschaft aufzubegehren. Manga-Zeichner wie Osamu Tezuka und Fujio Akatsuka konzentrierten ihre Energie einfach darauf, hervorragende Werke zu erschaffen; alles andere war für sie nebensächlich.

Im Allgemeinen geht die Entstehung neuartiger Bewegungen in der japanischen Kulturszene immer recht entspannt vor sich – ganz so, als wäre nagomi in der japanischen Wesensart verankert und würde Neues hervorsprießen lassen wie Bambustriebe nach dem Regen.

Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist Karaoke – ein Begriff, der sich aus kara (»leer«) und oke (einem Kurzwort für »Orchester«) zusammensetzt. Wo, wenn nicht in Japan, käme man auf den Gedanken, Amateursänger könnten großen Spaß daran haben, zu Musik vom Band zu singen?

In Japan, wo ich geboren und aufgewachsen bin, ist es die natürlichste Sache der Welt, vor vielen Leuten zu singen, ohne darüber nachzudenken, wie das Publikum über diesen Auftritt urteilen könnte. Karaoke in Japan hat nichts gemein mit der beliebten US-amerikanischen Fernsehserie Glee, in der Schüler einer Highschool mit nahezu perfekten Gesangs- und Tanzdarbietungen aufwarten. Japanern und Japanerinnen ist es normalerweise gleichgültig, wie gut jemand singt. Es geht darum, Spaß zu haben (ein perfekter Auftritt könnte da sogar eher kontraproduktiv sein). Zwischen gut (professionell) und schlecht (amateurhaft) wird kein Unterschied gemacht, und wenn doch, dann eher im Sinne eines fließenden Übergangs als einer scharfen Grenze. Mittlerweile erfreut sich Karaoke auch im Westen großer Beliebtheit, und es ist schön zu sehen, dass fast überall auf der Welt Karaokebars zu finden sind, in denen man im Freundeskreis unbefangen Spaß haben kann.

Das Entscheidende ist, das innere Kind am Leben zu erhalten. Man kann Mangas erschaffen, singen und tanzen wie ein sorgloses Kind, ohne über die Meinung anderer nachzudenken. Leider vergessen allzu viele Menschen, wie viel Freude die originellen Beschäftigungen unserer Kindheit machen. Sie scheuen die Kritik, die ihre Auftritte hervorrufen könnten, und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, anstatt ihre Kreativität auszuleben. Diese Leute würden nicht im Traum daran denken, Karaoke zu singen, und verpassen so eine gute Gelegenheit, ihrer schöpferischen Begabung freien Lauf zu lassen. Da wir Menschen soziale Wesen sind und unser Ego beschützen wollen, ist diese Reaktion natürlich verständlich. Der Weg des nagomi hilft dabei, eine solche psychologische Barriere zu überwinden und das innere Kind am Leben zu erhalten, also selbst als erwachsene Person im Herzen jung zu bleiben.

Nagomi ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Aspekt der Kreativität. Und der Schlüssel zu diesem Konzept liegt darin, Jugend und Unreife als etwas Positives zu begreifen.

Allgemein wird in Japan die Fähigkeit hochgeschätzt, sich ein kindliches Gemüt zu bewahren. Das lässt sich bestens anhand des Ausdrucks kawaii veranschaulichen. Dieses Wort, das in etwa mit »niedlich« übersetzt werden kann, eignet sich überaus gut als »sprachlicher Joker«, wenn man jemandem mit einem Lob eine Freude machen möchte. Ein Kind oder eine Katze kawaii zu nennen, ist natürlich nicht ungewöhnlich. Doch auch ein erwachsener Mann oder sogar ein Abbild Buddhas kann so bezeichnet werden. Das Wort wird also vielfältiger verwendet als die deutsche Entsprechung »niedlich«. Soseki Natsume (1867  1916) beispielsweise, dem wohl größten japanischen Romancier seit der Hofdame Murasaki Shikibu, ging es in seinen Werken um eine ernsthafte Darstellung der conditio humana in der modernen Gesellschaft – und ebenso um das Kawaii-Element. Sein Debütroman Ich der Kater gilt vielen als tiefgründiges Werk und zugleich als kawaii. Der Ich-Erzähler ist nämlich ein streunender Kater, den ein Englischprofessor bei sich aufnimmt. Letzterer trägt Züge des Autors selbst, der an einer Mittelschule und der Universität Tokio unterrichtete, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Das Bild von Natsume als Katzenliebhaber ist im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit verankert und hat sein Werk vielen Gelegenheitslesern zugänglich gemacht, die sich andernfalls womöglich durch dessen Komplexität hätten abschrecken lassen.

Die Verwendung des Wortes kawaii für erwachsene Männer ist wohl eines der bestgehüteten Geheimnisse der japanischen Kultur. Sogar Arnold Schwarzenegger wurde auf dem Gipfel seines Ruhms als Bösewicht im Film Terminator in Japan kawaii genannt. Und nach seinen Auftritten in japanischen Werbespots bekam er den Beinamen »Schwa-chan« verliehen (das Suffix -chan wird im Japanischen häufig für Babys und Kleinkinder oder ähnlich niedliche Wesen gebraucht).

Im Ausdruck kawaii spiegelt sich gewissermaßen die japanische Eigenart, die Grenzen zwischen anspruchsvoller und populärer Kultur, zwischen Frauen und Männern, Mächtigen und Machtlosen, Jungen und Alten zu verwischen und dadurch nagomi herzustellen. Kawaii ist ein großer Gleichmacher. Mit jemandem, der als kawaii gilt, kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder gesellschaftlicher Stellung – nagomi erzeugt werden. Kawaii ist demnach als eine Art kognitives Instrument verwendbar, um die unterschiedlichsten Menschen gleichermaßen anzusprechen und zusammenzubringen. Auf diese Weise kann jeder seine einzigartige Persönlichkeit ausdrücken, ohne zwangsläufig mit dem Status quo in Konflikt zu geraten. Und genau darin zeigt sich der wahre Geist des nagomi der Kreativität.

Viele Japaner und Japanerinnen verstehen es ausgezeichnet, sich Freiheiten zu nehmen, ohne dabei Wellen zu schlagen. In einer Welt, in der politische Korrektheit, Cancel Culture und Wokeness vielen zu weit gehen (wobei ich nicht zu betonen brauche, dass die diesen Bewegungen zugrunde liegenden Werte und Motive selbstverständlich zu befürworten sind), kann das nagomi der Kreativität viel dazu beitragen, die bittere Medizin der notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen zu versüßen.

Wenn ich daran denke, wie man in Japan mit Widrigkeiten umgeht, fallen mir gleich zwei Beispiele ein. Beide verdeutlichen kurz und bündig, wie es möglich ist, Freiheit im Verborgenen zu behalten, statt unverhohlen gegen Beschränkungen zu rebellieren.

Das erste Beispiel ist die Uramasari-Praxis (wörtlich: »siegreiches Innenfutter«), die in der Edo-Zeit während der Herrschaft der Samurai weitverbreitet war. Damals verboten die Shogune häufig das Tragen prächtiger Kleidung, um die allzu stark boomende Wirtschaft zu zügeln oder strenge Sitten durchzusetzen (denen sich die Samurai selbst verschrieben hatten). Die Bewohner von Edo (wie Tokio damals hieß) lehnten sich gegen diese Einschränkung ihrer Freiheit nicht offen auf. Stattdessen ließen sie sich ganz besondere Kleidung schneidern, die nach außen hin schlicht wirkte, deren Futter jedoch aus kostbaren Materialien wie Seide oder kinran (einem aus Gold- und Silberfäden gewebten Stoff) gefertigt war. So zeigten auch rebellische Gemüter nach außen hin Bescheidenheit und Zurückhaltung, während sie im Verborgenen ein prachtvolles Innenfutter trugen. Damit bewahrten sie ihren Stolz und ihr Selbstwertgefühl, ohne mit den Samurai in Konflikt zu geraten (die vermutlich Bescheid wussten, aber ihre Untertanen gewähren ließen).

Das zweite Beispiel ist das Matsuri-Sushi (»Festtags-Sushi«), dessen Ursprung in Okayama liegt, einer Stadt im Westen Japans. Auch in diesem Fall versuchten die Samurai, einen luxuriösen Lebensstil zu unterbinden, und ordneten daher an, dass zu jeder Mahlzeit nur noch ein Gericht zubereitet werden dürfe. Anstatt dagegen aufzubegehren, verfielen die gewitzten Bewohner Okayamas auf die brillante Idee des Matsuri-Sushi. Dazu gaben sie alle Köstlichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen – Fisch-Sashimi, Tintenfische, Kalmare, Garnelen, klein gehackte Eier, Shiitake-Pilze und mamakari (marinierte Sardinen, eine Spezialität aus Okayama) –, in einen hölzernen Oke-Kübel und schichteten zuletzt mit Essig gewürzten Reis darüber. Das Ergebnis war ein einziges Gericht, genau wie es der Samurai-Herrscher befohlen hatte – allerdings eines, das aus einer Vielzahl von Delikatessen bestand, die unter einer schmackhaften Reisschicht verborgen waren. Nun brauchte man den Inhalt des Bottichs nur noch kurz vor dem Servieren auf einen großen Teller zu stürzen, sodass die saftigen, bunten Matsuri-Zutaten auf dem Sushi-Reis angerichtet waren.

Diese Beispiele bringen meiner Meinung nach das nagomi der Kreativität besonders gut zum Ausdruck. Beide Male gelang es der japanischen Bevölkerung, sich ihre Freiheit zu erhalten und zugleich nagomi mit der Obrigkeit zu wahren.

Auch der ungewöhnliche Entschluss, den Osamu Tezuka auf dem Fußmarsch durch das zerbombte Osaka fasste, ist ein wunderbares Beispiel für das nagomi der Kreativität. Tezuka hätte gegen die Grausamkeiten des Kriegs oder die Fehleinschätzungen der Regierung protestieren können; stattdessen erschuf er großartige Mangas, die für viele Japaner und Japanerinnen in der schwierigen Nachkriegszeit eine Quelle der Freude darstellten.

Wenn Sie sich Widrigkeiten gegenübersehen, können Sie Ihre Stimme erheben und aufbegehren. Sie können allerdings auch einen anderen Weg wählen, der weniger direkt und konfrontativ ist, dafür aber wirkungsvoller – einen Weg, der nach außen hin zurückhaltend wirkt und tatsächlich von Mut zeugt. Das ist der Weg des nagomi, nagomido, der es Ihnen ermöglicht, Ihre Kreativität voll auszuschöpfen, ohne die Auseinandersetzung zu suchen.

Entscheidend ist, dass Sie sich selbst treu bleiben.

Die meisten glauben, ein genialer Mensch sei immer ein einsamer Wolf oder rebellischer Außenseiter. Natürlich entsprechen manche Genies tatsächlich dieser Vorstellung. Albert Einstein etwa, der mit dem von Zucht und Ordnung geprägten deutschen Schulsystem in Konflikt geriet und das Gymnasium verließ, um Europa allein zu durchstreifen, gehörte gewiss zum Typus des aufsässigen Einzelgängers. Doch auch Genies müssen mit der Gesellschaft und der Zeit, in der sie leben, nagomi herstellen, insbesondere wenn sie messbaren Erfolg haben wollen. Sie müssen sich sogar in gewisser Weise an ihr Umfeld anpassen, um ihr Potenzial bestmöglich entfalten zu können.

Nagomi entsteht, wenn unterschiedliche Elemente zu etwas Neuem verschmelzen – ein Prozess, der das Wesen der Genialität widerspiegelt. Tatsächlich ist nagomi essenziell für die japanische Sicht auf das Leben generell, sei es nun das eines Genies oder das eines gewöhnlichen Menschen. Man könnte das menschliche Gehirn sogar als komplexe »Nagomi-Maschine« bezeichnen, in der diverse neuronale Netze, die die verschiedensten Funktionen steuern, miteinander verknüpft sind und durch diese Verbindung wiederum neue Funktionen hervorbringen.

Daher ist für die Japanerinnen und Japaner Genialität nur ein Bestandteil des gesamten Lebenskreislaufs, keine Gabe, die von irgendwo außerhalb kommt. Hierin zeigt sich eine ganz andere Auffassung von Kreativität als im Westen.

In der westlichen Kultur gilt Genie als etwas, das ganz für sich steht. Diese Vorstellung geht vermutlich auf die biblische Genesis zurück, in der Gott die Welt allein in sechs Tagen erschuf. Ein solches Genius-Konzept hat nichts mit nagomi gemein, dem Erzielen von Gleichgewicht und Harmonie mit der Umwelt.

In der japanischen Tradition steht nagomi für ein sorgfältiges Austarieren von Selbstbehauptung und Selbstverneinung, von Verabsolutierung des Ichs und seiner Relativierung. Kreativität wird also nicht als ein Prozess angesehen, bei dem ein Genie allem seinen Stempel aufdrückt. Vielmehr gilt sie als Ergebnis einer organischen Verknüpfung von individueller Persönlichkeit und umgebender Welt. So gesehen ist nagomi zutiefst kreativ: Selbstbehauptung und Selbstverneinung fließen ganz natürlich ineinander, im Versuch, sich mit der Welt in eins zu setzen.

Insgesamt stellt Genie ein Phänomen der Vernetzung dar; es offenbart sich in der Bemühung, nagomi zwischen dem eigenen Potenzial und den Mitmenschen herzustellen. Genie ist also eine Frucht des nagomi der Kreativität.

Selbst ein wahrhaft großartiges Werk wird daher nicht allein den Fähigkeiten seines Schöpfers zugeschrieben. Der Weg des nagomi (nagomido) erkennt das an und eröffnet so allen die Möglichkeit zur Kreativität, unabhängig von den persönlichen Voraussetzungen. Wenn es Ihnen gelingt, sich mit der Welt in Einklang zu setzen, können Sie etwas Kostbares hervorbringen. Was auf den ersten Blick wie eine Kränkung des Egos wirkt, ist in Wirklichkeit zutiefst befreiend.

Haben Sie sich einmal von allen vorgefassten Meinungen über die Schaffenskraft befreit – etwa bezüglich »Hochkultur« und Populärkultur, Begabung, Geschlecht, Alter und des sozialen Status –, können Sie am nagomi der Kreativität teilhaben. Ich hoffe sehr, dass Ihnen die Erläuterungen in diesem Kapitel helfen werden, Ihr schöpferisches Potenzial zu entfalten.

Vielleicht nehmen Sie sich ja jetzt vor, einen Karaoke-Abend mit Ihren Freunden oder Kollegen zu genießen, oder Sie melden sich zu einem Mal- oder Zeichenkurs an, obwohl Sie seit der Schulzeit nicht mehr gemalt haben. Entscheidend ist, dass Sie etwas finden, was Ihnen Freude macht, und es dann tun, ohne sich Gedanken zu machen, was andere über Sie denken könnten – sorglos wie ein kleines Kind, das von Natur aus kreativ ist.

Haben Sie nagomi mit sich und Ihrer Umgebung gefunden und eine sichere Ausgangsbasis geschaffen, können Sie mit einem Lächeln auf den Lippen Ihrer Schöpferkraft freien Lauf lassen. Der Weg des nagomi der Kreativität steht Ihnen offen.

Wenn Sie unabhängig von Ihrer Umwelt auf Ihre innere Stimme hören, können Sie diesen Weg jederzeit beschreiten und alle Schwierigkeiten überwinden, ob sie nun in der Gesellschaft oder in Ihnen selbst begründet sind.

Im wahren Geist des nagomi der Kreativität sollten Sie sich (in Anlehnung an den Film Der Club der toten Dichter) stets fragen:

»Was wird wohl mein Vers sein?«