Das Leben ist eine Reise ohne Umkehr – von der Jugend bis ins hohe Alter. Vielen von uns fällt es schwer, das Älterwerden zu akzeptieren. Sie betrachten es als etwas, vor dem man sich schützen muss, als eine schändliche Niederlage. Das ist ein falsches Verständnis von der Essenz des Lebens. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir mithilfe von nagomi eine völlig neue Herangehensweise an unser Dasein entwickeln können.

In Hōjōki (Aufzeichnungen aus meiner Hütte) von Kamo no Chōmei (1155  1216), einem Klassiker der japanischen Literatur, gibt es eine schöne Passage über die Vergänglichkeit des Lebens. Der berühmte Anfang lautet:

Unaufhörlich strömt der Fluß dahin, gleichwohl ist sein Wasser nie dasselbe. Schaumblasen tanzen an seichten Stellen, vergehen und bilden sich wieder – von großer Dauer sind sie allemal nicht.

Chōmei sinniert über das Fortschreiten der Zeit und den Widerspruch zwischen Ewigkeit und flüchtigem Augenblick. Das Aufkommen und spurlose Verschwinden von Menschen und Häusern vergleicht er mit dem Morgentau auf Asagao-Blüten (Ackerwinde): Der Tau halte sich nicht bis zum Abend, schreibt Chōmei. Und auch die Blüte selbst vergehe. Melancholisch kommt er zu dem Schluss: Dass nichts von Dauer sei, gehöre zu den Unvermeidbarkeiten des Lebens. Diesen nachdenklichen Essay verfasste Chōmei in einer abgeschiedenen hojo (einer etwa zehn Quadratmeter großen Hütte), in die er sich freiwillig zurückgezogen hatte. Eine Nachbildung dieser hojo steht heute auf dem Gelände des Kawai-Schreins in Kyoto am Rand eines malerischen Waldes.

Chōmeis klassischer Aufsatz bildet einen guten Auftakt zu diesem Kapitel, denn nagomi ist die Anerkennung des Umstands, dass ein langes und ausgeglichenes Leben von vielen Elementen abhängt. Ohne nagomi ist ein Leben in dieser unvorhersehbaren Welt nicht möglich. Nagomi ist ein wichtiges Puzzleteil der Philosophie des Lebens, nicht nur in Japan, sondern überall auf der Welt. Man könnte sogar sagen: Nagomi ist das Leben selbst.

Betrachtet man das, was in unserer gegenwärtigen Welt groß und wichtig erscheint – Firmen wie Facebook, Google, Apple und Amazon zum Beispiel –, dann bekommt man vielleicht den Eindruck, dass solche Unternehmen niemals untergehen können, denn ein Leben ohne sie kann man sich kaum vorstellen. Doch keines davon wird zwangsläufig ewig bestehen. Zwar werden sie sicherlich noch mindestens ein paar Jahrzehnte überdauern, aber wäre Chōmei heute noch unter uns, würde er darauf hinweisen, dass es keine Garantien gibt. So ist nun mal das Leben.

Das größte Unglück entsteht häufig dadurch, dass man sich den Veränderungen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt, widersetzt. In vielen Kulturen der Welt herrscht heutzutage ein regelrechter Jugendwahn: Man versucht um jeden Preis, sich ein jugendliches Aussehen zu bewahren, nimmt dieses oder jenes Nahrungsergänzungsmittel ein, treibt Sport, isst spezielle Lebensmittel und unterzieht sich kosmetischen Operationen. Natürlich muss das jeder und jede für sich selbst entscheiden, aber wer der ewigen Jugend nachjagt, übersieht leicht die Schönheit, die das Alter mit sich bringt.

Bob Dylan beispielsweise besingt in dem Song »Forever Young« die ewige Jugend und ist auch in erster Linie für sein Frühwerk bekannt. Dabei hat er sich als Musiker ständig weiterentwickelt, was auch sein im Juni 2020 erschienenes Album Rough and Rowdy Ways zeigt, das von Kritikern sehr gelobt wird. Mich persönlich fasziniert, wie reif und zugleich jugendlich es klingt. Dylans Stimme erinnert an das Knarren einer alten Eiche, mit einem Hauch Honig darin – anders als die Stimme, die ihn in seinen frühen Jahren berühmt machte, aber noch immer überaus attraktiv.

In Japan erkennt man das Geheimnis immerwährenden Jungseins nicht darin, Veränderungen abzulehnen, sondern darin, den natürlichen Lauf der Dinge zu akzeptieren. Das Tokowaka-Konzept (wörtlich »ewige Jugend«, von toko für »ewig« und waka für »jung«) ist ein wichtiger Bestandteil der japanischen Lebensphilosophie. Interessanterweise bezeichnet tokowaka einen Prozess: Nichts bleibt gleich, alles erneuert sich ständig – so wie Chōmei es am Anfang von Hōjōki beschreibt. Dass Dylan sich im reifen Alter von achtzig Jahren mit der Comeback-Single »Murder Most Foul« zurückmeldet, ist der Inbegriff von tokowaka. Um ewig jung zu bleiben, muss man gemäß dieser Philosophie vor allem loslassen können und den Wandel hinnehmen oder ihn sogar willkommen heißen. Tokowaka bedeutet, nagomi mit dem Älterwerden zu erreichen.

Die Begründer des Nō, einer Form des traditionellen japanischen Theaters, die inzwischen als UNESCO-Kulturerbe anerkannt ist, verschrieben sich in besonderer Weise der Philosophie des tokowaka. Das Nō-Theater wurde im 14. Jahrhundert von einem gewissen Kan’ami (1333  1384) und seinem Sohn Zeami (1363  1443) entwickelt und erfordert neben Masken, Kostümen und verschiedenen Requisiten auch gut ausgebildete Schauspieler und Musiker. Vater und Sohn verfassten gemeinsam einen theoretischen Essay zur Bühnenkunst mit dem Titel Fūshikaden (»Stil und die Blüte«). Darin unterscheiden sie zwischen zwei Arten von »Blüten« als Symbol der Ausstrahlung eines Darstellers auf der Bühne. Über die »Blüte der Zeit« verfügen Darsteller und Darstellerinnen in ihrer Jugend. Die »Blüte der Wahrheit« erreichen sie dagegen erst im reifen Alter, wenn sie runzlig, schwerfällig und sogar gekrümmt sind. Die »Blüte der Wahrheit« versinnbildlicht die ewige Jugend (tokowaka) in der Kunst des Nō und ist nur durch harte Arbeit und Disziplin zu erlangen.

Ein Beispiel für tokowaka in der Natur ist die Kirschblüte im Frühling. Die zauberhaften rosa Blüten sind untrennbar mit Japan verbunden und für ihre vergängliche Schönheit berühmt. Nichts an ihnen ist vorhersehbar. Der genaue Zeitpunkt, an dem sich die Blüten öffnen, und die Dauer ihres Blühens sind vom launischen Frühlingswetter abhängig: Ein paar warme Tage lassen die Knospen aufbrechen, bei anschließendem kühlerem Wetter halten sie länger, aber Wind und Regen können sie vorzeitig zu Boden fallen lassen. Selbst unter den günstigsten Bedingungen bleiben die Blüten nur etwa eine Woche lang am Baum. Viele Japanerinnen und Japaner betrachten die Kirschblüten als Metapher für das Leben selbst. Wie das Leben, so ist auch die Kirschblüte unberechenbar, kurz und den Elementen unterworfen. Das Motto des japanischen Kirschblütenfests Hanami (»Blüten betrachten«) ist, das Leben zu genießen, solange man dazu in der Lage ist, weil es jederzeit zu Ende sein kann.

In der Natur wiederholt sich derselbe Vorgang Jahr für Jahr; die Kirschblüten verkörpern somit tokowaka oder die »Blüte der Wahrheit«. Zugleich ist Hanami aber auch ein Fest des Vergänglichen und repräsentiert so die »Blüte der Zeit«, wie Kan’ami und Zeami es genannt haben.

Die japanische Lebensphilosophie würde in einem Satz zusammengefasst lauten: »In dieser Welt ist nichts von Dauer – außer der Wandel selbst.« Die COVID-19-Pandemie führt uns das wieder deutlich vor Augen. Wir sehen uns mit der Ungewissheit des Lebens konfrontiert und müssen lernen, mit überraschenden Veränderungen umzugehen, auf die wir keinen Einfluss haben. Der Weg des nagomi zeigt uns, dass unser Dasein komplex ist und dass wir die Mehrdeutigkeiten und das bisweilen beängstigende Auf und Ab des Lebens akzeptieren müssen.

Nagomi heißt anzuerkennen, dass alles auf der Welt vergänglich ist. Nichts ist von Dauer, ganz gleich, wie mächtig und beständig es erscheinen mag. Selbst Gebäude aus Stein halten nicht ewig. Das erneute Errichten des Ise-Schreins alle zwanzig Jahre stellt den Versuch dar, angesichts der Flüchtigkeit der Natur etwas einigermaßen Permanentes zu erschaffen.

Alle zwanzig Jahre werden die Gebäude des Schreins sorgfältig zerlegt und mit frischem Holz auf genau dieselbe Weise wiederaufgebaut. Die derzeitigen Bauwerke stammen aus dem Jahr 2013, der nächste rituelle Neubau wird 2033 stattfinden. Den Aufzeichnungen zufolge vollzieht sich dieser Prozess seit 1200 Jahren – mit gelegentlichen Unterbrechungen aufgrund von Kriegen oder gesellschaftlichen Unruhen.

Den Schrein alle zwanzig Jahre zu rekonstruieren, erfordert sorgfältige Überlegungen und Vorbereitungen. Die Hinoki-Bäume (japanische Zypresse) beispielsweise, aus denen die Balken für den Schrein gefertigt werden, muss man Jahrzehnte im Voraus anpflanzen. Zu diesem Zweck verfügt der Ise-Schrein überall im Land über Hinoki-Schonungen. Manche der Holzbalken müssen eine bestimmte Länge haben und lassen sich nur aus Zypressen herstellen, die älter als zweihundert Jahre sind. Um den Wiederaufbau des Schreins über einen derart langen Zeitraum sicherzustellen, sind umfassende Planungen und die kontinuierliche Pflege der Hinoki-Pflanzungen nötig.

So bleibt der Ise-Schrein ewig jung – oder tokowaka –, auch wenn sich das Material, aus dem er besteht, ständig verändert. Tatsächlich kann der ehrwürdige Schrein seine strahlende Jugend gerade deswegen bewahren, weil er sich immer wieder von seiner älteren Inkarnation verabschiedet.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, beim Ise-Schrein ginge es darum, den Eindruck ewigen Jungseins zu erwecken, indem das Alte durch das Neue ersetzt wird, sodass Letzterem der größere Wert zukommt. Doch der Prozess spiegelt auch das Bewusstsein, dass alles Neue unweigerlich alt wird. Bei der Neuerrichtung des Schreins alle zwanzig Jahre wird das Holz des alten Gebäudes, das noch robust und brauchbar ist, aufgehoben. Es wird abgeschliffen und bearbeitet, um für den Bau kleinerer Schreine rund um das Hauptgebäude verwendet zu werden. Das Holz wird seiner ehrwürdigen Herkunft entsprechend mit Respekt und größter Sorgfalt behandelt.

Auch wenn der Ise-Schrein nach außen hin ewig jung erscheint, steht er zugleich dafür, dass auf dieser Welt nichts unvergänglich ist. Im ersten Moment mag es paradox klingen, dass Japan als eine Nation, die sich dem mono no aware (»Pathos der Dinge«) verschrieben hat, der Kunst, die Flüchtigkeit des Lebens zu schätzen, einige der ältesten und beständigsten Institutionen der Welt vorzuweisen hat. Das Bauunternehmen Kongō Gumi beispielsweise wurde im Jahr 578 gegründet und existiert noch heute, wenn auch inzwischen als Teil eines größeren Konzerns. Japan ist auch das Land mit der ältesten ununterbrochenen Erbmonarchie der Welt. Der gegenwärtige Kaiser Naruhito ist bereits der 126. Inhaber des Chrysanthementhrons. Fast scheint es, als wäre die Akzeptanz der Vergänglichkeit das entscheidende Kriterium für die Langlebigkeit von Unternehmen und Monarchien. Der Schlüssel besteht darin, in Anerkennung des unvermeidlichen Wandels den Nagomi-Weg zu beschreiten.

Nun könnte natürlich jemand, der im Leben nagomi erlangt hat, immer noch Angst vor dem Sterben haben. Doch wir können auch mit unserer eigenen Sterblichkeit nagomi erreichen, wenn wir eine friedliche und harmonische Beziehung zu den Verstorbenen aufrechterhalten. In den meisten japanischen Haushalten findet sich ein sogenannter butsudan, ein buddhistischer Altar, der dem Andenken an verblichene Angehörige gewidmet ist und dazu dient, nagomi mit den Toten oder dem Tod allgemein herzustellen.

Ein butsudan ist meist poliert und mit aufwendigen Schnitzereien verziert, und in seinem Inneren werden Erinnerungsstücke an die Verstorbenen und buddhistische Kultgegenstände aufbewahrt. Meist gehören Senko-Räucherstäbchen dazu, deren duftender Rauch die Seelen der Toten nähren soll. Bringt ein Besucher Geschenke wie Süßigkeiten oder Obst mit, dann legt man diese zunächst als symbolische Opfergaben in den schrankähnlichen Hausaltar, um mit den Verstorbenen in Kontakt zu bleiben, denn solange man ihr Andenken pflegt, sind sie nicht richtig tot – so der Gedanke dahinter. Der butsudan und die mit ihm verbundenen Rituale dienen dazu, gestorbene Angehörige im Gedächtnis zu behalten.

Im Shintō – der japanischen Entsprechung des Buddhismus – werden Menschen nach ihrem Tod zu Göttern. Mit der westlichen Vorstellung eines allmächtigen Gottes als Schöpfer des Universums hat das wenig gemein. In Japan sind die Götter weitaus menschlicher. Eigentlich sind sie nicht mehr als verstorbene menschliche Wesen, die jedoch einen großen Einfluss auf unser Dasein haben. Jede dieser Gottheiten verkörpert eine Art von nagomi mit dem Tod.

Wenn jemand stirbt, kann er oder sie als Gott anerkannt und in einem Shintō-Schrein verehrt werden. Die göttlichen Namen, die die Verblichenen erhalten, spiegeln ihre Individualität zu Lebzeiten wider – ihre Persönlichkeit, ihre Lebensleistung und ihre Lieblingsgeschichten. Indem man ihnen göttliche Namen gibt, stellt man nagomi mit den Toten her und hält gleichzeitig das Andenken an sie lebendig.

Tokugawa Ieyasu (1543  1616), der Samurai-Krieger, der Japan in den Wirren der Sengoku-Zeit vereinigte und den Grundstein für das Tokugawa-Shogunat (1603  1868) legte, wurde nach seinem Tod zu der Gottheit Tōshō Daigongen (tōshō bedeutet »östliches Strahlen« und bezieht sich darauf, dass Ieyasu Tokio zur neuen Hauptstadt machte und damit dem Osten Japans Glanz verlieh; Daigongen ist ein Ehrentitel). Sugawara no Michizane, ein Aristokrat des Mittelalters (845  903), war zwar ein herausragender Gelehrter und Dichter, starb jedoch im Exil, nachdem er aufgrund einer Intrige eines Rivalen bei den Herrschern in Ungnade gefallen war. Nach seinem Tod wurde er zu Tenjin (wörtlich: »Gott des Himmels«), da man glaubte, sein wütender Geist hätte in Kyoto (der damaligen Hauptstadt Japans) ein heftiges Gewitter und damit einen Brand ausgelöst, bei dem einige der Leute starben, die Michizane in die Verbannung geschickt hatten. Im Laufe der Jahre wurde Tenjin zum Schutzgott der Gelehrten, worin sich Michizanes Lebensleistung widerspiegelt. In der japanischen Tradition dient der Name eines Gottes also dem Andenken an eine besondere Persönlichkeit, die kurz auf dieser Erde weilte und dann verstarb, so wie es uns allen unweigerlich ergeht.

Einmal hatte ich in Takachiho, im Süden Japans, eine interessante Begegnung mit einem jungen Shintō-Priester. Laut einer Legende sollen die japanischen Urgötter in Takachiho vom Himmel gestiegen sein, weshalb die bergige Region als Heimat der Götter gilt. Mein kurzes Gespräch mit dem eifrigen Priester fand während eines Besuchs dieses historisch bedeutsamen Ortes statt und stellte eine wahre Erleuchtung dar, weil es mir das Wesen der japanischen Gottheiten erstmals richtig vor Augen führte.

Wir standen vor der Amano-Iwato-Höhle (»Himmelstor«), wo sich der Mythologie zufolge die Sonnengöttin Amaterasu, Urmutter aller japanischen Götter, einst zeitweilig versteckt hielt. Ihr Bruder, der wilde und grausame Susanoo, hatte eine Reihe von Gräueltaten begangen, und Amaterasu konnte es nicht länger mitansehen. Sie zog sich in die Himmelstor-Höhle zurück, woraufhin die ganze Welt in tiefste Finsternis gehüllt wurde. Dies ist metaphorisch zu verstehen, auch wenn manche Gelehrte es für einen Verweis auf eine totale Sonnenfinsternis in grauer Vorzeit halten. Jedenfalls sorgte Amaterasus Verschwinden für allgemeine Unruhe unter den Göttern, weil ohne sie das Leben nicht mehr seinen gewohnten Gang ging. Sie versuchten deshalb, die Sonnengöttin mit fröhlicher Musik und Tanz wieder aus der Höhle hervorzulocken. Neugierig öffnete Amaterasu das Himmelstor ein Stück weit – und blickte in einen Spiegel namens Yata No Kagami, der draußen aufgestellt worden war (und der noch heute zu den drei heiligen Schätzen des Kaiserhauses gehören soll, auch wenn niemand, nicht einmal der Kaiser selbst, ihn je zu Gesicht bekommen hat). Bezaubert von ihrem eigenen Spiegelbild, verharrte Amaterasu kurzzeitig verwirrt. Die Götter machten sich dies zunutze, um sie aus der Höhle hinauszuführen. Und so wurde die Welt wieder erhellt.

Diese Geschichte erzählte der junge Priester mir und den anderen Besuchern der Höhle. Eigentlich handelte es sich eher um einen touristischen als um einen religiösen Vortrag, doch der Geistliche, der vermutlich frisch von der Shintō-Schule kam, erklärte alles mit großer Begeisterung.

Er schloss fast beiläufig mit den Worten: »Dies ist die Geschichte der Göttin Amaterasu. Zu ihren Lebzeiten besaß sie sicherlich auch einen menschlichen Namen, den wir jedoch nicht kennen. Vielleicht war es Himiko (so hieß eine berühmte Königin im alten Japan) oder ein anderer Name.«

Damit verneigte er sich und ging. Ich war zutiefst ergriffen von dieser Enthüllung und konnte mich einen Moment lang nicht von der Stelle rühren. Ich hatte das Gefühl, einen wichtigen Grundsatz der Shintō-Philosophie erstmals wirklich verstanden zu haben.

Dass Gottheiten gemäß ihrem Menschendasein benannt wurden, hatte ich auch vorher schon gewusst. Bis zu jenem schicksalhaften Tag war mir jedoch nicht klar gewesen, dass dies auch auf Amaterasu zutreffen könnte, die wichtigste Göttin der japanischen Mythologie. Wie der junge Shintō-Priester erwähnte, hatte Amaterasu mit großer Wahrscheinlichkeit einmal einen menschlichen Namen besessen, der dann jedoch in Vergessenheit geriet. Nach dem Tod dieser bezaubernden Frau gab man ihr den Namen Amaterasu, was wörtlich »strahlender Himmel« bedeutet. Zu ihren Lebzeiten muss sie also eine Person gewesen sein, die die Menschen in ihrem Umfeld glücklich gemacht und Licht in ihre Herzen gebracht hat. Deswegen wurde es so dunkel auf der Welt, als sie sich in die Höhle zurückzog. Amaterasu war der passende Name für das Andenken an diesen wunderbaren Menschen!

Heutzutage wird nur noch selten jemand zu einer Gottheit erklärt, auch wenn es weiterhin ein buddhistischer Brauch ist, den Verstorbenen einen kaimyo zu geben, einen posthum verliehenen buddhistischen Namen. Im butsudan werden Gedenktafeln angebracht, auf denen die kaimyo der verstorbenen Angehörigen verzeichnet sind. Dass sich Familienmitglieder und enge Freunde auf diese Weise innig an jemanden erinnern, bedeutet, dass trotz der Unausweichlichkeit des Todes nagomi möglich ist. Ähnliches gibt es auch in anderen Kulturen, zum Beispiel wenn Verstorbenen eine Parkbank gewidmet wird, wenn man ihr Grab besucht oder sich Fotos von ihnen anschaut. Diese Arten des liebevollen Andenkens stellen das ultimative nagomi des Lebens dar.