Sechs

Was die Mission noch kennzeichnete, waren die vielen Weißen dort. Die Weißen auf der Mission waren außergewöhnliche Weiße, wie meine Großmutter mir erklärt hatte, denn sie waren Heilige. Sie waren nicht gekommen, um zu nehmen, sondern um zu geben. Sie waren für Gott hierher ins dunkelste Afrika gekommen. Sie hatten den Komfort und die Sicherheit zu Hause aufgegeben, um zu uns zu kommen und Licht in unsere Dunkelheit zu bringen. Es war ein großes Opfer, das sie brachten. Es war ein Opfer, das ihnen unsere Dankbarkeit sicherte, das sie nicht nur uns überlegen machte, sondern auch den anderen Weißen, die nur aus Abenteuerlust hier waren und sich an unseren Smaragden bereichern wollten. Die Selbstaufopferung und brüderliche Liebe der Missionare blieb nicht unbelohnt. Wir behandelten sie wie kleine Götter. Mit der selbstbewussten Würde, die den Weißen damals so leichtfiel, akzeptierten sie diese Statusaufbesserung.

Heute gibt es weniger weiße Leute auf der Mission. Man nennt sie expatriates und nicht Missionare, und sie wohnen in ungetünchten Ziegelhäusern. Aber sie werden genauso vergöttert wie die Missionare, denn sie sind weiß, und ihr Kommen ist weiterhin eine Ehre. Man hat mir gesagt, dass man expatriate oder Missionar genannt wird, je nachdem, von wem man rekrutiert wurde. Obwohl diese Information aus zuverlässiger Quelle stammt, überzeugt sie mich nicht, denn ich habe im Umgang mit diesen Menschen keinen Unterschied beobachten können. Oft frage ich mich, wieso sie kommen und die Bequemlichkeit und Sicherheit ihres fortschrittlichen Heimatlandes aufgeben. Das führt uns wieder zur Frage der brüderlichen Liebe, der Anteilnahme und der Erhellung diverser Dunkelheiten zurück.

Doch damals – und Sie müssen bedenken, dass ich damals sehr jung war, sehr jung und sehr entschieden in meinem Wunsch, alle überlegenen Leute auf der Mission zu bewundern und zu achten –, damals mochte ich die Missionare, besonders die jüngeren. Sie hatten glatte, gesunde, sonnengebräunte Haut. Sie nahmen mir den größten Teil, wenn nicht den ganzen Abscheu vor den Weißen, der von der papierhäutigen Doris und ihrem blässlichen, braungesprenkelten Ehemann herrührte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich die Weißen nicht so liebte, wie es sich geziemte. Also tat es gut, die gesunden jungen Missionare zu sehen und zu entdecken, dass manche Weiße so schön waren wie wir. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis mir klar wurde, dass sie in Wirklichkeit schöner waren, und nun konnte ich sie lieben. Weil es auf der Mission so viele Weiße gab, hatte ich viel mit ihnen zu tun, aber ihr Verhalten blieb schwer verständlich für mich. Mir fiel schon bald auf, dass manche Missionare sehr seltsam waren, so seltsam wie Nyasha und Chido, als sie aus England zurückkamen. Diese Missionare, die seltsamen, sprachen lieber Shona als Englisch. Und wenn man sein Englisch üben wollte und sie Englisch ansprach, antworteten sie immer auf Shona. Es war enttäuschend und verwirrend für Leute wie mich, die zweisprachig waren, denn wir hatten den Reflex entwickelt, mit Weißen Englisch zu sprechen, während wir unsere eigene Sprache für unseresgleichen reservierten. Die meisten Kinder dieser Missionare, die Kinder der seltsamen, sprachen überhaupt kein Englisch, bis sie es in der Schule lernten wie wir, denn ihre Eltern schickten sie auf die Missionsschule zu allen anderen. Ich fragte mich oft, wie sie zurechtkommen würden, wenn sie nach Hause zurückgingen und sich nicht mehr wie Afrikaner benehmen durften.

Doch waren nicht alle Missionare so. Der andere Typ, und das war die Mehrheit, war um einiges normaler. Sie sprachen ungehemmt Englisch und schickten ihre Kinder auf die Regierungsschulen in der Stadt, wo sie unter ihresgleichen waren. Diese Lösung war weniger schmerzhaft für die Kinder, dafür aber umso mehr für die Eltern, denn die Regierungsschulen repräsentierten all das, wogegen die Missionare predigten. Wir führten lange Diskussionen darüber: Welcher Missionar war der bessere – der seine Kinder auf die Regierungsschule schickte oder derjenige, der sie auf die Missionsschule schickte?

Es gab ein Missionarskind von der letzteren, seltsamen Art an unserer Oberschule. Sie hieß Nyaradzo, ein schöner Name, der für mich poetisch klang: Er klang beruhigend. Nyaradzo war so alt wie Nyasha und ich. Sie und Nyasha waren große Freundinnen, und wenn Nyasha auch sonst kaum Freundinnen hatte, war Nyaradzo ihr eine sehr gute Freundin. Es wurde mir erlaubt, aus dem Duo ein Trio zu machen, weil meine Normalität das Gleichgewicht nicht stören würde, nehme ich an.

Nyaradzo hatte zwei Brüder. Der eine, Brian, war ein Jahr älter als Nyaradzo, der andere, Andrew, drei Jahre jünger. Ich sah diese Jungen nur selten, denn sie gingen in Salisbury auf die Oberschule, obwohl sie die Grundschule auf der Mission besucht hatten. Nyaradzos Beschreibungen war zu entnehmen, dass es eine ganz besondere Schule war, ähnlich unserer Missionsschule, weißen und schwarzen Kindern zugänglich, sofern sie es wünschten. Aber andererseits war jene Schule sehr verschieden, denn es gab wenig schwarze Kinder und viele weiße dort. Die Vorstellung einer Schule der Weißen, die auch Schwarze besuchen durften, war seltsam, und seltsam war auch, dass es dort so wenige Schwarze gab. Nyaradzo erklärte dies mit den sehr hohen Schulgebühren, so dass nur Kinder dort hingehen konnten, deren Väter wohlhabend waren, und selbst wenn die Kinder es nicht wollten, wurden sie hingeschickt, weil die Väter es sich leisten konnten. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nie ein schwarzes Kind kennengelernt habe, das auf eine dieser Schulen gehen wollte. Außer natürlich Nyasha. Nyasha und ich diskutierten darüber. Wir waren uns einig, dass es auf diesen Schulen mehr »Leben« gäbe als auf der Mission, und »Leben«, wie wir das Wort als Jugendliche gebrauchten, war etwas sehr Gutes. Unter Leben verstanden wir Bücher und Spiele, Menschen und kulturelle Aktivitäten sowie etwas mehr Abstraktes – eine Lebendigkeit, die verschiedene Dinge, aufregende, interessante, nützliche, geschehen lassen würde. Dennoch wussten wir, dass wir nie eine gemischtrassige Schule besuchen würden, denn Babamukuru machten schon die hohen Schulgebühren für Chido zu schaffen. Nyasha hielt dies für einen geheimen Segen, denn das »Leben«, von dem wir sprachen, würde uns dort überholen, und wir müssten die Konsequenzen tragen. Sie äußerte sich nicht deutlich, was das für Konsequenzen waren, außer dass sie mir versicherte, sie würden folgen; und ich drängte sie nicht, denn ich wäre trotz der Warnung gern auf eine gemischte Schule gegangen, und ich mochte das Gefühl von Ehrgeiz und Strebsamkeit, das mit diesem Wunsch einherging.

Chido war in der sechsten Klasse, als Babamukuru aus England zurückkehrte. Das bedeutete, dass er im nächsten Jahr auf die höhere Schule musste. Babamukuru hatte zwar vorgehabt, ihn auf der Mission zu behalten, damit die nicht-afrikanischen Einflüsse, denen er in England ausgesetzt gewesen war, ausgeglichen würden, doch Mr. Baker, Nyaradzos Vater, verschaffte Chido die Möglichkeit, die Aufnahmeprüfung an der Schule seines Sohnes abzulegen. So entschlossen war dieser gute Missionar, dass Chido die bestmögliche Ausbildung genießen sollte, dass er meinen Cousin selbst mit dem Auto zur Prüfung nach Salisbury fuhr. Chido wurde zugelassen und erhielt ein Stipendium, was niemanden überraschte, denn damals waren die Weißen großzügig vielversprechenden jungen Schwarzen gegenüber, die sich friedlich verhielten und dankbar zu akzeptieren bereit waren, was ihnen zugeteilt wurde, und nicht mehr zu verlangen. Nyasha war sicher, dass Mr. Baker seinen Einfluss geltend gemacht hatte. Um sein Gewissen zu beruhigen. »Nur ein Wort zum Schuldirektor«, sagte sie mir, als Nyaradzo nicht anwesend war, »du weißt, wie es ist, von Bwana zu Bwana: (Der Junge braucht das Geld, alter Knabe!) – Ein braver Junge, wie? Wäre schade um ihn. Mal sehen, was sich tun lässt.) Also erhält Chido sein Stipendium, und Mr. Baker hat ein besseres Gewissen, dass er seine Jungen dort hingeschickt hat. Was die alles erfinden, um uns den Blick zu verschleiern. Wirklich!« Nyashas Analyse leuchtete mir ein, denn Babamukuru missbilligte europäische Gewohnheiten, bequeme Lösungen und unnötige Ausgaben. Ohne das Stipendium wäre Chido sicherlich nicht auf diese Schule gekommen, und die bessere Ausbildung seiner Söhne hätte das Gewissen von Mr. Baker belastet. Schließlich kam Chido auf das Internat, und als ich zur Mission kam, hatte er sich dort schon erstaunlich gut eingewöhnt. Er hatte die höfliche, selbstgefällige Art der Internatsschüler und war eng mit den Baker-Jungen befreundet. So sah ich ihn und die Baker-Jungen sehr selten, nur an ein paar Tagen am Anfang oder Ende der Ferien, denn ihre Ferien lagen anders als unsere.

Da Nyasha in jenem Jahr, meinem ersten Jahr auf der Mission, in die zweite Oberschulklasse ging, musste sie ihre erste Prüfung ablegen. Eigentlich war es schon ihre zweite, denn sie hatte die Abschlussprüfung der Grundschule bestanden, aber Nyasha, die in England an einem Programm zur Förderung begabter Kinder teilgenommen hatte, tat diese Prüfung ab. Außenstehende hätten es als Angeberei aufgefasst, als sie in typischer Selbstunterschätzung sagte, dass jeder normal gescheite Mensch diese Prüfungen bestehen könnte, selbst wenn er nur einmal die Woche zum Unterricht ginge. Die Prüfungen am Ende der zweiten Oberschulklasse seien etwas anderes, sagte sie. Sie setzten wirkliche Kenntnisse voraus, und es würde ausgesiebt.

So war es zumindest in der Theorie. Denn Nyasha brauchte sich als Tochter des Schuldirektors keine Sorgen zu machen, dass sie womöglich von der Schule abgehen müsste. Sie konnte es sich sogar erlauben, in Maßen schlecht abzuschneiden. Obwohl die Verwaltung die Zahl der Plätze in der dritten Klasse aus taktischen Gründen gering hielt und sie heftig umkämpft waren, würde der Schuldirektor schon einen Platz für seine Tochter finden. Und wenn sie vollkommen versagte, konnte er seinen Einfluss geltend machen, damit sie die Prüfung wiederholen konnte. Die Behörden schätzten Babamukuru als guten Afrikaner. Und es herrschte allgemein die Ansicht, dass gute Afrikaner auch gute afrikanische Kinder großzogen, die ebenfalls an nichts anderes dachten, als ihrer Gemeinschaft zu dienen. Also brauchte sich Nyasha keine Sorgen machen.

Nyasha fand einiges an dieser Situation amüsant. Sollte Babamukuru sich mit solchen Mitteln Vorteile verschaffen, würde er nicht mehr als guter Afrikaner gelten, und wenn ihm auch die Kinder oder vielmehr ihre Ausbildung wichtig waren, so bedeutete ihm seine Ehre noch mehr. Boshaft drohte Nyasha damit, durch die Prüfung zu fallen, um den Konflikt zu beobachten oder, wie sie es ausdrückte, um die Reaktion ihres Vaters zu sehen. Doch jeder außer Nyasha wusste, dass sie zu allem in der Lage war, nur nicht zum Durchfallen. Sie arbeitete viel härter, als ich es je zuvor bei ihr gesehen hatte, schon früh morgens vor ihrer üblichen Aufstehzeit, so dass sie bis zum Frühstück bereits eine gute Stunde konzentrierten Lernens hinter sich hatte. Abends war es genauso: Um acht lag sie schon im Bett mit ihren Büchern, doch ging das Licht selten vor ein Uhr aus. Alle waren der Meinung, dass sie es übertrieb. Sie sah abgespannt aus und hatte den Appetit verloren, so dass an ihrem ganzen Körper die Knochen zum Vorschein kamen, aber sie schien es nicht zu bemerken. Maiguru bat mich, mit ihr zu reden, denn sie war dickköpfig und reagierte nicht sehr wohlwollend auf die Sorgen ihrer Mutter. »Diese lockeren Verbindungen!«, lächelte Maiguru liebevoll, rollte mit den Augen und gestikulierte so deutlich mit den Händen, dass es nicht schwerfiel, zu erkennen, was in Nyashas Kopf vorging.

Als ich Nyasha sagte, sie arbeite übertrieben viel, gestand sie mir ihre Nervosität. »Als müsste ich alles lernen und könnte es nie schaffen. Also muss ich immer mehr lesen und es mir einprägen, lesen und es mir einprägen. Um sicher zu sein, dass ich mir auch alles merke.« Sie warf mir einen ihrer Blicke zu. »Ich weiß, dass es nicht so schlecht steht, aber ich bilde es mir ständig ein. Ich kann nichts dagegen tun. Wenn ich nur für eine Minute pausiere, fange ich an, mir Sorgen zu machen.« Also versuchte ich, so oft wie sie es nur zuließ, mit ihr zu reden, um sie von den Prüfungen abzulenken. Ich weiß, ich habe gesagt, dass sich alle Sorgen über Nyashas Prüfungsängste machten, aber das stimmte nicht ganz. Babamukuru war vom Fleiß seiner Tochter beeindruckt. »Also gibt es für sie noch Hoffnung«, bemerkte er zufrieden. »Wenn sie beschließt, es ernst zu nehmen, arbeitet sie sehr gut, wirklich sehr gut.«

Nyasha bestand natürlich mit den besten Noten und dem besten Durchschnitt der gesamten Schule, aber wir erfuhren dies erst am Ende der Weihnachtsferien. Auf diese Ferien freute ich mich mehr als sonst. Denn obwohl es schön war, wieder zu Hause bei meiner Mutter zu sein, ging ich immer ungern von der Mission und all meinen Freundinnen und Nyasha fort. Aber es waren die Weihnachtsferien. Babamukuru und seine Familie kamen mit nach Hause, und Babamukuru hatte mir großzügigerweise erlaubt, auf der Mission zu bleiben, bis wir alle an Weihnachten nach Hause führen.

Das hatte viele Vorteile. Nicht nur konnte ich länger auf der Mission bleiben und mit meinen Verwandten nach Hause fahren, so dass es keine traurigen Abschiede gab, sondern ich hatte auch die Möglichkeit, Chido öfter zu sehen. Chido war groß, athletisch und hübsch. Er wusste einen so zu necken, dass man kichern musste und ein Kribbeln verspürte, rot wurde und jeden Augenblick genoss. Ich freute mich darauf, von meinem Cousin geneckt zu werden und ihn so albern zu necken wie andere Mädchen auch. Wenn sich mir nur nicht die Zunge verknotete!

Nyasha war mit ihren Prüfungen fertig, als Mr. Baker seine Söhne und Chido nach Hause brachte. Sie hatte wieder Appetit und schlief nachts friedlich fünf bis sechs Stunden, statt sich nur drei bis vier Stunden unruhig herumzuwälzen wie zur Zeit der Prüfungen. Sie lachte auch über sich selbst, über den von ihr verursachten Wirbel, und entschuldigte sich damit, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Wichtiges habe tun müssen, etwas, das ernste Folgen hatte. Sie zählte die Punkte zusammen, die sie wahrscheinlich erzielt hatte, und gab zu, sie könnte es vielleicht gerade so geschafft haben. Merkwürdig, wie sehr Nyashas Laune uns alle beeinflusste. Die Stimmung im Haus war während der Prüfungszeit trostlos gewesen, aber als Chido nach Hause kam, waren wir alle viel fröhlicher.

Das Wochenende, an dem Chido nach Hause kam, war das letzte des Schultrimesters. Zur Feier organisierte die Schülervertretung eine »rasante« Weihnachtsfeier in der Beit Hall. Wir drei gingen hin, Nyasha, Chido und ich; Nyasha hatte schon Tage davor leuchtende Augen und freute sich überschäumend darauf, denn sie liebte rauschende Feste, die es so selten gab. An dem Abend des Fests schmollte sie ein wenig, denn als sie angezogen und geschminkt vor der Hintertür auf uns wartete, erkannte Babamukuru sie nicht. Er hielt sie für irgendein Mädchen, das gekommen war, um nach einem Platz in der Schule zu fragen. Er verstand nicht, warum das fremde Mädchen dann darauf beharrte, seine Tochter zu sein. Als er endlich davon überzeugt war, äußerte er sich missbilligend. Er wollte wissen, wohin seine Tochter in diesem gottlosen Aufzug zu gehen gedenke, und sagte ihr, sie werde nirgendwohin gehen – egal, was sie sich einbilde. Dann erschien Maiguru und fragte Babamukuru in aller Unschuld, ob er nicht stolz auf seine gutaussehende Tochter wäre. »Ich habe ihr das Kleid gekauft, weil sie so hart für ihre Prüfung gearbeitet hat«, sagte Maiguru strahlend und brachte es fertig, weiter zu strahlen, als ihr Mann sie zaghaft beschuldigte, die Moral ihrer Tochter aufs Spiel zu setzen. Chido und ich nahmen das alles nicht ernst, weil Nyasha sehr attraktiv aussah, und genau dagegen, sagten wir, hatte Babamukuru etwas. Wir lachten darüber und neckten sie: »Es ist deine Schuld. Was erwartest du auch, wenn du dich so auftakeln musst?« – »Pass auf, in der Beit Hall fressen dich die Jungen gleich bei lebendigem Leibe auf.« Man sah sie sich fragen, ob sie darüber böse sein oder es als Kompliment nehmen sollte. Schließlich nahm sie es als Kompliment und stimmte in unser Gelächter ein, woraufhin Chido wieder ernst wurde und zu ihr sagte, Babamukuru habe recht – sie solle aus ihrem bisschen Anstand das Beste machen. Der arme Chido! Ich glaube, er fühlte sich verpflichtet, die Tradition auf die normale, unreflektiert männliche Weise fortzuführen, denn als wir uns weigerten, uns ihm unterzuordnen und ihn stattdessen auslachten, wurde er wieder der liebenswerte Chido, den wir kannten.

Unter solchem Geplänkel gingen wir die Auffahrt hinunter und über die Landstraße, an deren Rand die blassen Bauhinias wie Geister im Mondlicht leuchteten (was mich in einer weniger fröhlichen Stunde furchtsam gemacht hätte), bis zur Beit Hall hinauf, wo der Krach von elektrischen Gitarren und Schlagzeug aus einer alten Musikanlage mit geringer Klangtreue weitere Gespräche sinnlos machte. Wir eilten hinein, zu den Lichtern, der Musik, den tanzenden Leuten.

Ich habe gesagt, dass ich nicht oft zu dieser Tanzveranstaltung ging. Ich zog Diskussionen und Filmshows vor, wo ich mich still auf das Geschehen konzentrieren konnte; die Tänze, der Lärm und die bewegte, wirbelnde und brodelnde Masse waren strapaziös. Ich war nicht wie Nyasha, die so vollständig vergessen konnte, wo sie war, dass sie tun konnte, wonach ihr der Sinn stand, und dies gewöhnlich auch tat. Ich war mir immer meiner Umgebung bewusst. War die Umgebung neu und ungewohnt, so nahm ich das schmerzhaft deutlich wahr und benahm mich sehr seltsam. In solchen Momenten wollte ich so sehr verschwinden, dass ich praktisch aufhörte zu existieren. Leute, die mich in einem solchen Zustand erwischten und das Pech hatten, mit mir sprechen zu müssen, bekamen aus mir nicht mehr heraus als ein liebenswürdiges Grinsen oder eine Folge von Banalitäten, die nicht einmal als anspruchslose Konversation gelten konnten. Solche Gespräche waren eine unangenehme Erfahrung für mich wie für diejenigen, mit denen ich redete. Ich weiß nicht, wie ich in diese Verfassung geriet. Falls Sie sich noch daran erinnern – daheim, bevor ich zur Mission kam, wusste ich mich durchaus zu behaupten und konnte den Leuten sagen, was ich auf dem Herzen hatte. Trotz meiner Erfolge und meiner guten Eingewöhnung war der Wechsel also wohl so drastisch, dass er mich aus dem Gleichgewicht warf. Jedenfalls bewegte ich mich nun tastend vorwärts. Der Tanzabend wurde zu einer Qual.

Während der ersten zehn Minuten war ich sicher, es würde schrecklich werden. Als wir eintraten, warf die Musik meinen ganzen Körper aus der Bahn, von den Haaren bis zu den Zehenspitzen. Es musste etwas zu tun haben mit den Frequenzen, die gerade in diesem Song vorherrschten, denn es fühlte sich an, als tollten mehrere hundert Volt durch meine Nervenenden. In der Ferne nahm ich Nyaradzo und ihre Brüder wahr – wehende Haare, grinsende Zähne in verschwommenen Gesichtern und ausgestreckte Hände, die auf uns zusteuerten. Als ich mich erholt hatte, war ich allein. Andy, der Nyasha in Beschlag genommen hatte, zuckte mit den Schultern und stampfte in enthusiastischem Kontrast zu ihren wellenförmigen Bewegungen mit den Füßen auf. Nyaradzo und Chido schwebten rhythmisch und ruhig dahin, während Brian, der begriffen hatte, dass ich keine Draufgängerin war, allein neben ihnen tanzte. Als ich Jocelyn und Maidei am anderen Ende des Saales sah, taumelte ich zu ihnen herüber, wandt mich zwischen rhythmusbewussten Körpern hindurch und konnte nur knapp mein Augenlicht retten, als ein energischer, sportlicher Tänzer in der Luft nach dem Rhythmus schnappte. Ich schwitzte, als ich Jocelyn und Maidei erreichte, denn alle waren nass von ihren Anstrengungen, und im ganzen Saal war es heiß und feucht geworden. Aber ich war froh, meine Freundinnen gefunden zu haben. Sie waren ebenso überrascht wie ich, mich bei einer solchen Zusammenkunft anzutreffen, und beschützten mich vor allem, was an bedrohliche Orgien grenzte. Wir tanzten besonnen als Gruppe, lachten und zeigten auf heterosexuelle Paare, die sich skrupellos eng aneinanderschmiegten. In der Sicherheit dieser Gruppe konnte ich der Musik zuhören und fand sie absolut ansteckend. Meine Füße begannen von selbst zu rutschen, zu gleiten, zu stampfen. Mein übriger Körper folgte. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass ich recht gut tanzen konnte. Ich musste damit angeben. Ich huschte zu Nyasha und Andy hinüber, führte ein paar schwierige Schritte vor und tanzte weiter zu Nyaradzo, Chido und Brian.

Danach tanzte ich mit Hunderten von Leuten. Drei junge Männer kamen zu mir und sagten, ich gefiele ihnen, aber ich hörte heraus, dass sie in Wirklichkeit nur sich selbst gefielen. Der gesellige Teil von mir kam auf seine Kosten, und ich amüsierte mich prächtig, aber um zehn Uhr war ich so erschöpft, dass ich nur allzu gern aufbrach, als Chido mich rief. Nyasha wollte wie üblich noch einmal von vorn anfangen und die ganze Nacht durchtanzen. Widerwillig riss sie sich los, und Andy brachte sie heim, oder besser gesagt: tanzte sie heim, denn sie machten unterwegs Luftsprünge und Kapriolen und jodelten. Oben an unserer Auffahrt fiel es Andy dann ein, dass es da noch einen neuen Tanz gab, den er nun Nyasha beibringen musste, und Nyasha fand, sie würde nicht schlafen können, wenn sie ihn nicht sofort lernte. Chido und ich warteten eine Weile darauf, dass sie mit dem Gekichere, dem Herumtanzen, den missglückten Schritten und dem Wieder-ganz-von-vorne-Anfangen aufhörten. Andy wollte den Tanz auch uns beibringen, aber Chido wurde ungeduldig. »Nein, macht jetzt Schluss«, sagte er.

»Ich hab’s gleich«, rief Nyasha, machte aber einen Fehler und musste die Schrittfolge erneut beginnen.

»Wir könnten schon mal reingehen«, schlug ich vor, denn meine Füße schmerzten von der ungewohnten Betätigung.

»Können wir nicht«, wandte Chido ein. »Die Lichter im Wohnzimmer sind an. Daddy ist immer noch auf.«

»Dann lass uns langsam zum Haus gehen.« Ich war begierig, ins Bett zu kommen.

Am Ende der Auffahrt wurde uns das Warten zu lang, und wir guckten gerade durch die Vorhänge des Wohnzimmers, um nachzuschauen, ob Babamukuru dort war, als er die Vorhänge etwas auseinanderzog und hinausblickte. Natürlich duckten wir uns sofort und zogen uns zurück, verkniffen uns das Lachen und gratulierten einander, dass wir so viel Glück gehabt hatten. Natürlich sah uns Babamukuru und schob die Hintertür auf. »Was macht ihr Kinder da?«, fragte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Kommt her, sofort herein mit euch«, befahl er. Schüchtern traten wir ein und wünschten uns, Nyasha käme gleich nach, denn noch war Babamukuru nicht verärgert, doch unsere Hoffnung sank, als wir sie weit oben an der Auffahrt jauchzen hörten.

»Ihr Kinder habt nur Unsinn im Kopf«, sagte mein Onkel freundlich und begann die Tür zu schließen, »so spät in der Nacht noch draußen! Ts! So benehmen sich anständige Kinder nicht. Aber wo ist denn Nyasha?« Nun hatte er ihre Abwesenheit bemerkt.

»Sie kommt gleich«, antwortete Chido knapp. »Gute Nacht, Daddy«, sagte er und wollte in sein Zimmer verschwinden, aber Babamukuru ließ das nicht zu.

»He, Chido! Willst du mir etwa sagen, dass du deine Schwester einfach da draußen allein gelassen hast? Sie machen lässt, was sie will?«

»Nein, Daddy«, antwortete Chido entwaffnend. »Sie ist oben an der Auffahrt und spricht noch mit Nyaradzo. Sie wird gleich kommen.«

Babamukuru ging ohne ein weiteres Wort aus dem Haus. Wir flohen auf unsere Zimmer. Dann hörte ich meinen Onkel ins Wohnzimmer zurückkommen und sich wieder um seine Papiere kümmern. Zehn Minuten später spazierte Nyasha herein, bald danach von Babamukuru gefolgt, der so aufgeregt war, dass er ohne zu klopfen hereinmarschierte. Ich war froh, dass ich unter der Bettdecke lag und nicht noch beim Ausziehen war. Nyasha stopfte ihre Strumpfhose, die sie gerade ausgezogen hatte, unter das Bett und zog ihr Kleid nach unten, was bei der Kürze ihres Kleides kaum möglich war. Sie schauten sich an.

»Ah, Nyasha«, begann Babamukuru, »kannst du mir sagen, wieso du so spät nach Hause kommst?« Er sah sie so prüfend an, als hätte er eine eigensinnige Bilanz vor sich, die sich nicht ausgleichen lassen wollte.

»Es tut mir leid, Daddy«, sagte Nyasha. »Ich hab noch mit ein paar Freundinnen geredet.«

»Haben Chido und deine Cousine etwa keine Freunde, mit denen sie gern reden?« fragte er logisch nach. »Was für Freundinnen sind das, dass du die halbe Nacht mit ihnen sprichst? Gute Freundinnen wüssten, dass es spät ist und Zeit, nach Hause zu gehen.«

Nyasha schwieg.

»Antworte mir, Mädchen«, verlangte Babamukuru. »Hörst du meine Fragen nicht? Haben die anderen keine Freunde?«

»Sie haben Freunde«, murmelte Nyasha schmollend.

»Wieso bist du dann die Einzige, die so spät heimkommt?«, fragte Babamukuru und gab sich selbst die triumphierende Antwort. »Du lügst. Du hast nicht mit deinen Freundinnen geredet. Du hast mit dem Baker-Jungen geredet. Ich habe es selbst gesehen. Ich habe euch gesehen! Was habt ihr gemacht?«

Nyasha gab nicht vollständig klein bei, was ein Fehler war: »Ich habe nur geredet. Und getanzt«, erklärte sie. »Er hat mir einen neuen Tanz beigebracht.«

Babamukuru war schockiert. »Was! Was sagst du da; du wagst es, mir die Ohren mit so einem Unsinn zu füllen! Tambudzai, geh aus dem Zimmer. Ich will diese Angelegenheit allein mit ihr regeln.«

»Ich habe nichts Schlechtes getan«, beharrte Nyasha.

Die Atmosphäre im Zimmer wurde immer feindseliger, Kommunikation fand kaum noch statt. Stimmen wurden laut und drohten sich zu überschlagen. Ich stieg aus dem Bett und wusste, dass ich etwas tun müsste, denn beide wollten offensichtlich Blut sehen. Ich weckte Maiguru und brauchte nicht viel zu erklären, denn man hörte sie noch am Ende des Korridors einander anklagen und Widerworte geben und bitter verurteilen. Maiguru stieg aus dem Bett, schlüpfte in Morgenrock und Hausschuhe, murmelte etwas über ihre Nerven und dass die Bewohner ihres Hauses sie noch zugrunde richten würden. Wir eilten zu Nyashas Zimmer und trafen auf dem Gang einen verärgerten und unsicheren Chido.

»Diese kleine Idiotin«, flüsterte er. »Wieso muss sie ihm immer widersprechen?«

»Kein anständiges Mädchen würde mit einem Jungen um diese Zeit in der Nacht draußen bleiben«, sagte Babamukuru in einem bebenden Tenor. »Aber du hast es getan, ich habe dich gesehen. Glaubst du, dass ich lüge, dass diese meine Augen lügen?«

Nyasha war unglücklicherweise immer noch ohne Reue. »Was willst du denn, dass ich sage?«, fragte sie. »Du willst, dass ich meine Schuld zugebe, oder? Gut. Ich habe es getan, was immer du dir vorstellst. So. Ich habe gestanden.«

»Sprich nicht so zu mir, Kind«, warnte sie Babamukuru. »Du musst mich respektieren. Ich bin dein Vater. Und in dieser Funktion sage ich dir, sage ich dir, dass ich es nicht mag, wie du dich immer mit diesen – ah – diesen jungen Männern herumtreibst. Heute mit diesem, morgen mit jenem. Was ist mit dir los, Mädchen? Wieso kannst du dich nicht wie eine junge Frau aus anständigem Haus benehmen? Was werden die Leute sagen, wenn sie sehen, wie Sigaukes Tochter sich aufführt?«

Ich vermute, dass Nyasha wirklich glaubte, die Konfrontation habe jetzt eine versöhnliche Wende genommen. Sie lächelte, um ihren Vater zu beruhigen, was die Anzahl ihrer männlichen Bekannten betraf. »Du kennst mich«, sagte sie zu ihm, aber da irrte sie sich natürlich. »Du hast mir beigebracht, wie ich mich benehmen muss. Ich kümmere mich nicht um das, was andere sagen, also sollte es dich auch nicht kümmern.« Sie kannte aber ihren Vater schlecht, denn jeder, der ihn kannte, hätte an dieser Stelle nachgegeben.

»Fordere mich nicht heraus«, flehte Babamukuru sie an. Chido nahm seinen ganzen Mut zusammen und versuchte ihr zu helfen. »Sie haben nur ein paar Minuten geredet, Daddy«, sagte er – und erhielt den Befehl zu schweigen.

»Du, Chido, hältst den Mund«, fuhr ihn Babamukuru an. »Du lässt es zu, dass sich deine Schwester benimmt wie eine Hure, ohne etwas zu sagen. Halte den Mund!«

»Babawa Chido«, begann Maiguru, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht.

Nyasha wurde in solchen Situationen untypisch ruhig. Sie stellte eine Frage: »Wieso sollte ich mich um die Meinung anderer kümmern, wenn mein eigener Vater mich eine Hure nennt?« Sie sah ihn mit einem mörderischen Blick an.

»Nyasha, sei still!«, beschwor sie Chido.

»Chido, ich habe dir schon gesagt, du sollst dich hier raushalten«, erinnerte ihn Babamukuru und gab Nyasha mit seinem ganzen Gewicht eine Ohrfeige. »Niemals«, rief er. »Niemals«, wiederholte er und schlug sie mit dem Handrücken auf die andere Wange, »darfst du so zu mir reden.«

Nyasha fiel aufs Bett; der Minirock war bis über ihr Hinterteil hochgerutscht. Babamukuru stand über ihr und rang mit bebenden Nasenlöchern nach Luft.

»Heute werde ich dir eine Lektion erteilen«, sagte er zu ihr. »Wie kannst du mir solche Schande bereiten? Mir! Einfach so! Nein, das kannst du nicht machen. Ich werde auf dieser Mission respektiert. Ich kann keine Tochter dulden, die sich wie eine Hure benimmt.«

Nyasha war durchaus imstande, darauf hinzuweisen, dass er so eine Tochter nach seiner eigenen Aussage schon hatte, aber sie tat es nicht. »Schlag mich nicht, Daddy«, sagte sie und wich zurück. »Ich habe nichts Schlechtes getan. Schlag mich nicht.«

»Yuwi, yuwi, yuwi!«, jammerte Maiguru. »Babawa Chido, willst du mich mit deinem Zorn umbringen? Sie ist nur ein Kind, Babawa Chido, ein Kind.«

»Du musst lernen zu gehorchen«, sagte Babamukuru und schlug sie erneut.

»Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht schlagen«, sagte Nyasha und stieß ihm die Faust ins Auge.

Babamukuru brüllte auf und schnaubte, er schwöre bei seiner Mutter, die in ihrem Grab ruhe, dass er, wenn Nyasha sich wie ein Mann benehmen wolle, mit ihr wie unter Männern kämpfen werde. Sie fielen auf den Boden. Babamukuru schlug abwechselnd auf Nyashas Kopf ein oder hämmerte diesen auf den Boden, schrie oder versuchte zu schreien, aber es kam nur ein Röcheln heraus, denn Wut erstickte ihn; er werde sie mit eigenen Händen umbringen, röchelte er; Nyasha schrie, wälzte sich umher und versuchte Schaden anzurichten, wo immer sie konnte. Maiguru und Chido konnten nicht länger zusehen. Sie mussten ihn aufhalten.

»Nein, Babawa Chido«, bat Maiguru flehend. »Wenn du unbedingt jemanden umbringen musst, dann bringe mich um. Aber nicht meine Tochter, lass sie in Ruhe. Bitte, ich flehe dich an, lass sie in Ruhe.«

Babamukuru wiederholte, er werde sie umbringen und sich dann erhängen. »Sie hat es gewagt«, sagte er, während ihm der Schweiß hinunterlief und seine Brust angesichts der Ungeheuerlichkeit bebte, »ihre Faust gegen mich zu erheben. Sie wagt es, mich herauszufordern. Mich! Ihren Vater. Ich sage euch«, und er begann sich zu winden, »den heutigen Tag wird sie nicht überleben. Wir können nicht zwei Männer in diesem Haus haben. Nicht einmal Chido, hörst du, Nyasha? Nicht einmal dein Bruder hier wagt es, meine Autorität anzuzweifeln. Hörst du, was ich sage, hörst du? Du kannst dich nur retten, wenn du mein Haus verlässt, für immer. Sonst«, er spuckte ihr ins Gesicht, denn er wurde immer noch festgehalten und konnte sie nicht schlagen, »sonst werde ich dich töten.« Er spuckte wieder. Nyasha stand vom Boden auf und ging aus dem Zimmer. »Sie geht! Sie geht einfach weg. Sie ist stolz. Das ist ihr Problem. Sie ist stolz. Pfui! Sis! Sie ist nicht meine Tochter.«

»Ja, Baba, wir haben es gehört«, besänftigte ihn Maiguru. Chido sagte nichts, hielt aber weiter seinen Vater fest.

»Nyasha«, sagte ich, als sie an mir vorbeiging, aber sie antwortete nicht. Ich folgte ihr zu den Räumen der Dienstboten, wo wir uns hinsetzten; sie zündete sich eine Zigarette an und hielt sie zwischen ihren zitternden Fingern, während ich mit ihr litt und daran dachte, wie grauenhaft bekannt mir die ganze Szene war – Babamukuru, der sie als Hure bezeichnete und so zum Opfer ihrer Weiblichkeit machte, genauso wie ich zu Hause zum Opfer wurde, als Nhamo zur Schule ging und ich Mais anpflanzte. Überall, sah ich nun, wurden Menschen zu Opfern gemacht. Es hing nicht von Armut ab oder von mangelnder Bildung oder von Tradition. Es hing von keinem der Dinge ab, in denen ich bisher den Grund gesehen hatte. Männer erzeugten Opfer, wohin sie auch gingen. Sogar Helden wie Babamukuru taten es. Und das war das Problem. Man musste zugeben, dass Nyasha taktlos war. Man musste zugeben, dass sie insgesamt zu launisch und dickköpfig war. Man konnte nicht übersehen, dass sie keinen Respekt vor Babamukuru hatte, obwohl sie großen Respekt hätte haben sollen. Aber was mir missfiel, war das Muster, nach dem sich alle Konflikte auf diese Frage der weiblichen Rolle reduzierten. Frau gegen Mann, Frau dem Mann untergeordnet.

Wäre ich in meinem Denken selbständiger gewesen, hätte ich die Sache zu Ende gedacht. Aber damals fiel es mir leicht, verwickelte Gedanken im Knäuel zu belassen, mit lose herabhängenden Fäden. Ich wagte mich nicht in das tückische Labyrinth, in das solche Gedanken meist führten. Ich wollte den Ausgang aus diesem Labyrinth nicht finden, denn ich wusste, dass ich dort mich finden würde, und fürchtete, mich nicht wiederzuerkennen nach all den verwirrenden Richtungswechseln der letzten Zeit. Ich hegte den Verdacht, nicht die Person zu sein, für die man mich hielt, und fasste das als Beweis dafür auf, dass ich irgendwo die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Um mich wieder auf den richtigen Weg zu bringen, flüchtete ich mich in die Rolle der dankbaren armen Verwandten. Das erleichterte alles ungemein. Es zeichnete mir klar die Wege auf, die ich gehen durfte, und wenn ich mich innerhalb dieser Grenzen hielt, konnte ich die verwirrende Begegnung mit mir vermeiden. So war es zumindest am Anfang auf der Mission. Aber mit meiner wachsenden Liebe zu Nyasha – Nyasha, die bei Widersprüchen gedieh und sie gerne so weit klärte, dass sie sich dem nächsten Problembündel widmen konnte, in der Hoffnung, grundsätzliche Lösungen zu finden – war ich gezwungen, mein Denken zu revidieren. Während ich mich in den Jahren, seitdem ich wieder zur Schule ging, damit zufriedengegeben hatte, Ereignisse an mir vorbeiziehen zu lassen, solange sie meinen Plänen nicht im Weg standen, erinnerte mich Nyashas Art, auf Herausforderungen zu reagieren, an meine Intensität und Entschlossenheit in jüngeren Jahren. Ich begann mich meiner erworbenen Lauheit zu schämen, erlaubte mir aber nicht, darüber nachzugrübeln oder auf schnellen Folgerungen zu bestehen. Ich fühlte mich im Schatten Babamukurus auf der Mission sicher und verstand nicht, wieso Nyasha dies als so bedrohlich empfand. Angenehm von Maiguru umsorgt und in der stimulierenden Gesellschaft Nyashas heranwachsend, glaubte ich, mir bliebe noch Zeit genug, bis ich entscheiden musste, was zu tun war. Ich hielt mich für weise, weil ich sparsam mit meinen Kräften umging und sie nicht vergeudete wie meine Cousine. Ich setzte es ihr auseinander: Konnte sie nicht noch etwas warten, ehe sie die Probleme aufwarf, die ihrer Meinung nach gelöst werden mussten? Aber sie meinte, sie werde die Probleme vergessen, wenn sie abwartete.

»Das kommt vor«, versicherte sie mir. »Man wird so bequem und gewöhnt sich an die Dinge, so wie sie sind. Schau mich an. Ich fühlte mich in England wohl, aber jetzt bin ich eine Hure mit schmutzigen Angewohnheiten.«

»Aber Nyasha«, setzte ich an.

»Ich weiß«, unterbrach sie mich, »Wir sind nicht mehr in England, und ich sollte mich anpassen. Aber wenn man unterschiedliche Dinge gesehen hat, möchte man sicher sein, dass man sich an das Richtige anpasst. Man kann sich nicht immer nach dem richten, was verlangt wird. Man muss eine Überzeugung haben, und meine besteht darin, dass ich nicht die Unterdrückte sein will. Keiner sollte unterdrückt sein. Aber wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, erscheint es einem natürlich und man findet sich damit ab. Und dann ist man am Ende. Gefangen. Sie kontrollieren dein ganzes Leben.«

Ich seufzte und wünschte mir, sie würde ihre Zigarette ausmachen, denn der Abend hatte schon genug Ärger gebracht. Es war alles sehr unangenehm, aber ich konnte nichts tun. Ich war froh, dass Chido zu uns stieß.

»Komm ins Haus zurück«, sagte er.

Nyasha wollte ihre Zigarette beenden, aber Chido war nervös und missbilligte es selbstverständlich, dass sie rauchte. Er nahm ihr die Zigarette ab und trat sie aus.

»Nyasha«, jammerte Maiguru von der Hintertür aus. »Chido, Chido. Hast du sie gefunden?«

»Sie kommt, Mum«, rief Chido zurück und half Nyasha auf die Beine. »Reg sie nicht noch mehr auf«, mahnte er sie. »Sie kann es nicht vertragen.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Nyasha weinerlich. »Kümmert es keinen, was ich vertrage?«

Natürlich dachten wir, sie schmolle.

»Du bist die Tochter«, teilte er ihr mit. »Es gibt ein paar Dinge, die du nie tun darfst.«

Maiguru stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als Nyasha ins Haus trat. Instinktiv streckte sie ihrer Tochter die Arme entgegen, aber die Tochter ging mit steinerner Ablehnung vorbei. Maiguru ließ die Arme sinken.

»Gute Nacht, Nyasha«, sagte sie.

Eine Woche lang zogen sie sich beide zurück – Nyasha in sich, Babamukuru aus dem Haus. Er kam zu den Mahlzeiten nicht heim, aber er nahm auch nicht ab, woraus ich schloss, dass Maiguru ihn zum Essen überredete, wenn wir schon im Bett waren oder nicht zusahen. Wie die beiden litten! Obwohl er seine Tochter mit einer einstündigen Predigt und vierzehn Hieben gezüchtigt hatte – mit einem für jedes ihrer Lebensjahre, im Wohnzimmer und in Anwesenheit von Maiguru –, war Babamukuru noch immer gekränkt. Doch ich machte mir mehr Sorgen um Nyasha, denn Maiguru kümmerte sich um Babamukuru, und er hatte den Trost, sich im Recht zu wissen. Die allgemeine Ansicht war, dass Nyasha schmollte, weil sie sich nicht hatte durchsetzen können. Aber ich stand ihr näher als sonst jemand, und ich fühlte ihren inneren Konflikt zwischen ihrem Ich und der Kapitulation sowie dem, was als Sünde galt. Obwohl ich ihre Qual nicht verstand, denn die Unterscheidung von Gut und Böse, von Richtigem und Falschem war für mich damals noch sehr einfach – ich folgte ziemlich genau den Richtlinien der Sonntagsschule –, aber ich fragte mich besorgt, wie die Situation sich auf meine Cousine auswirken würde. Nicht nur sprach sie nicht mehr mit uns, sondern sie wurde auch undurchschaubar und sonderte sich von uns ab.

Sie zog sich in eine eigene Welt zurück, wo wir sie nicht erreichen konnten. Wenn ich mit ihr redete, hörte sie mich manchmal einfach nicht. Als ich ihr einmal meine Hand vor die Augen hielt, reagierte sie nicht, und ich musste laut schreien, um sie zurückzuholen.

Maiguru erkannte den Ernst der Situation, wusste aber nicht, was sie tun sollte. »Weißt du«, sagte sie zu mir, als wir allein am Mittagstisch saßen, weil Nyasha bereits fertig war und Chido meist bei den Bakers zu Mittag aß. Maiguru war den Tränen nahe, was mich schrecklich in Verlegenheit brachte, denn ich hätte nicht gewusst, wie ich reagieren sollte, falls meine Tante ihrem Kummer freien Laufließ. »Weißt du, dein Onkel ist wach geblieben, bis ihr kamt, um die Hunde rauszulassen. Du weißt, wie gefährlich sie sind. Also hat er sie nicht rausgelassen. Ich sagte zu ihm, Chido könne das machen, wenn ihr zurück wärt, aber er meinte, er tue es lieber selbst, damit es auch sicher geschehe. So ist er. Er geht nie schlafen, bevor ihr nicht von euren Veranstaltungen zurückkommt, und er findet immer Gründe dafür. Aber ich kenne ihn. Und jetzt ist er gekränkt, und Nyasha ist gekränkt, und wahrlich, mein Kind, nur Gott weiß, wie diese Sache enden wird. Um dir die Wahrheit zu sagen, es macht mir Angst, denn man spielt nicht leichtfertig mit so ungestümen Gefühlen – man muss vorsichtig mit ihnen umgehen –, aber die beiden reißen sich immer in Stücke.«

Ich erzählte Nyasha, was Maiguru mir gesagt hatte, als wir an jenem Abend in der Dunkelheit im Bett lagen. Ich sprach weiter von diesem und jenem, in die Dunkelheit hinein, ohne zu wissen, ob sie mir zuhörte oder nicht. Ich erzählte ihr, wieso ich zwei Jahre zu alt für meine Klasse war, von meinem Vater und Nhamo und meinem Maisfeld. Dann erzählte ich ihr, was Maiguru gesagt hatte.

Sie verstand mich. »Ich weiß«, sagte sie. »So ist es überall. Aber er hat kein Recht, mich so zu behandeln, als wäre ich nur Wasser, das vergossen wird, wo er es will. Ich weiß, ich sollte ihnen vertrauen und gehorchen und all das, aber wirklich, er hat nicht das Recht.« Sie schluchzte Ströme von Schmerz. Ich begriff, dass sie um etwas trauerte, das sie verloren hatte, als sie ihren Vater schlug, also ließ ich sie eine Zeitlang weinen und stieg dann zu ihr ins Bett. Wir kuschelten uns aneinander und schliefen ein.

Maiguru war nicht sehr erfreut, als sie uns am nächsten Morgen in einem Bett vorfand, aber sie konnte kaum etwas dagegen haben, dass es Nyasha besser ging, also sagte sie nichts. Ich wusste, dass es Nyasha besser ging, denn sie versuchte zu grinsen wie früher und sagte, übertreibend wie immer: »Danke, Tambu. Du hast mir das Leben gerettet.« Ihre Periode begann am Tag darauf, neun Tage zu früh.

»Ich wünschte mir, ich hätte es getan«, sagte sie und schwenkte einen Tampon vor mir, »aber wenn das so weitergeht, kommt nie etwas anderes als das in mich hinein! Ehrlich, selbst an meinem Hochzeitstag werden sie nur zufrieden sein, wenn ich verspreche, es nicht zu genießen.« Ich stimmte ihr zu. Wir wussten nicht, wovon wir sprachen, aber wir waren von unserer Fortschrittlichkeit beeindruckt. Wir kicherten hysterisch, aber ich blieb nicht lange so heiter. Nun, da es Nyasha wieder gutging, hatte ich Mitleid mit meinem Onkel, der nicht in der Lage sein würde, sich mit Tränen von seinem Kummer zu befreien. Doch Nyashas Widerstandskraft beeindruckte mich weiterhin. Was ich an ihr vor allem bewunderte, war die Fähigkeit, sich selbst zu vergeben. Hätte ich meinen Vater geschlagen, hätte ich gewiss getan, was Babamukuru angedroht hatte – mich erhängt.