Neun

Eines Tages gegen Ende des letzten Trimesters, kurz vor den Abschlussprüfungen, kamen die Nonnen zur Mission. Wir waren eifrig am Lernen. Es gab keinen Unterricht mehr, denn unser Lehrer sagte, er hätte uns den gesamten Lehrstoff beigebracht, und nun sei es unsere Sache, uns das Gelernte gründlich einzuprägen. Also hatten wir nur noch Wiederholungsstunden. Mr. Sanyati teilte uns in Gruppen auf und schickte uns mit dem Lebenszyklus der Anopheles-Fliege, den Daten des Burenkrieges, den Steigerungsformen unregelmäßiger Adjektive hinaus und erwartete von uns, dass wir all das auswendig aufsagen konnten, wenn er uns wieder hereinrief. Wo wir so viel im Kopf hatten, konnten wir den Nonnen nicht viel Aufmerksamkeit schenken, als sie in ihrem blanken Kombiwagen angefahren kamen. Doch wir waren eine protestantische Mission. Wir wussten nichts von Nonnen, nur dass sie vergeistigte keusche Wesen waren, die ihr frommes, mit Gebeten erfülltes Leben Gott widmeten. Hierin, das wussten wir, war die römisch-katholische Kirche der unseren überlegen: Sie brachte solche Tugend hervor. Deshalb waren wir enttäuscht, als wir die Nonnen ankommen sahen und sie weder sanfte Segen flüsterten noch engelgleich in durchscheinenden Gewändern über den Rasen schwebten, sondern schicke Blusen und Röcke trugen und gingen, lachten und leise näselnd sprachen wie unsere amerikanischen Missionare.

Sie so aus der Nähe zu sehen, herauszufinden, wie normal sie waren, zerstörte den Mythos, der sie umgab, oder zumindest die Teile davon, die wichtig waren, denn die sexuelle Frage beschäftigte uns nicht besonders, und wir hatten ohnehin nicht die Möglichkeit, ein Urteil über ihre Keuschheit zu fällen. Aber sie enttäuschten uns nicht nur. Teilweise erfüllten sie auch unsere Erwartungen, als Mr. Sanyati unsere Fähigkeiten vorführte und sie uns selig anlächelten. Natürlich wurde ich ausgewählt, als Erste ein Gedicht vorzutragen. »Hamelintown’s in Brunswick by famous Hanover City«, begann ich, und ein Raunen der Bewunderung ging durch die Klasse, denn meine Kameradinnen wussten, dass ich gescheit war – aber so gescheit, um ein so langes Gedicht, und auch noch ein unbekanntes, auswendig zu lernen und es so gut vorzutragen? Ich rasselte die Verse in einem wahnsinnigen Tempo herunter, denn je schneller man solche Sachen vortrug, als desto sicherer galt man. Dann tanzten wir für die Nonnen im Kreis, sangen und klatschten in die Hände. Danach mussten sie sich ein Theaterstück ansehen. Sie genossen alles sehr.

Sie ließen uns einen Test schreiben, was wir als sehr unfair empfanden, denn wir waren nicht vorgewarnt und hatten uns nicht darauf vorbereiten können. Mr. Sanyati beruhigte uns, es gehe nur um Allgemeinwissen und unser Potenzial, doch das verwirrte uns noch mehr. Allgemeinwissen war in Ordnung, aber »Potenzial« hatten wir nie als Fach gehabt. Es klang fremd und anspruchsvoll und unendlich schwierig. Mr. Sanyati erklärte uns, die Nonnen seien von weit her gekommen, von ihrer eigenen Mission, um uns diesen Test schreiben zu lassen, und scheuchte alle Mädchen unserer Klasse in einen Raum, damit sie dort Fragen nach Louisa M. Alcott und Little Women beantworteten, sieben Eicheln mit dreiundzwanzig Eicheln mit achtundvierzig Eicheln mit null Eicheln multiplizierten und aus einem Sammelsurium aus Gummistiefeln, Galoschen, Schneeschuhen und Pantoffeln das Wort herausgriffen, das nicht in die Reihe passte.

Nach der Prüfung wollten die Nonnen mit uns reden. Eine nach der anderen wurden wir zu ihnen hineingeführt. Anschließend waren wir sehr beeindruckt von ihnen. Wir fanden es sehr freundlich und ausgesprochen heilig von ihnen, sich so für uns zu interessieren, denn sie waren wirklich interessiert – stellten uns alle möglichen Fragen über unsere Eltern und unsere Freundinnen und was wir in unserer Freizeit am liebsten täten. Ich war entzückt, dass Leute, und noch dazu Weiße, sich für meine Herkunft interessierten. Ich fand, ich sollte ihnen auch von Babamukuru erzählen, um ihnen zu zeigen, dass meine Familie auch einen fortschrittlichen Zweig hatte, doch sie wollten mehr über meinen Vater und über mein Leben zu Hause hören.

Es stellte sich heraus, dass die Nonnen gekommen waren, um eine Auswahl zu treffen. Es gab große Aufregung, als wir herausfanden, dass wir in Wirklichkeit eine Aufnahmeprüfung geschrieben hatten. Manche Mädchen kannten einige Katholiken und erzählten uns, wie niederträchtig die Nonnen vorgingen. Anscheinend handelte es sich um Folgendes: Sie nahmen einen in ihre Schule auf und kurz vor dem Abschluss überredeten sie einen dazu, in den Orden einzutreten. Ihre Methoden waren nicht gerade fein. Weitere Stipendien wurden in Aussicht gestellt, doch gleichzeitig wurde einem deutlich gemacht, dass es höchst verdammenswert wäre, dies abzulehnen. In dieser Lage hielten es viele Mädchen für ratsam, ins Habit einer Novizin zu schlüpfen. Das Gelübde war noch gefährlicher, und viele Mädchen wurden schwanger, um es nicht ablegen zu müssen. Das waren die weitverbreiteten Vorwürfe gegen die Nonnen, doch sie änderten nichts an dem verlockenden Glanz, welcher der Aussicht anhaftete, eine Klosterschule zu besuchen. Und nicht irgendeine Klosterschule, sondern eine, die für alle Hautfarben offen war. Eine renommierte Privatschule, die unter Garantie junge Damen fabrizierte. In dieser Klosterschule, die etwas außerhalb der Stadt lag, aber auf. der anderen Seite, Richtung Süden, trug man während der Woche Faltenröcke aus Trevira und sonntags ein Schneiderkostüm aus Leinen mit Handschuhen, ja, sogar mit Handschuhen! Wir wollten alle hin. Das war nur natürlich. Aber es wurden lediglich zwei Plätze angeboten, zwei Plätze für alle afrikanischen Schülerinnen der Grade Seven des Landes. Die Wirkung davon war drastisch und gefährlich. Wir mochten einander nicht mehr so wie früher, falls die andere den Platz erhielt und wir Qualen des Neids erleiden mussten, während ihr Status und ihre Wertschätzung stieg. Es war nicht fair, fanden wir, und das stimmte auch. Aber was an dem Test war schon fair gewesen? Niemand sonst war auf diesen Test vorbereitet gewesen, während ich mich, seit ich zur Mission gekommen war, ständig darauf vorbereitet hatte. Ich hatte die reichhaltige, exotische Bibliothek von Nyasha zur Verfügung gehabt, musste mit ihrer Experimentierfreude umgehen, mit ihrer beharrlichen Suche nach Alternativen, ihrer Leidenschaft, Gegebenes in Mögliches umzuwandeln; mit all dem hatte ich zurechtkommen müssen, was ich auf rein intellektueller Ebene tat; nicht weil ich es für vernünftig hielt, sondern weil ich es unterhaltend fand und meine Cousine bewunderte; nachdem ich diesen intellektuellen Herausforderungen fast zwei Jahre lang ausgesetzt gewesen war, war ich meinen Mitschülerinnen an Allgemeinbildung und »Potenzial« weit voraus. So war es überhaupt nicht erstaunlich, dass ich bei dieser Aufnahmeprüfung glänzend abschnitt und damit das Privileg erwarb, mich unter die Elite der damaligen Zeit zu mischen, das Privileg, ehrenhalber in ihre Kultur aufgenommen zu werden.

Natürlich wusste ich den Ernst der Situation damals nicht zu würdigen, meine einzigen Erfahrungen mit diesen Leuten verdankte ich der wohltätigen Doris und den leidenschaftlichen Missionaren auf der Mission. Aber Nyasha erkannte sie und war erschrocken. Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verheimlichen und versuchte es auch nicht, als ich ihr erzählte, wie aufgeregt ich sei, was für eine Erfahrung das bedeuten würde, was für eine Chance, und dass ich vorhätte, diese Chance bestens zu nutzen. Sie war der Ansicht, die Nachteile seien größer als die Vorteile, die aus einer solchen Chance erwüchsen. Es sei eine wundervolle Chance zu vergessen, bemerkte sie sarkastisch. Zu vergessen, wer man sei, was man sei und warum man so sei. Dieser Prozess nenne sich Assimilierung und sei für die wenigen Frühreifen vorgesehen, die sich als lästig erweisen könnten, wenn man sie sich selbst überließ, aber was die Anderen anginge – nun, wen kümmerten schon die Anderen? Also räumten sie dir ein Plätzchen ein, um dich zu assimilieren, einen Ehrenplatz, wo du dich ihnen anschließen durftest und sie sichergehen könnten, dass du dich gut benahmst. Ich würde mich in einer solchen Position wohl fühlen, stichelte sie boshaft, denn ich käme ja auch bestens mit Babamukuru aus. Aber man solle diesen Platz nicht einnehmen. Da war sie unbeirrbar: Man solle ihn ablehnen. In meinem Falle hieße das, nicht zur Mission der Nonnen zu gehen. »Du wirst auf ihre Tricks hereinfallen«, sagte sie und wies darauf hin, dass ich auf der Mission eine weit nützlichere Ausbildung erhalten würde.

Wenn sie das nicht gesagt hätte, diese letzte Bemerkung über die Ausbildung auf der Mission, hätte ich ihr vielleicht geglaubt; aber jeder wusste, dass die europäischen Schulen besser ausgestattet waren, dass es dort bessere Lehrer gab, besseres Mobiliar, besseres Essen – dass dort alles besser war. Die Vorstellung, dass irgendetwas an unserer Mission besser sein könnte, war eindeutig lächerlich. Und außerdem, wenn man einmal in eine ihrer Schulen aufgenommen worden war, ging es automatisch immer weiter, bis man das Abitur hatte. Um Auswahlprüfungen auf jeder Stufe musste man sich keine Sorgen mehr machen. So war es. So würde es sein. Wenn man gescheit war, nutzte man jedes Schlupfloch, das man fand. Ich jedenfalls würde jede Chance ergreifen, die sich ergab, dessen war ich mir sicher; ich war fest entschlossen dazu. Die neueste Chance war die, auf die Klosterschule zu gehen. Ich würde es tun. Ich war nicht so skeptisch wie Nyasha. Wie konnte ich je meinen Bruder und die Maiskolben, meine Mutter, die Latrine und die Hochzeit vergessen? All das wies auf die Bürde hin, der meine Mutter sich gebeugt hatte. Auf die Klosterschule zu gehen bedeutete die Chance, diese Bürden zu erleichtern, denn ich trat damit in eine Welt ein, in der alle Bürden leicht waren. Ich würde die Chance ergreifen. Ich würde meine Bürde erleichtern. Wenn Babamukuru es zuließ.

Doch Nyasha konnte ich nicht überzeugen. »Also wirklich, Tambudzai«, sagte sie streng, als ich mit der Verherrlichung meiner Interessen fertig war, »es wird immer Brüder und Maiskolben geben und Mütter, die zu müde sind, die Latrine zu putzen – ob du auf die Klosterschule gehst oder nicht. Es gibt mehr zu tun als das.« Das war typisch Nyasha, dieser beharrliche Idealismus. Aber sie konnte es sich als Tochter meines reichen Onkels leisten. Ich dagegen musste jede gebotene Chance nutzen.

Babamukuru war der Ansicht, ich hätte schon genug Chancen geboten bekommen, und auf seine Weise stimmte er Nyasha zu, dass die Erfahrung mir nicht guttun würde. Von seinem Armsessel gegenüber dem Kamin aus setzte er mir auseinander, wieso ich nicht zur Klosterschule gehen könne.

»Es ist nicht nur eine Geldfrage«, versicherte er mir. »Obwohl es mir erhebliche Kosten verursachen würde, hättest du dein Stipendium, so dass die Hauptlast entfiele. Aber ich finde, auch das wenige Geld könnte besser genutzt werden. Zum einen gibt es jetzt den kleinen Jungen zu Hause. Jeden Monat lege ich ein wenig, ein klein wenig, ein ganz klein wenig beiseite, damit für ihn gesorgt ist, wenn er ins Schulalter kommt. Wie du weißt, ist er der einzige Junge deiner Familie, und man muss für ihn sorgen. Was dich betrifft, glauben wir, dich ziemlich gut zu versorgen. Wenn du die Form Four beendet hast, wirst du deinen weiteren Weg bestimmen können, wie immer er aussehen mag. Im Laufe der Zeit wirst du Geld verdienen. Du kannst von einem anständigen Mann geheiratet werden und dir ein anständiges Heim gestalten. Mit allem, was wir tun, bereiten wir dein künftiges Leben vor, und ich habe am Verhalten meiner eigenen Tochter bemerkt, dass es einem jungen Mädchen nicht gut bekommt, zu viel mit diesen weißen Leuten zusammen zu sein, zu viel Freiheit zu haben. Ich habe es erlebt, dass aus solchen Mädchen keine anständigen Frauen geworden sind.«

Heirat. Grundsätzlich hatte ich nichts dagegen. In der Theorie hielt ich es für eine sehr gute Idee. Aber es war irritierend, dass sie bei jeder Gelegenheit auftauchte und ihre Fangarme nach mir ausstreckte, um mich bereits zu binden, noch ehe ich ernsthaft darüber nachgedacht hatte, und mein Leben schon zu unterbrechen drohte, bevor ich es mein Leben nennen konnte. Sobald Babamukuru mit diesem Heiratsgerede anfing, hörte ich ihm nicht mehr zu. Ich untersuchte meinen Bademantel nach Fusseln und wartete auf das Ende der Besprechung. »Deinem Vater«, fuhr mein Onkel fort, »werde ich Folgendes sagen: Wenn er dich auf diese Schule schicken will, soll er das machen, falls er das nötige Geld auftreibt. Ich persönlich bin der Ansicht, das Geld wäre nicht sinnvoll ausgegeben. Mai«, schloss er und wandte sich meiner Tante zu, »möchtest du etwas dazu sagen?«

»Ja, Baba«, sagte Maiguru leise vom Sofa aus. Ich war sofort ganz bei der Sache. Ich lauschte ungläubig.

»Ach, wirklich!«, rief Babamukuru, fasste sich aber wieder und bat sie fortzufahren. »Sprich ganz frei, Mai. Sag, was du denkst.«

Es gab eine Pause, während Maiguru die Arme kreuzte und sich auf dem Sofa zurücklehnte. »Ich glaube nicht«, begann sie leichthin mit ihrer leisen, besänftigenden Stimme, »dass Tambudzai durch den Besuch dieser Schule verdorben wird. Weißt du nicht mehr, als wir nach Südafrika gingen, sagten alle, wir seien lose Geschöpfe, wir Mädchen.« Babamukuru zuckte zusammen. Maiguru fuhr fort: »Es war damals nicht eine Frage des Umgangs mit dieser oder jener Rasse. Die Leute hatten Vorurteile gegen gebildete Frauen. Vorurteile. Deshalb sagten sie, wir wären unanständig. Das war in den fünfziger Jahren. Jetzt sind wir in den siebziger Jahren. Es enttäuscht mich, dass manche immer noch so denken. Nach all den Jahren, in denen nichts vorgefallen ist, das sie bestätigt. Ich weiß nicht, was die Leute unter einer losen Frau verstehen – manchmal ist es eine vom Straßengewerbe, manchmal eine gebildete Frau, manchmal ist es die Tochter eines erfolgreichen Mannes, und manchmal ist sie einfach nur schön. Lose oder anständig – ich weiß nicht recht. Ich weiß nur, wenn unsere Tochter Tambudzai jetzt kein anständiger Mensch ist, wird sie nie einer werden, egal, in welche Schule sie geht. Und wenn sie anständig ist, dürfte diese Klosterschule sie nicht verändern. Und was das Geld betrifft, hast du selbst gesagt, dass sie ein volles Stipendium hat. Vielleicht hast du andere Gründe, warum sie nicht hingehen sollte, Babawa Chido, aber diese beiden – die Frage der Anständigkeit und die Frage des Geldes – habe ich gehört, also habe ich mich dazu geäußert.«

Wieder trat Schweigen ein, Maiguru ließ die Arme fallen und faltete die Hände auf dem Schoß.

Babamukuru räusperte sich. »Nun, Tambudzai«, sagte er behutsam, »hast du etwas zu sagen?«

Am nächsten Tag fuhr mich Babamukuru nach Hause; es waren die Weihnachtsferien. Meine Schwestern waren ganz aufgeregt, mich zu sehen, denn ich verblüffte sie mit meinen Schulerfolgen. »Mauya mekuchirungu«, begrüßten sie mich ehrerbietig, aber ich lehnte den Titel bescheiden ab – nicht weil ich ihn nicht gewollt hätte, sondern weil Babamukuru ihn mir nicht zugestanden hatte.

Mein Onkel blieb an jenem Tag nicht lange. Es blieb keine Zeit, die Frage meiner Ausbildung zu besprechen. Mein Vater, der sich in Babamukurus Gegenwart immer enthusiastisch zeigte, beglückwünschte ihn dazu, dass er mein Denken so geschickt geformt habe, dass selbst die Weißen das Ergebnis beeindruckte, aber Babamukuru fiel nicht darauf herein.»Wir haben noch nicht entschieden, wie es mit Tambudzai weitergehen soll. Wir besprechen es, wenn ich an Weihnachten für ein paar Tage wieder herkomme.«

Das gab mir Hoffnung, dass Maigurus Rede Wirkung gehabt hatte. Ich wartete ungeduldig auf Weihnachten, aber als es kam, blieben unsere Verwandten fern. Maiguru weigerte sich glatt, ein weiteres Weihnachten für eine Familie von zwei Dutzend Personen zu sorgen. Also fuhr Babamukuru zehn Tage lang zwischen der Heimstätte und der Mission hin und her, brachte manchmal Maiguru und Nyasha mit, aber öfter kam er allein. Chido sahen wir nie, denn er hatte andere Verabredungen. Meine Mutter war insgeheim froh, dass Maiguru nicht bei uns bleiben wollte, obwohl sie natürlich aus Höflichkeit dagegen protestieren musste und meinen Onkel und meine Tante jedes Mal einlud, bei uns zu übernachten, wenn sie zur Mission zurückfuhren. Sie war sehr stolz auf ihr Haus und ihren transportablen Herd und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie von ihren ursprünglichen Besitzern benutzt würden. Technisch gesehen hatte Maiguru zu Hause keine Küche mehr, da das versprochene Haus noch nicht gebaut war, und deshalb hatte sie sich wahrscheinlich so entschieden geweigert, Weihnachten zu Hause zu verbringen. Eine weitere Folge der fehlenden Küche war, dass das Essen nicht so schmackhaft und reichlich ausfiel, als wenn Maiguru die Versorgung organisiert hätte. Wir hätten einen bedenklichen Engpass erlebt, wenn Tete und Babamunini Thomas nicht ungefähr eine Woche vor den Feiertagen hätten ausrichten lassen, sie könnten nicht kommen. Das Fundament zu Maigurus Haus wurde Mitte Januar gelegt.

An Neujahr besprachen mein Onkel und mein Vater meine Zukunft. Das Gespräch fand im Haus statt. Ich musste einfach lauschen.

»Es könnte ihrem Charakter schaden … diese Weißen, weißt du … man weiß ja nie«, grübelte mein Onkel.

»Ja«, stimmte mein Vater ihm zu. »Wie soll man bei ihnen je Bescheid wissen? Man weiß nie. Nicht bei Weißen! Nein. Man weiß es nie.«

»Andererseits«, fuhr mein Onkel fort, »würde sie eine erstklassige Erziehung erhalten.«

»Ah ja, Mukoma, erstklassig. Erstklassig«, schwärmte mein Vater.

»Ich wollte nicht, dass sie zu dieser Schule geht …« sagte Babamukuru.

»Wieso auch, Mukoma? Wieso sollte sie hingehen? Deine Mission hat doch eine erstklassige Schule.«

»… aus den Gründen, die ich dir geschildert habe«, fuhr mein Onkel fort. »Aber in Anbetracht dessen, dass es um die beste Ausbildung geht, die ein Mädchen in Rhodesien erhalten kann, kam ich zu dem Schluss, dass man ihr diese Chance nicht nehmen darf. Ich habe beschlossen, sie hingehen zu lassen.«

Mein Vater kniete vor ihm nieder, mit einem Knie. Bo-bo-bo. »Wir danken dir, Chirandu, wir danken dir, muera bonga, Chihwa«, stimmte er an. »Wahrlich, wir würden ohne dich nicht überleben. Unsere Kinder würden ohne dich nicht überleben. Unser Familienhaupt, Fürst, wir danken dir.«

So wurde die Sache geregelt. Ich sollte einen weiteren Schritt nach oben tun, auf die Freiheit zu. Einen weiteren Schritt fort von den Fliegen, den Gerüchen, den Feldern und Lumpen; von Schmutz, Krankheit, vom kriecherischen Gehorsam meines Vaters Babamukuru gegenüber und von der chronischen Lethargie meiner Mutter. Und auch vom Fluss Nyamarira, den ich liebte.

Von der Aussicht auf diese Freiheit und von ihrem möglichen Preis wurde mir schwindelig. Ich musste mich auf die Stufen setzen, die zum Haus führten. Erst fühlte ich mich benommen, dann ging es mir besser. Die Rechnung würde schon aufgehen. Was ich brauchte, würde ich mitnehmen, den Rest abstoßen. Es würde sich lohnen, meine Schwestern hübsch einkleiden zu können, meine Mutter so ernähren zu können, dass sie wieder rundlich und tatkräftig würde, verhindern zu können, dass mein Vater sich in Babamukurus Gegenwart aufführte wie ein Narr. Geld würde das alles für mich leisten. Mit dem Ticket, das ich auf der Klosterschule erwerben würde, konnte ich einmal sehr viel verdienen.

»Nein«, sagte Babamukuru gerade, und sein Gesicht leuchtete mit der Paraffinlampe um die Wette, »danke mir nicht. Tambudzai hat sich das Stipendium hart erarbeitet.«

Ich hörte nicht mehr zu und ließ meiner Fantasie freien Lauf. Ich sah mich schick und sauber in einer weißen Bluse und im dunkelroten Trevira Faltenrock mit Blazer, Handschuhen und Hut. Es war ein hübsches Bild, so reizvoll, dass ich es gleich meiner Mutter schildern musste. Sie war in der Küche, denn trotz ihres neuen Herds kochte sie lieber weiter auf der alten Feuerstelle. Sie fühlte sich an ihr wohler, sagte sie. Dort fand ich sie auch diesmal, allein auf einer Matte hockend und den inzwischen neun Monate alten Dambudzo stillend, den sie mit der einen Hand auf dem Schoß festhielt; mit der anderen stocherte sie lustlos in ihrem Abendessen – sadza mit saurer Milch.

»Ich dachte, du wolltest kein Essen«, sagte sie zur Entschuldigung, weil sie ohne mich begonnen hatte. »Du hast so lange dazu gebraucht, das Essen ins Haus zu tragen.«

Ich wusch mir die Hände, setzte mich neben sie und aß ein wenig sadza, ohne es zu schmecken, nachdem ich die Masse unnötig lange in den Fingern geknetet hatte: von der Neuigkeit war mir der Appetit vergangen. Ich konnte an mein Glück noch kaum glauben, berichtete aber meiner Mutter von Babamukurus Entscheidung.

»Ho-o-re«, seufzte sie langgezogen und bitter, als ich geendet hatte. »Sag mir, Tambudzai, will dieser Mann mich umbringen, mich mit seiner Güte umbringen, indem er meine Kinder mästet, nur um sie mir wegzunehmen, wie man Vieh mästet, um es zu schlachten? Sag mir, Tochter, was werde ich, deine Mutter, dir zu sagen haben, wenn du nach Hause kommst, eine Fremde voller weißer Gewohnheiten und Ideen? Alles wird englisch sein, ständig englisch. He, Mummy, hier. He, Mummy, dort. Wie deine Cousine da. Ich habe es schon einmal erlebt – es ist hier in unserem Haus schon einmal passiert. Wahrlich, dieser Mann beschwört einen bösen Fluch auf mein Haupt herab. Du hast die Mission überlebt, darum muss er dich jetzt noch weiter fortschicken. Ich hab genug, ich schwöre es dir. Ich hab von diesem Mann genug, der mich von meinen Kindern trennt. Mich von meinen Kindern trennt und mein Leben bestimmt. Er sagt hopp, und wir springen. Einen Schleier in meinem Alter zu tragen, einen Schleier! Stell dir das bloß vor – einen Schleier zu tragen. Wenn ich eine Hexe wäre, würde ich seinen Verstand schwächen, ich würde es wirklich tun, und dann könnten wir mal sehen, ob seine Ausbildung und sein Geld ihm hilft.«

Meine Mutter verfiel danach so schnell, als wäre sie selbst verflucht worden. Sie aß immer weniger und tat immer weniger, bis sie nach einigen Tagen weder essen noch etwas tun konnte, nicht einmal ihr Kleid wechseln. Sie ging nicht zum Waschen zum Nyamarira und nicht zum Garten. An den Tagen, an denen sie überhaupt aufstand, saß sie nur in der Sonne und stillte Dambudzo, wenn er schrie, reagierte aber sonst auf nichts. Dambudzo bekam Durchfall, einen schlimmen, wässrigen Durchfall, der nicht mehr aufhörte. Meine Mutter meinte, er würde sterben – wie alle Babys, die Durchfall hätten. Mein Vater bekam es mit der Angst und gab die kostbaren Cents, die er für Bier aufsparte, für eine Busfahrt zur Mission aus. Als er zurückkam, berichtete er uns, dass die Schwestern meinten, das Baby würde mit der Flasche ernährt und der Durchfall käme von einem unsterilen Schnuller. Er hielt es für das Beste, meine Mutter zu einem Medium zu bringen. Er kannte eines im Nachbardorf, aber ich war dagegen. Ich konnte meinem Vater nicht sagen, was für schreckliche Dinge sie für Babamukuru herbeigewünscht hatte. Derlei sagte man nicht leichtfertig, und ich befürchtete wirklich, dass sie schreckliches Unheil aushecken würde, wenn sie Gelegenheit fand, die Dienste eines Mediums in Anspruch zu nehmen. Außerdem wusste ich, was meiner Mutter auf der Seele lag. Ein Medium konnte ihr nicht helfen, aber ich, indem ich nicht auf die Klosterschule zum Heiligen Herzen ging. Aber das war zu viel von mir verlangt; also erinnerte ich meinen Vater daran, dass Babamukuru das Medium und Ähnliches nicht billigen würde. Das kümmerte meinen Vater nicht, denn Babamukuru würde es nicht erfahren, daher drohte ich ihm, es meinem Onkel zu erzählen, woraufhin mein Vater nachgab und Lucia zu kommen bat, was diese sofort tat.

Takesure war mit dieser Entwicklung sehr zufrieden, aber Lucia übersah ihn völlig. Sie führte sofort eine Ordnung ein, die ich nur als Schockbehandlung bezeichnen kann. Zuerst zwang sie meine Mutter, zum Nyamarira zu gehen, indem sie sich einfach Dambudzo auf den Rücken band, den Arm um meine Mutter legte und sie hinführte. Dann musste meine Mutter sich selbst und das Baby waschen. »Sisi«, drohte sie, watete durchs Wasser und setzte Dambudzo auf einen Stein, »schau her, ich setze ihn jetzt auf diesem Stein ab und lasse ihn da, mitten im Fluss. Wenn er ins Wasser rutscht, weil du nichts zu seiner Rettung unternimmst, dann wirst du wirklich verrückt, weil diesmal du die Schuldige bist.« Dambudzo hielt es für ein lustiges Spiel, denn der Stein war warm und glatt, und das Wasser ringsum glitzerte hübsch. Er gluckste Lucia zu und krabbelte an den Rand, um zu planschen. Babys sind gescheit und krabbeln nicht über Ränder hinaus, aber ihre Mütter sorgen sich trotzdem.

»Lucia«, sagte meine Mutter, »warum tust du das? Warum? Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Warum lässt du mich nicht einfach sterben?« Und sie zog ihr Kleid aus, watete zu dem Stein hinaus und wusch sich und ihren Sohn. Während meine Mutter sich wusch, wusch Lucia ihr das Kleid, so dass meine Mutter und Dambudzo nach dem Waschen gezwungen waren, in der Sonne zu sitzen, bis das Kleid trocken wurde. Nun hält man eine Krankheit dieser Art geheim, im Gegensatz zu einem körperlichen Leiden, von dem man jedem erzählt; und als andere Frauen zum Waschen oder zum Wasserholen kamen, sahen sie meine Mutter und Lucia und Dambudzo entspannt darauf warten, dass ihre Kleider trockneten, ein üblicher Anblick am Nyamarira. Außerdem freuten sich alle, Lucia zu sehen, also ging es lebhaft und fröhlich zu, als sie herüberkamen, um meine Mutter und Lucia zu begrüßen. Im Scherz schimpften sie mit Lucia, weil sie so lange fortgeblieben war, lachten darüber, wie groß Dambudzo geworden sei, zu was für einem gutaussehenden jungen Mann er heranwachse, dass die Frauen in der Gegend sich bald in ihn verlieben würden. Das war alles eine sehr gute Medizin.

Als sie zurückkamen, kochte Lucia das Abendessen, einen kräftigen Eintopf mit Fleisch, das sie mitgebracht hatte.

»Tambudzai«, wies sie mich in Gegenwart meines Vaters an, »sorg du dafür, dass keiner dieses Fleisch anrührt. Niemand außer deiner Mutter, die krank ist und wieder zu Kräften kommen muss.«

In dieser Nacht schliefen meine Mutter und Lucia gemeinsam in der Küche, was Takesure ärgerte, der Lucia in das hozi eingeladen hatte. Sie unterhielten sich fast die ganze Nacht hindurch. Meine Mutter schlief in den frühen Morgenstunden ein, und als sie um zehn Uhr aufwachte, stellte sie fest, dass Lucia Porridge für sie gekocht hatte, mit Milch, damit er besonders nahrhaft wurde. Lucia blieb noch zwei Tage, bis sich meine Mutter eindeutig auf dem Weg der Besserung befand; dann kehrte sie zur Mission zurück. Sie konnte nicht länger bleiben, wie sie und wir es uns gewünscht hätten, denn trotz der Ferienzeit hatte sie offiziell Dienst. Außerdem fanden am Ende des Monats die Prüfungen ihrer Abendschulklasse statt, und sie musste fleißig lernen. Eine Woche nach Lucias Abreise fühlte sich meine Mutter kräftig genug, um wieder im Garten zu arbeiten. Das Leben verlief wieder wie sonst, mit Hacken und Wässern, Wasserholen und Waschen am Nyamarira.

Zu Beginn der dritten Januarwoche ließ Babamukuru ausrichten, dass er mit den Neuzugängen sehr beschäftigt sei und mich nicht abholen könne. Ich sollte in der Woche allein zur Mission fahren, um mich auf den Eintritt in die Klosterschule vorzubereiten. Brummend gab mir mein Vater dreißig Cents für den Bus. Meine Mutter war traurig, aber ich hatte gesehen, dass sie auf dem Weg der Besserung war, und konnte mich ohne Schuldgefühle auf mein neues Leben freuen. Ich kam mir so wichtig vor, so erwachsen und verantwortungsbewusst, als ich meine Fahrkarte löste und mir einen Sitz suchte. Ich setzte mich neben eine Frau im Alter meiner Mutter, damit mich die jungen Männer nicht belästigten. Ich konnte es mir nicht verkneifen und ließ sie stolz wissen, dass mein Onkel Schuldirektor auf der Mission war und mich zur Klosterschule zum Heiligen Herzen bringen würde.

Mir blieb nur eine Nacht auf der Mission, bevor ich zum Young Ladies College der Nonnen fuhr. Eine Nacht war nicht viel, und es gab so viel zu sagen. Ich konnte es kaum erwarten, meine Cousine zu sehen, die während dieser Ferien nur unregelmäßig zu uns nach Hause gekommen war. Ich sehnte mich danach, mit ihr erneut lange über die menschliche Vielfalt und die Bereicherung zu sprechen, die ich mir von der Klosterschule erwartete.

Es war ein großer Schlag für mich, dass sie noch nicht vom Unterricht zurück war, als ich ankam, und ich war ungeduldig. Die letzte Stunde war in der Oberschule um vier Uhr zu Ende, was noch vierzig Minuten Warten bedeutete und vielleicht weitere zwanzig Minuten, die Nyasha brauchte, um ihre Bücher zusammenzupacken, ein paar Worte mit ihren Klassenkameradinnen zu tauschen und nach Hause zu gehen. Doch es wurde halb fünf ohne Nyasha, dann fünf und halb sechs. Maiguru kam nach Hause, wusste aber nicht, wo ihre Tochter war. »Vielleicht spielt sie Netzball«, meinte sie, also ging ich zum Spielfeld, wo ich eine Gruppe Mädchen vorfand, die sich die Zeit zwischen Schule und Abendessen vertrieben.

Aus der Ferne erkannte ich Jocelyn und Maidei, aber Nyasha war nicht zu sehen. Das enttäuschte mich, aber es war schön, meine Freundinnen zu treffen, besonders Maidei, die ich nicht noch einmal zu sehen erwartet hatte. Es war ziemlich sicher, dass Jocelyn zum neuen Jahr wiederkommen würde, denn sie war immer unter den besten zwölf, während Maidei selten mehr als durchschnittliche Noten erhielt. Darum war es eine Überraschung, eine angenehme Überraschung, sie hier Ball spielen zu sehen, besonders nach sechs Wochen Ferien, denn das ist eine lange Zeit, wenn man sie ohne seine Freunde oder fern von den bekannten Orten oder ohne seine Freunde an den bekannten Orten verbringen muss. Auch waren es sechs Wochen ohne Netzball gewesen, sechs Wochen ohne die Kameradschaft und Nähe, die der freundschaftliche Wettstreit entstehen lässt, bei dem es um nichts geht. Es juckte mich, den Ball wieder in den Händen zu spüren, und ich rannte aufs Spielfeld. Sie sahen mich alle kommen. Bis zum heutigen Tag könnte ich schwören, dass Maidei mich als Erste sah. Ich sah, wie sie mit dem Ball in den Händen stehen blieb, um die Anderen auf mich hinzuweisen, aber als ich aufs Spielfeld rannte, waren sie kühl und schweigsam. Sie ignorierten mich. Es tat mir weh, dass meine Freundinnen sich so grausam verhielten, und ich war naiv genug, nicht zu ahnen, womit ich das verdient hatte, also schloss ich mich dem Spiel an, sprang zum Ring, um den Ball beim Hinabfallen zu fangen, und erzielte einen sauberen Punkt. Wie es das Glück wollte – ich war keine besonders gute Spielerin –, berührte der Ball nicht einmal den Rand. Das brach das Eis.

»Sie hat trainiert«, scherzte Jocelyn, als ich den Ball erneut fing, da offenbar niemand sonst Lust dazu hatte. Ich wog ihn in der Hand und zielte sorgfältig. Das reizte Maidei so sehr, dass sie mir den Ball aus der Hand schlug.

»Verschwende nicht unsere Zeit«, fuhr sie mich an. »Wir üben für die Mannschaft. Wo du hingehst, spielen sie nicht Netzball, oder? Also, was tust du noch hier? Basketball«, sang sie und ließ den Ball professionell hüpfen, »und Hockey und Tennis und Schwimmen. Das wirst du tun. Mit deinen Weißen. So wie ich dich kenne, hören wir das nächste Mal von dir, dass du an den Olympischen Spielen teilnimmst.« Sie kicherte laut in die verlegene Stille hinein, in die ihre Worte fielen, und fühlte sich dann unlogischerweise von ihrer eigenen Stimme gestört. »Was ist mit euch los?«, schnauzte sie die anderen Mädchen an. Habt ihr für heute genug vom Netzball? Es ist Zeit zum Abendessen. Wer kommt mit?«, fragte sie und ging wortlos davon. Jocelyn blieb lange genug, um auf Wiedersehen zu sagen.

»Schreib uns, wenn du ankommst«, sagte sie. »Wir werden auf alle deine Briefe antworten.«

»Ja«, sagten die anderen im Weggehen, »vergiss uns ja nicht.«

Traurig und nachdenklich sah ich ihnen nach. Vergiss nicht, vergiss nicht, vergiss nicht. Nyasha, meine Mutter, meine Freundinnen. Immer dieselbe Botschaft. Aber warum nur? Wenn ich sie vergessen würde, meine Cousine, meine Mutter, meine Freundinnen, konnte ich gleich mich selbst vergessen. Und das konnte natürlich nicht passieren. Warum drängten mich dann aber alle, sie nicht zu vergessen? Diese Frage schwirrte in meinem Kopf herum, als ich in das Klassenzimmer meiner Cousine ging, um nach Nyasha Ausschau zu halten. Fragen, Fragen, Fragen, aber keine einzige Antwort.

Nyasha saß lernend an ihrem Pult, so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich erst bemerkte, als ich neben ihr stand und hallo sagte. Sie erwiderte knapp meinen Gruß, schaute kaum von ihren Büchern auf und erkundigte sich nicht einmal nach meiner Familie. Es war ein trauriger Empfang, den mir Nyasha an jenem Tag bereitete, und ich musste an das verschlossene Mädchen im rosa Minikleid zurückdenken, das aus England gekommen war; dies war nicht die Cousine und Freundin, zu der sie in den Jahren danach geworden war. Sie wollte mich anscheinend nicht bei sich haben, aber ich hatte sie ganze drei Wochen nicht gesehen, hatte mich auf das Wiedersehen gefreut und musste bald abreisen. Ich konnte nicht weggehen. Ich setzte mich hin und wartete, zupfte an meinem Haar, säuberte mir die Fingernägel und fand einen Fleck auf meinem Knie, an dem ich rubbeln konnte, damit die Zeit verging. Als ich mit dem Fleck fertig war, schaute ich auf und sah, dass Nyasha mich traurig betrachtete. Sie senkte verwirrt den Blick und widmete sich erneut ihren Büchern. Sie begann zu reden, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.

»Du wirst mir fehlen, Tambu«, sagte sie und kräuselte die Stirn in dem Versuch, sich auf ihre Aufzeichnungen zu konzentrieren und nicht mehr zu sagen, als nützlich war. Schließlich gab sie es auf und sah mir ins Gesicht. »Es war schön, dich hier zu haben«, sagte sie, »und …« Es gab viel mehr zu sagen; wir spürten ihn in der Luft hängen, den Faden zwischen uns, den wir beide ergreifen wollten, aber wir stellten uns zu ungeschickt an. »… und ich werde dich vermissen«, brachte sie nur noch heraus.

»Ich werde dich auch vermissen«, sagte ich ihr.

»Es ist Zeit fürs Abendessen. Wir gehen besser«, sagte sie und packte ihre Bücher ins Pult. Schweigend gingen wir zum Haus. Die Abschiedstrauer lastete so schwer auf uns, dass selbst die Aussicht auf die Klosterschule, auf all das aufregende, glanzvolle Neue, das ich dort zu finden erwartete, nicht erwähnenswert erschien.

Baba und Maiguru saßen schon am Tisch, als wir heimkamen. Babamukuru war nicht gut gelaunt. Er fiel Nyasha ins Wort, als sie guten Abend sagte, und nahm mich überhaupt nicht wahr. »He, Nyasha, kannst du mir sagen, wieso du zu dieser Uhrzeit, um Viertel vor sieben, nach Hause kommst?«

»Ich habe gearbeitet«, antwortete sie und setzte sich, »im Klassenzimmer.«

»So spät noch? Ich habe dir gesagt, du sollst um sechs Uhr zu Hause sein. Das ist eine anständige Uhrzeit, zu der ein anständiges Mädchen heimkommt.«

»Es waren keine Jungen da, wenn du dir deswegen Sorgen machst«, bemerkte Nyasha unbekümmert.

»Nyasha, versuch doch, still zu sein«, riet Maiguru.

»Was hast du gesagt?«, fragte Babamukuru seine Tochter und hob gereizt die Stimme.

»Nichts«, sagte Nyasha. »Darf ich bitte vom Tisch aufstehen?«

»Du gehst nirgends hin«, sagte ihr Vater. »Wo willst du denn hin?«

»Ich habe keinen Hunger«, erklärte Nyasha.

»Du wirst aufessen«, befahl er ihr, »Deine Mutter und ich arbeiten uns doch nicht zu Tode, nur damit du deine Zeit mit Jungen verschwendest und dann zurückkommst und über alles, was wir dir anbieten, die Nase rümpfst. Bleib sitzen und iss. Ich befehle es dir – iss!«

Nyasha aß ein wenig.

»Sie ist satt, Baba«, sagte Maiguru, aber Babamukuru war unerbittlich. Er war sehr verärgert.

»Sie muss alles aufessen. Das macht sie immer, um mich herauszufordern. Ich bin ihr Vater. Wenn sie nicht tun will, was ich ihr sage, höre ich auf, für sie zu sorgen – Schulgebühren, Kleidung, Essen, alles.«

»Nyasha, iss auf«, riet ihre Mutter.

»Himmel nochmal!« Nyasha atmete durch, nahm mit einem Schulterzucken ihre Gabel auf und begann zu essen, erst langsam, doch dann schlang sie pausenlos. Die Atmosphäre entspannte sich mit jedem Bissen.

»Jetzt kannst du gehen«, sagte ihr Vater, als sie den Teller geleert hatte.

Sie ging direkt ins Bad und blieb lange dort. Ich entschuldigte mich vom Tisch und wartete im Schlafzimmer auf sie. Ich konnte sie würgen und keuchen hören.

»Ist dir schlecht?«, fragte ich, als sie hereinkam.

Sie setzte sich schwerfällig auf ihr Bett und schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie gedehnt. »Ich hab es selbst ausgelöst. Mit meiner Zahnbürste. Frag mich nicht, warum. Ich weiß es nicht.« Sie schwieg einen Augenblick lang, ohne mich anzuschauen, und als sie sich wieder zu mir wandte, waren ihre Augen voller Verzweiflung.

»Weißt du, Tambu«, setzte sie gequält wieder an, »vermutlich hat er recht, hat recht, mich nicht zu mögen. Es liegt nicht an ihm, sondern an mir. Aber ich kann nichts dafür, wirklich nicht. Er macht mich so wütend. Ich kann den Mund nicht halten, wenn er den Gott spielt. Ich bin einfach nicht dafür geschaffen. Warum bloß nicht? Wieso kann ich es nicht hinnehmen wie alle anderen auch? Ich sollte es hinnehmen, aber ich kann nicht.«

Es gab nichts Wahres zu sagen, was ihr geholfen hätte, also sagte ich nichts, sondern setzte mich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Es war besser, als du hier warst«, fuhr sie fort, »denn da konnten wir darüber lachen, dann wirkte es albern und komisch, und wir konnten so weitermachen. Aber jetzt, wo du weggehst, habe ich niemanden mehr, mit dem ich darüber lachen kann. Es wird nicht mehr komisch sein. Wir nehmen alle diese Dinge viel zu ernst. Aber in Wirklichkeit sind sie lächerlich, weißt du. Schau dir mal die ganze Aufregung wegen eines Tellers Essen an. So stellt er sich dar, aber in Wirklichkeit geht es um andere Dinge, um Jungen und Männer und anständig und unanständig und gut und böse. Er steigert sich immer mehr hinein in seine Beschuldigungen und Drohungen, und ich komme damit nicht klar. Manchmal schau ich mir die Dinge von seinem Blickwinkel aus an, du weißt, was ich meine. Traditionen und Erwartungen und Autorität, so was, und ich verstehe, was er meint, und versuche dann verständnisvoll und geduldig und gehorsam zu sein. Aber dann überlege ich mir, dass er auch verständnisvoll und geduldig zu mir sein sollte, also beginne ich mich zu wehren, und wir streiten wieder. Ich nehme an, es ist schon in Ordnung«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Ich werde mich einfach noch mehr anstrengen müssen, besser zu werden, das ist alles. Es tut mir leid, dass ich vorhin im Klassenzimmer hässlich zu dir war. Es ist nur … nur … Also, wie gesagt, du wirst mir fehlen.«

Dann sprachen wir über andere Dinge, hauptsächlich über die Klosterschule und was ich dort tun würde, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.