Viertes Kapitel

Die Hitze trommelte gegen die Holzhütte. Die Luft war wie gezuckert, der Raum so eng wie ein Rattenkäfig. Ein Tisch, ein Stuhl.

Es roch nach Blut und Urin, nach Schweiß.

Der Gefangene lag mit gefesselten Händen auf dem Lehmboden und rührte sich nicht. Aus einer Wunde am Kopf sickerte Blut.

Scharführer Manfred Rolfs stand breitbeinig über ihm, in der Hand einen Knüppel. Erneut holte er zum Schlag aus. Der Knüppel sauste auf den Kopf des zusammengekrümmt am Boden Liegenden, aus dessen Mund ein dumpfer Laut entwich, wie von einem Tier.

Der Sturmbannführer verschränkte die Arme über der Brust und lehnte sich zurück.

»Stellen Sie ihn irgendwie auf die Beine«, befahl er seinem Untergebenen. »Vielleicht will der Kerl jetzt endlich reden.«

Scharführer Rolfs, dessen Gesicht von unzähligen Mückenstichen entstellt war und entsetzlich juckte, packte den Gefangenen am Hosenbund und zog ihn hoch. Doch der junge Mann, ein untersetzter, drahtiger Bursche, nicht älter als sechzehn, siebzehn Jahre, sackte wieder in sich zusammen. Rolfs trat ihm in den Unterleib.

»Los, du Schwein, steh auf!«, brüllte er mit seinem bayrischen Akzent. Wie benommen versuchte der Gefangene, sich aufzurichten. Unsanft half der Scharführer nach, bis der junge Ukrainer dem Sturmbannführer gegenüberstand. Er schwankte. Sein zerfetztes Hemd, das einmal weiß gewesen war, hing aus der Hose. Würde er nun endlich reden?

Es war von großem Vorteil, dass Sturmbannführer Heinrich von Paalsick fließend Russisch sprach. Schon als Kind hatte er in seiner baltischen Heimat diese Sprache gelernt. Neben Deutsch und Estnisch war das selbstverständlich, denn die baltischen Staaten waren Teil des russischen Zarenreiches. Englisch und Französisch kamen frühzeitig hinzu, da sein Kindermädchen eine junge Engländerin war und die Erzieherin aus Bordeaux stammte. Bei den Verhören von ukrainischen Partisanen und gefangenen russischen Soldaten brauchte er keinen Dolmetscher und lief nicht Gefahr, dass bei den Befragungen wichtige Einzelheiten falsch wiedergegeben wurden. Im September ’41 in Gomel war er zufällig Zeuge geworden, wie ein Dolmetscher beim Verhör eines Rotarmisten dem Offizier der Wehrmacht lauter Lügen und Falschinformationen aufgetischt hatte. Der Dolmetscher, ein heimlicher Sympathisant der Partisanen, war sofort erschossen worden. Heinrich hatte die Wahrheit aus dem Gefangenen herausgepresst. Auf diese Weise wurde ein Angriffsplan des Gegners durchkreuzt, und Heinrich von Paalsick hatte sich bei der Wehrmacht in Gestalt von Oberst Müllerschön einen Freund gemacht.

Heinrich beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch.

»Also, noch mal von vorn«, begann er mit leiser Stimme. »Wie viele seid ihr, wo ist euer Standort?«

»Keine Ahnung, ich weiß nichts, ich bin nur ein einfacher Bauer …« Stoßweise quollen die Worte aus dem blutenden Mund des Gefangenen.

Dieselbe Litanei wie seit Stunden, dachte Heinrich.

»Wenn du uns sagst, was du weißt, geschieht dir nichts«, fuhr er fort.

»Ich weiß nichts.« Der Mann taumelte, und seine Beine knickten ein. Rasch packte Scharführer Rolfs ihn und riss ihn hoch. Der Mann schloss die Augen und spuckte in hohem Bogen Blut auf den Tisch. Einige Spritzer trafen Heinrichs Uniformrock. Er zuckte zurück und stand abrupt auf.

»Na schön, wie du willst!« Seine Stimme klang jetzt schneidend. Zum Scharführer sagte er auf Deutsch: »Schaffen Sie ihn raus, Rolfs. Lassen Sie die Bevölkerung zusammentreiben.«

Scharführer Rolfs schleifte den Mann aus dem Raum. Draußen wurden Befehle gebrüllt, Stiefelgetrappel ertönte.

Heinrich wischte sich die Blutspritzer vom Ärmel, doch sie hinterließen dunkle Flecken.

Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Diese Hitze, die gottverdammte Hitze! Die Mücken und der Staub. Und keine zehn Kilometer weiter verlief die Front. Wenn man das so nennen wollte. Es gab keine zusammenhängende Front mehr. Vor wenigen Wochen war Minsk vom Russen zurückerobert worden. Die 4. Armee und Teile der 9. Armee waren in einem riesigen Kessel eingeschlossen. Seit einigen Tagen hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass der Gegner bald unweit der ostpreußischen Grenze stehen würde und an der Weichsel.

Heinrich wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm seine Mütze vom Wandhaken und verließ die Holzhütte. Draußen bellten seine Männer Befehle. Schräg gegenüber, vor einem der armseligen Holzhäuser, stand eine Platane. Scharführer Rolfs befestigte einen Strick an einem der Äste. Der Gefangene lag reglos im Staub. Sein Oberkörper war inzwischen nackt, schmutzig und voller Blut. Die SS-Männer hatten im Halbkreis Position bezogen, während die Dorfbewohner – Frauen, Kinder und Alte – in einigem Abstand verharrten. Heinrich überquerte die Straße und gesellte sich zu seinen Soldaten.

Eine gespenstische Stille lag über dem Ort.

Scharführer Rolfs gab seinen Kameraden Kirchhoff und Hanser einen Wink. Die beiden SS-Männer packten den Ukrainer, der sich nicht wehrte, und schleiften ihn zur Platane. Rolfs legte dem Delinquenten die Schlinge um den Hals. Hanser und Kirchhoff griffen das Ende des Stricks, der vom Baum herunterbaumelte, zogen den Ukrainer nach oben und befestigten das Strickende an einem Ast. Die Füße des Mannes zuckten noch so lange, bis nach einigen Minuten der Erstickungstod eintrat. Scharführer Rolfs grinste und wandte sich salutierend an Heinrich.

»Befehl ausgeführt, Sturmbannführer!«, sagte er mit seinem gemütlichen Bayernakzent. Der Körper des Gehenkten baumelte träge am Ast der Platane, als wäre ein zarter Windhauch aufgekommen. Heinrich dankte dem Scharführer und wandte sich ab.

Die Dorfbewohner starrten ihn feindselig an, als er an ihnen vorüberging. Plötzlich trat eine alte Frau vor und bespuckte ihn. Ihr Speichel rann über sein Kinn.

»Verflucht sollst du sein, du Hundesohn! Er war mein Enkel!«, schrie sie in ihrem südukrainischen Dialekt, den Heinrich gut verstand.

Mit einer knappen Geste wischte er den Speichel ab. Erinnerungen holten ihn ein, als betrachte er ein großes Gemälde, dessen Einzelheiten ihm vertraut waren: das wogende Korn eines Feldes, das sich bis zum Horizont erstreckt. Das Rascheln der Ähren. Die Stummheit der Opfer, Alte und Junge. Ihre lautlosen Schritte inmitten des Weizenfeldes, unaufhaltsam in der Bestimmung ihres Schicksals. Hinter dem Kopf verschränkte Hände, das flirrende Mittagslicht auf blank polierten Gewehrläufen … Schüsse, die die Stille zerreißen und bis in alle Ewigkeit nachhallen …

Heinrich blickte in das gebräunte, derbe Bauerngesicht der Alten. Sie hielt seinem Blick stand, und er wusste, dass er keine Wahl hatte. Er presste seine Pistole an die Stirn der Alten und drückte ab. Die Frau fiel nach hinten, als hätte ihr jemand einen leichten Stoß versetzt. Auch dieser Schuss zerschnitt die Stille und nistete sich eine Weile in ihr ein. Dann begann ein Kind zu plärren, gefolgt vom Gemurmel der Einheimischen, das anschwoll und plötzlich verebbte. Die Dorfbewohner drehten sich um und verließen den Ort der Hinrichtung. Zurück blieb die Leiche der alten Frau, die hier bis in die Nachtstunden liegen würde, bevor Heinrichs Männer ihrer Familie gestatten würden, sie (und auch die Leiche ihres Enkelsohnes) zu bergen und zu begraben.

Heinrich warf einen letzten Blick auf den Leichnam der alten Frau. Sie trug schwarze Kleider und ein schwarzes, gehäkeltes Kopftuch, das durch den Sturz verrutscht war und ein Büschel grauer Haare freigab. Vom Alter her hätte sie seine Mutter sein können.

Oder seine Patentante Ada … die jüngere Schwester seines Vaters. Die Frau, die ihm nähergestanden hatte als seine Mutter. Diese hatte nie ein gutes und liebevolles Verhältnis zu ihrem ältesten Sohn entwickelt, als läge über seiner Geburt ein Makel oder ein großer, nicht zu überwindender Schmerz. Warum das so war, hatte Heinrich nie in Erfahrung bringen können. Seine Mutter behandelte ihn strenger, als es die adelige Etikette für einen Erben vorsah. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn als Kind in den Arm genommen oder ihm ein Wiegenlied gesungen. Als sein Bruder Carl viele Jahre später geboren wurde, gab sie ihm die Liebe, die sie ihrem Ältesten verweigert hatte. Carl gegenüber zeigte sie sich sanft und nachsichtig. Heinrich, damals bereits Gymnasiast, bemerkte all dies, doch es berührte ihn nur wenig. Die Liebe und Zuneigung zu seiner Tante Ada war da bereits ein fester Bestandteil seines jungen Lebens geworden. Ada, die unerschrockene Reiterin, die es bereits als junges Mädchen abgelehnt hatte, im Damensattel zu reiten. In bequemen Breeches, in Stiefeln und weichem Flanelljackett saß sie im Herrensattel wie ein junger Rittmeister. In der damaligen Zeit kam dies einem Skandal gleich. Hinter ihrer Burschikosität verbarg sich ein empfindsamer und fürsorglicher Charakter. Sie konnte Liebe und Verständnis schenken und war für Heinrich da, wenn er sie brauchte. Schon als Fünfjährigen hatte sie ihn auf ausgedehnte Ausritte über die familieneigenen Ländereien mitgenommen. Sie war die gute Freundin und Kameradin, mit der man Pferde stehlen konnte, eine Frau mit Humor und gesundem Menschenverstand, gleichermaßen Respekts- als auch Vertrauensperson. Noch heute vernahm Heinrich gelegentlich ihr tiefes, kehliges Lachen, ungewöhnlich für eine Frau von dreißig Jahren. Sie war die Einzige, die seinem Vater je die Stirn geboten und ihm widersprochen hatte, wenn es um Heinrichs Erziehung ging oder die Belange der Güter. Ada hatte nie geheiratet, und um angebliche, frühere Heiratspläne rankte sich ein Geheimnis, das nie gelüftet wurde.

Heinrich steckte seine Waffe zurück, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging mit raschen Schritten die Dorfstraße entlang zum einzigen Haus aus Stein, wo er sein Quartier aufgeschlagen hatte. Es war das Haus des örtlichen Popen, der seine kleine Gemeinde verlassen und sich ebenfalls den Partisanen angeschlossen hatte.

Er strich die Bilder des Gehenkten und der alten Frau aus seinem Gedächtnis und betrat das Popenhaus.

In einem schlichten Raum im Obergeschoss befanden sich das Funkgerät und Rottenführer Hallström. Er stammte aus Norwegen und hatte sich gleich zu Beginn des Russlandfeldzugs freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Ein blonder, blauäugiger Hüne, der gern lachte und an ruhigen, gefechtsfreien Abenden Mundharmonika spielte. Seine Kameraden nannten ihn »Wikinger«.

»Funkspruch vor fünf Minuten, Sturmbannführer«, sagte er mit seinem rauen Akzent. »Befehl vom Standartenführer: Wir sollen übermorgen an die rumänisch-ungarische Grenze abmarschieren.«

Heinrich nickte. Dieser Befehl bedeutete zunächst einige Tage Gefechtsruhe, gutes und geregeltes Essen und Auffrischung der Division, die in den letzten Monaten schwerste Verluste zu verkraften gehabt hatte. Junge Männer mussten in Ungarn rekrutiert und rasch ausgebildet werden. Der Feind stand mit starken Verbänden an den rumänischen Grenzen und würde in Kürze eine Großoffensive starten. Vielleicht die letzte, entscheidende an diesem Frontabschnitt. Die deutschen Heeresgruppen würden dem Gegner kaum etwas entgegensetzen können. Schon lange ahnte Heinrich, dass der Krieg verloren ging, dennoch trug diese Erkenntnis nicht dazu bei, dass er resignierte. Im Gegenteil, sie bestärkte ihn in seinem Willen, bis zum Schluss durchzuhalten und sein Bestes zu geben.

Er ließ sich in einen Sessel fallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Die Bilanz des heutigen Tages fiel verhältnismäßig mager aus. Ein junger Partisan und eine alte Frau, dessen Großmutter. Der Tod hatte etwas Alltägliches, an das man sich längst gewöhnt hatte wie an die tägliche Rasur.

Von fern erklang ein Donnergrollen. Bald darauf verdunkelte sich der Himmel, und die ersten schweren Regentropfen klatschten gegen das Fenster.

Es war eine laue Nacht. Das Gewitter hatte sich am Nachmittag heftig entladen und war weitergezogen. Auf der kurzzeitig verschlammten Dorfstraße war das Wasser bereits versickert. Wie Wundmale gruben sich die alten und neuen Wagenfurchen und Hufabdrücke in den lehmigen Boden. Auch die Spuren von Stiefeln und Knobelbechern waren zu sehen. Die Jahreszeiten im Singsang der Stiefeltritte … trockenes Knirschen im Schnee; schmatzend im Frühjahr, wenn die Erde auftaut und sich in knöcheltiefen Morast verwandelt; im Sommer das mahlende Geräusch auf staubiger Chaussee.

Heinrich saß im Wohnzimmer des Popen und schrieb an seine Frau. Hin und wieder hielt er inne, dachte nach, schrieb dann zügig weiter. Dass es in seinem Gefechtsabschnitt relativ ruhig zuging. Dass eine Quartier-Verlegung nach Ungarn befohlen worden sei. Dass er mit Liebe und Zärtlichkeit an seinen letzten Urlaub vor wenigen Wochen zurückdachte und dass Hoffnung bestand, spätestens Anfang Oktober erneut Urlaub beantragen zu können.

Er schraubte seinen Füllfederhalter zu und wartete, dass die Tinte auf dem Papier trocknete. Morgen oder spätestens übermorgen würde der Feldpostbrief auf dem Weg nach Berlin sein.

Er löschte die Schreibtischlampe und lehnte sich zurück. Mücken surrten durch den Raum, er schlug mit der Hand nach ihnen. Von fern war Geschützfeuer zu hören. Die Front, die keine mehr war, hatte sich weiter entfernt. Es würde eine ruhige Nacht werden.

Er zündete sich eine Zigarette an und dachte erneut an seine Frau. Hoffentlich verlief alles gut bei der Geburt des Kindes! Es konnte jeden Tag so weit sein. Er hatte alles geregelt und in die Wege geleitet. Das Zimmer im SS-Mütterheim war reserviert, dort waren Else und der Kleine bestens aufgehoben. Sein Bruder Carl würde sich um Else kümmern, auf ihn konnte Heinrich sich verlassen.

Er seufzte und lächelte. Er dachte an den Tag im Dezember letzten Jahres, als er zum ersten Mal mit seiner jungen Verlobten zu dem kleinen Ort in Thüringen fuhr, in dem sie aufgewachsen war. Der erste Schnee war gefallen und hatte Häuser und Straßen in eine träumerische Stille gehüllt. Später Nachmittag. An einem Hügel in der Nähe des Dorfangers fuhren einige Kinder Schlitten. Ihr fröhliches Juchzen mischte sich in die herabgleitende Dämmerung. Aus Schornsteinen quoll der Rauch von Holzöfen und Küchenherden. Else hatte ihren Verlobten untergehakt, er spürte ihren weichen Körper durch den karierten Stoff ihres Wintermantels. Beinahe im Gleichschritt gingen sie die Dorfstraße entlang.

Wenig später betraten sie Elses Elternhaus.

»Das duftet ja köstlich!«, rief Heinrich und gab seiner zukünftigen Schwiegermutter seinen Uniformmantel, den diese beinahe ehrfürchtig an den Garderobenhaken hängte.

»Mein Mann hat heute Nachmittag zwei Kaninchen geschlachtet«, erwiderte Elses Mutter. »Ich hoffe, Sie mögen Kaninchenbraten, Herr Baron?«

Heinrich verkniff sich ein Lächeln. »Und ob ich Kaninchenbraten mag, Frau Ruckhaber! Ach, und den Baron lassen wir mal weg«, fügte er jovial hinzu.

Gertrud Ruckhaber, geborene Schuster, bewohnte zusammen mit ihrem Mann Franz und ihren Kindern Werner, Burkhard und Roswitha ein kleines Haus in einer Gasse hinter dem Rathaus. Elses Stiefvater war früher Bergmann gewesen und aufgrund einer Lungenkrankheit früh aus dem Beruf ausgeschieden. Von seiner geringen monatlichen Rente konnte er seine Familie kaum ernähren. Von Natur aus phlegmatisch und mit wenig Initiative und Elan ausgestattet, saß er den ganzen Tag zu Hause herum und frönte seinem Hobby, dem Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Rundfunkapparaten. Die Arbeit im Haushalt, im Gemüsegarten, die Aufzucht der Hühner, Enten, Gänse und Kaninchen sowie die Last des Geldverdienens lagen allein auf den Schultern seiner Frau. Auch Elses drei Stiefgeschwister mussten kräftig zu Hause mit anpacken.

Zu ihnen hatte Else nie ein enges Verhältnis gehabt. Als sie jünger waren und Else noch bei der Familie lebte, musste sie ständig auf die Kleinen aufpassen und auch den Stiefvater versorgen, während ihre Mutter in einem Gasthof im nächsten Ort schuftete. Else, das vaterlose Kind, das in der Schule deswegen gehänselt wurde, war von Franz Ruckhaber nur geduldet, nie an Kindes statt angenommen worden.

Nun saßen sie alle um den großen Küchentisch.

Gertrud Ruckhaber hatte ihre blau karierte Kittelschürze nicht abgelegt. Heinrich betrachtete ihre Hände, als sie ihm vom Kaninchenbraten auftrug. Sie waren rissig und rot, die Hände einer Frau, die ihr Leben lang schwer gearbeitet hatte.

Das Essen schmeckte köstlich. Bei den Gastgebern herrschte eine verlegene Stimmung. Elses Halbgeschwister wagten kaum von ihren Tellern aufzusehen. Ihre Mutter hatte hektische rote Flecken im Gesicht, vermutlich vor Aufregung über den ungewohnten Besuch aus der unerreichbar geglaubten Welt, die sich nun ihrer Tochter Else erschließen würde.

Heinrich, der als Junge oft in den baltischen Dörfern rund um die Güter seines Vaters Einblick in das karge Leben der Tagelöhner und Bauern gehabt hatte, verspürte weder Peinlichkeit noch einen Anflug von Dünkel. Auf gewisse Weise empfand er ein Verantwortungsgefühl für schlichte Menschen. Gegenüber seiner zukünftigen Schwiegermutter, die zwei Jahre jünger war als er, hegte er seit dem Augenblick ihres Kennenlernens warmherzige Gefühle. Nachdem sie in jungen Jahren als Mutter eines unehelichen Kindes Spott und Erniedrigungen ihrer Mitmenschen hatte ertragen müssen, hatte sie schließlich in Franz Ruckhaber einen Mann gefunden, der sie trotz des Kindes, das sie mit in die Ehe brachte, geheiratet hatte. Doch das große Los hatte sie mit ihm nicht gezogen.

Else schien sich nun als frisch Verlobte eines Mannes, der ihr einen ungeahnten gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen würde, im Kreis ihrer Familie ausgesprochen wohlzufühlen. Munter plauderte sie über dieses und jenes, erzählte von dem Haus, das Heinrich in Rathenow, einer Kleinstadt westlich von Berlin, gemietet hatte, von der bevorstehenden Hochzeit. Auch vergaß sie nicht, Heinrichs Sohn Maximilian zu erwähnen, dem sie eine gute Mutter sein wollte. Heinrich sah, wie stolz sie auf ihr zukünftiges Leben war.

Liebte sie ihn? Diese Frage hatte er sich bereits im Feldlazarett gestellt. Er war unschlüssig gewesen und war es immer noch. Spielte das eine Rolle? Und wie stand es um seine eigenen Gefühle? Ja, er hatte sich in Else verliebt. In ihre Jugend, ihre anmutige Gestalt, ihre Unbekümmertheit. Als Witwer und Mann in den besten Jahren empfand er eine neue Verbindung als angemessen. Als er von der Schwangerschaft erfuhr, hatte er um ihre Hand angehalten. Das war für ihn Ehrensache gewesen. Er war keiner, der eine Frau mit einem Kind sitzen ließ. Er konnte ihr eine Zukunft bieten, die ihr in der Enge ihrer Heimat verschlossen geblieben wäre. Sie würde ihm Kinder gebären, seinem Sohn aus erster Ehe eine Mutter sein.

Das Kaninchenbratenessen in der Küche der Familie Ruckhaber ging zu Ende. Elses Stiefvater holte noch eine Flasche selbst gebrannten Holunderschnaps und goss Heinrich kräftig ein. Er stellte dem Sturmbannführer einige Fragen bezüglich des Kriegsverlaufs, enthielt sich jedoch jeden Kommentars zu Endsieg, Partei und Führer. Nur dass seine beiden Söhne, wenn sie alt genug waren, eingezogen werden könnten – dieser Gedanke machte ihm zu schaffen.

Das alles schien unendlich lange zurückzuliegen. Hier, in der staubigen Einöde Russlands, war die Zeit bedeutungslos geworden, so wie alles andere auch. Nur eines zählte – den nächsten Tag zu überleben, die darauffolgende Nacht. Seine Familie gab Heinrich Kraft, all das durchzustehen, seine Pflicht zu tun, den Frontabschnitt zu halten, auch wenn der am nächsten Morgen unwiderruflich verloren ging.

In der Nacht schreckte Heinrich aus dem Schlaf hoch. Wieder hatte er denselben Traum geträumt.

Er befindet sich in einer dunklen, engen Gasse. Sie liegt in Riga. Es ist Frühjahr 1919, doch Heinrich trägt nicht, wie damals, die Uniform der Landwehr, sondern die der Waffen-SS. Er ist auch nicht der junge Mann, der er in jener Zeit war. Aus einem der Häuser ertönen gellende Schreie von Frauen. Heinrich entsichert sein Gewehr und stürmt in den dunklen Korridor. Er irrt durch labyrinthartige Gänge, bis er in ein Verlies kommt, dessen Gittertüren offen stehen. Die Schreie sind plötzlich verstummt. Das Verlies ist übersät mit Leichen. Männer, Frauen, Kinder. Sie wurden erstochen, erschlagen, von Gewehrkugeln durchsiebt. Inmitten der Leichenberge entdeckt Heinrich seine Patentante Ada. Ihr Schädel ist zertrümmert, ihre Kleider und Wäsche sind zerrissen und mit Blut befleckt. Heinrich beugt sich zu ihr, nimmt ihren leblosen, zarten Frauenkörper in seine Arme. »Tante Ada«, flüstert er, »was haben sie dir angetan …« Ein Gefühl ohnmächtiger Wut und der Gedanke nach Rache durchströmen ihn, während ihm Tränen in die Augen schießen und seinen Blick verschleiern.

Durchs offene Fenster drangen die Geräusche der ukrainischen Sommernacht herein, etwas weiter entfernt die Stiefeltritte der Wachen, die durchs Dorf patrouillierten.

Die Erinnerung an Tante Ada empfand er als eine Wunde, die nie verheilen würde. Damals, 1919 in Riga, war Heinrich gerade achtzehn geworden und hatte in der baltischen Landwehr gegen die Bolschewiken gekämpft.

Er atmete schwer und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn. Als er fünf Minuten später erneut in den Schlaf sank, vermischten sich die Bilder seiner ermordeten Tante mit unscharfen Szenen aus dem Krakauer Getto, wohin Heinrich im Frühjahr ’41 zu Sonderaufgaben abkommandiert worden war.