Kurz vor halb fünf. Durch die Ritzen der Fensterläden blinzelte das Morgenlicht.
Maximilian saß am Küchentisch und schmierte sich eine Wurststulle. Er lauschte. Im ersten Stock rührte sich nichts. Offenbar schlief seine Stiefmutter noch. Leise verließ er das Haus und schwang sich auf sein Fahrrad, das an der Hauswand lehnte. Es würde ein heißer Tag werden. Selbst die Schatten verströmten bereits Wärme. Auf ihn und seine Kameraden wartete harte Arbeit.
In der Sandstraße Nummer 26 stand Annette Seiffert in der Nähe des Gartentors und goss die Blumenbeete. Sie winkte Maximilian zu. Er bremste und stieg vom Rad.
»Schon so früh unterwegs, Max?«, fragte sie und zeigte ein flüchtiges, eher wehmütiges Lächeln. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten, und die Bluse ihrer BDM-Uniform wölbte sich über dem zarten Ansatz ihrer Brüste.
Maximilian spürte, wie sein Herz pochte.
»Wir müssen wieder raus auf die Felder«, entgegnete er. »Und du? Was machst du heute?«
Annette zuckte mit den Schultern.
»Und heute Abend? Hast du da schon irgendwas vor?«
»Bisher noch nicht.«
Annette schenkte ihm einen langen Blick ihrer blauen Augen, in denen die immer gleiche Traurigkeit lag. Seit er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte er dies wahrgenommen.
»Wenn du Lust hast, hole ich dich gegen sieben Uhr ab«, erwiderte Max. »Wir könnten unten an der Havel ein Stück spazieren gehen. Und später in unserem Garten das Schlagen der Nachtigallen hören.«
Annette lächelte und nickte.
Maximilian stieg auf sein Fahrrad und fuhr davon. Das Pochen seines Herzens hatte nicht nachgelassen. Er mochte Annette Seiffert, verehrte sie beinahe. Sie war hübsch und nicht so albern wie andere Mädchen in ihrem Alter. Seit Anfang des Jahres wohnte sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante in der Sandstraße. Sie stammte aus Hamburg. Ihr Vater war bereits in den ersten Tagen des Frankreichfeldzugs gefallen. Ihre Mutter, eine Konzertpianistin, war zusammen mit Annettes jüngerem Bruder und sämtlichen Bewohnern des großbürgerlichen Mietshauses bei einem alliierten Fliegerangriff ums Leben gekommen. Annette hatte dieses Inferno nur durch großes Glück überlebt. Ihr Onkel, Otto Seiffert, der Bruder ihres Vaters, hatte die Nichte zu sich genommen. Er und seine Frau Waltraud waren kinderlos. Beim diesjährigen Sommersonnenwendfest hatte Max Annette etwas näher kennengelernt. Nach den Fahnenaufmärschen und den Reden der BDM- und HJ-Führer stürzten die Jungen und Mädchen zu den Verpflegungsstellen, wo gegrillte Würstchen und Brause verteilt wurden. Max, der hinter Annette in der Schlange stand, sprach sie an. Sie setzten sich an einen der langen Tische, und Annette erzählte ihm ihre Geschichte. Später brachte er sie nach Hause. Als sie sich verabschiedeten, spürte er ihren festen, warmen Händedruck. Daraufhin wagte er eine kurze Umarmung, die ihm die Röte ins Gesicht trieb. Lange fand er in jener Nacht keinen Schlaf. Zum ersten Mal in seinem Leben ahnte er, was es bedeuten könnte, in einem Mädchen mehr zu sehen als die Kameradin.
Als Maximilian eine Viertelstunde später den Gutshof erreichte, war er einer der ersten Erntehelfer, die eintrafen. Zusammen mit einem Kameraden spannte er zwei Gäule vor einen Leiterwagen, und wenig später fuhren die Schüler des Goethe-Gymnasiums, die jetzt in den Sommerferien dienstverpflichtet waren, auf mehreren Pferdefuhrwerken hinaus auf die Felder. Das Lied, das die Jungen aus voller Brust anstimmten, war weithin zu hören.