Gegen vier Uhr in der Nacht wachte Else auf. Unerträgliche Schmerzen durchzogen ihren Körper. Kündeten sich die ersten Wehen an? Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, ließen die Schmerzen in ihrem Leib nach. Schwer atmend fiel sie in die Kissen zurück. Zehn Minuten später schlief sie vor Erschöpfung wieder ein.
Um halb sieben, gleich nach dem Aufstehen, rief sie ihren Schwager Carl in dessen Wohnung in Berlin-Charlottenburg an. Er klang verschlafen, versprach ihr aber, bei seiner Dienststelle in Wünsdorf um Urlaub zu ersuchen.
Kurz nach neun hatte Else den Koffer gepackt und ihrem Stiefsohn ein paar Zeilen hinterlassen. Lieber Max, Onkel Carl bringt mich heute ins Entbindungsheim. Du kommst sicher gut allein klar, solange ich weg bin. Ich verlasse mich auf dich. Mutter.
Es würde wieder ein heißer Tag werden. Else sperrte die Fensterläden auf und öffnete das Küchenfenster. Grelles Sonnenlicht strömte herein. Aus einem der Nachbargärten erklang das ratschende Geräusch eines Rasenmähers. Im Rundfunk ertönte Schlagermusik. Wenig später wurde in den Nachrichten von den Luftangriffen der letzten Nacht berichtet. Köln und Berlin waren besonders schwer getroffen worden.
Bei einer Tasse Kamillentee und einer Scheibe Brot mit Honig öffnete sie Heinrichs Feldpostbrief, der am Tag zuvor angekommen war.
Meine liebste Else, las sie. Wie immer sind all meine Gedanken bei Dir und unserem Sohn, der in Kürze das Licht der Welt erblicken wird. Es tut mir in der Seele weh, dass ich in diesen Wochen nicht bei Dir sein kann. Aber ich werde hier an der Front dringend gebraucht, und bei Carl bist Du gut aufgehoben. Das ist für mich eine Beruhigung.
Ich hoffe, dass Dich dieser Brief möglichst schnell erreicht. Leider habe ich von Dir lange keine Post mehr bekommen. Da die Front ständig wechselt, gibt es wahrscheinlich Verzögerungen bei der Postbeförderung. Ich will also nicht ungeduldig sein.
Grüß Max bitte von mir!
Lass Dich umarmen und küssen von Deinem Heinrich.
Else ließ den Brief auf den Küchentisch gleiten. Sie hatte Heinrich auf seine letzten beiden Briefe noch nicht geantwortet. Damit wollte sie bis nach der Geburt des Kleinen warten.
Draußen auf der Straße bimmelte der Milchwagen. Schwerfällig erhob sich Else und ging in die Speisekammer. Dort stand noch eine volle Flasche Milch. Wenn Maximilian am Abend nach Hause käme, wäre für ihn gesorgt.
Zehn Minuten vor elf bremste Carls offenes Sportcoupé vor dem Haus, und Else öffnete die Haustür. Ihr Schwager hatte die Uniform gegen eine graue Gabardinehose und ein grünes Polohemd getauscht. Er wirkte sportlich und dynamisch, sein Lächeln war jungenhaft und irgendwie siegessicher. Ihre Blicke kreuzten sich. Nichts hatte sich geändert zwischen ihnen. Plötzlich, zum ersten Mal, überfiel Else die Angst, dass ihr Leben aus den Fugen geraten könnte, wenn sie den Dingen nicht Einhalt gebieten würde. Doch wollte sie das überhaupt?
Carl küsste ihr die Hand, und als sie die Haustür anlehnte, zog er sie kurz an sich. Sie fühlte sich einen Augenblick lang willenlos, dann löste sie sich sanft aus seinen Armen.
»Lass uns fahren, Carl. Ich befürchte, dass die Wehen bald wieder einsetzen.«
Bereits am Vormittag duckte sich das Land unter der gleißenden Sonne. Es war schwül, und der Fahrtwind verschaffte Else angenehme Kühlung. Der Kleine in ihrem Bauch rührte sich hin und wieder heftig, doch der Schmerz hielt nur wenige Minuten an. Es war höchste Zeit gewesen loszufahren.
Der Geruch des Sommers. Abgeerntete Felder rechts und links der Chaussee. Greifvögel, die sich in die Luft schraubten und nach Beute spähten. Der Krieg schien weit weg zu sein, trotz einer Wagenkolonne der Wehrmacht, die ihnen entgegenkam und Carl zu einem halsbrecherischen Ausweichmanöver auf der baumgesäumten Allee zwang.
»Die Alliierten stehen schon vor Paris«, sagte er unvermittelt. »Aber wir haben Vorsorge getroffen. Rund um die Stadt sind starke Kräfte konzentriert. Der Feind wird sich die Zähne ausbeißen.«
Er blickte starr geradeaus, und Else war sich nicht sicher, ob er an das glaubte, was er sagte. Doch sie stellte keine Fragen.
Zwei Stunden später erreichten sie Klosterheide. Hier befand sich eines der von der SS eingerichteten Lebensborn-Heime. Carl kannte solche Einrichtungen, doch er hütete sich, gegenüber seiner Schwägerin ihre wahre Bestimmung zu erläutern. Schließlich handelte es sich bei Else nicht um eine junge ledige Mutter, die hier aus rassehygienischen Gründen das Kind irgendeines SS-Angehörigen empfangen beziehungsweise zur Welt bringen sollte, um die Reinheit der arischen Rasse zu sichern. Else von Paalsick war die Frau eines Sturmbannführers der Waffen-SS, der im Felde seine Pflicht erfüllte und dessen Familie besondere Fürsorge genießen durfte. Für Ehefrauen der SS-Offiziere war daher in einem Nebentrakt der Einrichtung eine Wöchnerinnenstation eingerichtet worden. Else würde nicht mit den ledigen Schwangeren des Lebensborn-Projekts in Kontakt kommen. Bei bester ärztlicher Versorgung und Pflege könnte sie in Ruhe ihren Sohn zur Welt bringen.
SS-Stabsarzt Dr. Braun hatte im Weltkrieg eine Beinverletzung davongetragen und hinkte leicht. Aufgrund dessen kam eine Verwendung im aktiven Kriegsdienst nicht infrage. Die geruhsame Tätigkeit an der Heimatfront, in einem vorzüglich eingerichteten und personell bestens ausgestatteten SS-Mütterheim, schien ihm gut zu bekommen. Mit seinem braun gebrannten Gesicht sah er aus wie jemand, der gern in der Sonne liegt oder sich täglich auf dem Tennisplatz tummelt (falls seine Kriegsverletzung das zugelassen hätte). Der sorgsam gestutzte Oberlippenbart zeigte graue Strähnen und verlieh dem Arzt einen Hauch von Aristokratie.
»Wir haben im Nordflügel ein schönes Einzelzimmer für Sie vorbereitet, gnädige Frau«, sagte er und küsste Else die Hand. Sein rollendes R verriet, dass er aus Ostpreußen stammte. Er wandte sich an Carl.
»Gleich nach Ihrem Anruf heute Morgen wurde das Nötige veranlasst, Herr Major. Ihr Bruder hat ja schon vor Monaten alles in die Wege geleitet.«
Kurz darauf erschien die Stationsschwester, eine dünnlippige, Brille tragende Endvierzigerin. Der Stabsarzt stellte sie als Schwester Irene vor. Sie gab Else steif die Hand und nahm ihren Koffer. Carl und Else verabschiedeten sich förmlich.
»Alles Gute, Else!«, sagte Carl. »Hoffentlich geht alles glatt.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Major.« Dr. Braun lachte. Seine Zähne waren gelb verfärbt – die Zähne eines starken Rauchers – und trübten den Eindruck, den sein gut geschnittenes, gebräuntes Gesicht hinterlassen hatte. »Bei uns ist Ihre Schwägerin bestens aufgehoben!«
Es war früher Nachmittag, als Carl zurückfuhr.
Er dachte an Else und das Spiel mit dem Feuer, auf das sie sich seit geraumer Zeit eingelassen hatten. Einen Moment fragte er sich, wie Heinrich wohl reagieren würde, wenn er wüsste, dass seine Frau seinem jüngeren Bruder schöne Augen machte. Doch er wusste es ja nicht, und solange das nicht der Fall war, musste Carl sich auch keine Gedanken darum machen. Ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Bruder verspürte er nicht.
Sein Verhältnis zu Heinrich war seit jeher ein distanziertes, geprägt durch den großen Altersunterschied zwischen ihnen. Im Grunde war Heinrich ein Fremder für ihn. Erinnerungen an ein gemeinsames Familienleben gab es nicht. Heinrich hatte seine Kindheit und Jugend in der alten Heimat im Baltikum verbracht, Carl wurde kurz vor der Flucht vor den Bolschewiken geboren und wuchs in der Fremde auf. Da war die Familie derer von Paalsick plötzlich verarmt und hatte die jahrhundertealten Privilegien adliger Grundherren verloren. Mit knapper Not den russischen und estnischen Revolutionsgarden entkommen, lebten die Paalsicks einige Jahre in äußerst bescheidenen Verhältnissen in Finnland. Dann entschloss sich der verarmte Majoratsherr Constantin Baron von Paalsick zur Übersiedelung ins Deutsche Reich. Sobald Carl schulpflichtig wurde, steckte sein Vater ihn in ein Internat. Nach dem Abitur stand außer Frage, dass Carl die Laufbahn eines Berufsoffiziers einschlagen würde, wie traditionsgemäß alle jüngsten Söhne derer von Paalsick.
Heinrich, der als Ältester den Familienbesitz (drei Schlösser, große Ländereien, Waldgebiete, forstwirtschaftliche Betriebe und eine Brauerei) hätte übernehmen sollen, kam durch die Ereignisse der Oktoberrevolution nicht dazu, dieses Erbe anzutreten. Nach seiner Zeit in der baltischen Landwehr und der Enteignung der adeligen Großgrundbesitzer war er für einige Jahre in Russland untergetaucht. Mehr schlecht als recht hatte er sich mit Gelegenheitsarbeiten auf der Krim durchgeschlagen und seine adelige Herkunft verborgen. Erst 1922 war er ins Deutsche Reich gekommen. Da befand sich Carl gerade im Internat.
Heinrich hatte seinem Bruder vieles voraus, nicht nur die Jahre, die er älter war. Vor allem hatte er noch die Zeit in der alten Heimat erleben dürfen, eine Epoche voller Glanz, Reichtum und Sorglosigkeit. Wenn Carl ehrlich war, neidete er seinem Bruder manchmal diesen Vorsprung an Erfahrungen.
Um seine junge, hübsche Frau brauchte er ihn nicht zu beneiden. Else mochte mit Heinrich verheiratet sein und dessen Kind gebären – ihr Herz jedoch gehörte ihm. Das spürte er.