Nie zuvor hatte Else unter Schlafstörungen gelitten. Selbst während der Schwangerschaft war sie nachts nur selten aufgewacht, von den letzten Wochen einmal abgesehen, als Vicky sich mehr und mehr in ihrem Bauch bemerkbar gemacht hatte. Schlafstörungen waren etwas für schwachnervige, überspannte und unausgeglichene Charaktere, zu denen Else sich nicht zählte. Gestählt durch eine harte Kindheit, hatte sie von Beginn an gelernt, sich durchzusetzen. Frühzeitig war ihr bewusst geworden, dass ihre Chance darin lag, nach vorn zu blicken und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Diese Erkenntnis hatte sich bereits als nützlich erwiesen, als sie zu den Jungmädeln kam und sich dort durch Engagement und Einsatzbereitschaft hervortat. Sie war praktisch und patent veranlagt. Bereits in jungen Jahren konnte sie zupacken. Möglichst oft entfloh sie den häuslichen Pflichten, die darin bestanden, ihre drei jüngeren Stiefgeschwister zu versorgen. Mit fünfzehn war sie BDM-Führerin, ein weiterer Schritt zur Festigung ihres Selbstbewusstseins. Um den Makel der unehelichen Geburt und die Perspektivlosigkeit eines tristen Daseins in ihrem Heimatort endgültig hinter sich zu lassen, hatte sie sich frühzeitig zum Roten Kreuz gemeldet und war Hilfsschwester geworden. An der Front, wo tatkräftige Menschen mit eisernen Nerven an wichtiger Stelle gebraucht wurden, verblassten die Umstände ihrer Herkunft, weil niemand sich dafür interessierte.
Die Arbeit im Feldlazarett erforderte Durchhaltevermögen und eine robuste Natur. Else erlebte ihren ersten Kriegswinter vor den Toren Moskaus, wo der deutsche Angriff nach erbitterten Kämpfen zum Stillstand kam. Bei Temperaturen von minus vierzig Grad, hohen Verwundetenzahlen und der ständigen Feindbedrohung waren Mut und Stärke gefragt. Else verfügte über beides. Sie gehörte zu den Krankenschwestern, die als äußerst belastbar galten und sich bei den Ärzten und den verwundeten Soldaten großer Beliebtheit erfreuten. Stets zeigte sie sich einsatzbereit, selbst nach zweiundsiebzig Stunden ohne Schlaf. Sie hatte gelernt, sich bei großen Erschöpfungszuständen infolge tage- und nächtelanger Verwundetenversorgung, die dem Krankenpersonal alles abverlangten, in kurzzeitigen Schlafperioden schnell und ausreichend zu erholen.
In dieser Nacht jedoch wälzte sich Else unruhig im Bett hin und her. Der Regen war stärker geworden und untermalte mit monotonem Singsang die Minuten und Stunden der Nacht.
Vicky schlief in ihrer Wiege gleich neben dem Ehebett. Die Wiege, mit wunderschöner Bemalung und angeblich aus dem sechzehnten Jahrhundert, war ein Geschenk von Carl. Er hatte sie vor zwei Monaten zu einem Spottpreis aus den Mobiliar-Beständen einer großbürgerlichen Villa in Berlin-Grunewald erworben, die vormals einem jüdischen Fabrikanten gehört hatte.
Die jüngsten Ereignisse ließen Else nicht zur Ruhe kommen. Ihr Leben hatte in der vergangenen Nacht im Gasthof »Zur Linde« eine atemberaubende, möglicherweise verhängnisvolle Wendung genommen. Nun sah sie sich mit einer Situation konfrontiert, die sie im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Die Familie befand sich in akuter Gefahr. Angesichts dessen mussten ihre Liebe zu Carl und ihre seelische Aufgewühltheit in den Hintergrund treten.
Nach ihrem Telefonat mit Carl war ihr bewusst geworden, dass sie zunächst allein eine Entscheidung zu treffen hatte. Durch Maximilians unverzeihlichen Fehler, dieses Judenmädchen während ihrer Abwesenheit in seinem Elternhaus zu verstecken, hatte er Else in Bedrängnis und Zugzwang gebracht. Wie auch immer sie handeln würde, es war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Schickte sie das Mädchen fort, würde Annette Rosenthaler alias Seiffert binnen weniger Stunden, spätestens Tage, von der Gestapo geschnappt werden. Dann würde sie ausplaudern, wer ihr Unterschlupf geboten hatte, und die ganze Familie müsste sich verantworten.
Duldete sie hingegen Annettes Anwesenheit zumindest so lange, bis Carl in die Sache eingeweiht war und eine Lösung vorschlug, wäre das nicht minder gefährlich. Wie konnte Max sicher sein, dass tatsächlich niemand ihn und Annette an dem fraglichen Abend gesehen hatte? Alarmiert durch einen Hinweis der Nachbarn, könnte die Gestapo an der Tür klingeln. Je länger das Mädchen im Haus weilte, desto größer das Vergehen und die Schuld, die Else und Max auf sich luden. Frau und Sohn eines Sturmbannführers der Waffen-SS verstecken Judenmädchen im Haus. Elses sorgfältig geplantes Leben wäre jäh zu Ende! Ebenso ihr Verhältnis mit Carl, das wie eine schicksalhafte Bestimmung in der letzten Nacht eine erste, berauschende Erfüllung gefunden hatte.
Den Zustand zunächst so zu belassen und Annette Rosenthaler im Haus zu behalten, erschien ihr als die vorerst beste Lösung.
Am Nachmittag hatte sie beschlossen, das Mädchen nachts in den Keller einzuquartieren. Dort befand sich ein altes Feldbett, das von den Vormietern des Hauses beim Umzug vergessen worden war. Die derbe Segeltuchbespannung auf dem soliden Holzrahmen hatte die Jahrzehnte gut überstanden. Der muffige und schimmelige Geruch, der dem groben Tuch entwich, schien das geringste Problem zu sein. Max schaffte aus dem Gästezimmer eine Bettdecke und ein Kopfkissen in den Keller, Else stellte frische Wäsche bereit. Annettes wiederholte Dankesbezeugungen nahm sie zwar mit einem unwirschen »Jaja, schon gut, aber das wird kein Dauerzustand, das sage ich dir!« entgegen, doch als ein Mensch, der die Gabe besaß, sich auch in schwierigen Situationen immer Vorteile zu verschaffen, hatte sie bereits einen Plan gefasst. Tagsüber sollte Annette den Keller verlassen und Else bei der Hausarbeit helfen. Im Haushalt gab es immer irgendeine Arbeit zu tun. Vor allem mussten die Windeln der kleinen Vicky mehrfach am Tag gewechselt und gewaschen werden. Else hatte diese Arbeit noch nie gescheut; sie kannte das von ihren Stiefgeschwistern, deren beschmutzte Windeln sie bereits als Schülerin hatte waschen müssen. Aber jetzt war es doch angenehm, diese Tätigkeit nicht selbst erledigen zu müssen.
Als Vicky wach wurde und anfing zu schreien, war es vier Uhr früh. Else hatte bis dahin kein Auge zugetan. Sie verließ ihr Bett, nahm das Kind aus der Wiege und ging mit ihm einige Schritte durch den Raum. Doch erst, als sie der Kleinen die Brust gab, beruhigte Vicky sich. Satt und zufrieden schlief sie bald darauf wieder ein.
Auch Else fiel endlich in einen kurzen, unruhigen Schlaf.