Achtzehntes Kapitel

Seit einer Woche waren Max und seine Kameraden als Hilfskräfte zur Rodung von Buchenstämmen abkommandiert. An einem stürmischen Morgen fuhr er mit dem Fahrrad in ein Waldstück einige Kilometer außerhalb von Rathenow. Der Wind blies aus Nordost. Tief hängende, blauschwarze Wolken hetzten über den Horizont. Noch regnete es nicht, und er hoffte, dass es so bleiben würde.

Er traf als einer der Letzten im Wald ein. Fritz Weber grinste, als Max sich zu den anderen gesellte.

»He, Max! Heute und morgen geht es noch raus in den Wald, dann ist erst mal Feierabend!«

»Wieso?« Max stellte sein Fahrrad an den Zaun.

»Weil wir ’ne Einladung zu einem Lehrgang haben.«

»Was denn für ’n Lehrgang?«

Fritz Weber reckte stolz die Brust raus. »Weltanschaulicher Schulungslehrgang. Auf der Ordensburg Bütow. Das ist in Pommern.«

Max blickte den Gefolgschaftsführer entgeistert an. Seine Gedanken überschlugen sich.

»Du sagst ja gar nichts!« Fritz Weber blickte skeptisch. »Die Einladung kommt vom Kommandanten persönlich! Unsere ganze Gruppe, Max. Das ist eine Ehre, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann!«

Max strich sich die vom Wind zerzausten Haare aus der Stirn.

»Ich komme nicht mit«, sagte er, ohne den Gefolgschaftsführer anzusehen.

Fritz Weber lachte laut auf. »Was heißt das, du kommst nicht mit? Klar kommst du mit! Freu dich doch, dass die Ackerei im Wald für ’ne Weile zu Ende ist!«

»Es geht nicht, ich kann nicht mit.«

Fritz trat einige Schritte näher und kniff die Augen zusammen. In seiner Stimme schwang ein Unterton, der keinen Widerspruch duldete.

»Das ist ein Befehl, Paalsick. Kapierst du das? In zwei Tagen bist du abmarschbereit, genau wie die anderen.«

Max erwiderte nichts. Wenn er sich diesem Befehl widersetzte und irgendeine Ausrede fand, würde Fritz dumme Fragen stellen.

Den ganzen Tag schufteten die Jungen im Wald. Die Bäume wurden markiert, dann gefällt und von schweren Kaltblutpferden an Ketten auf eine Lichtung gezogen und von dort aus verladen. Gegen zehn hatte es angefangen zu regnen. Der Wind trieb den Regen in dichten Sprühfontänen vor sich her. Max und seine Kameraden waren trotz der Schutzkleidung nass bis auf die Haut.

Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Er hatte Angst, Annette zehn Tage allein zu lassen. Seiner Stiefmutter traute er nicht über den Weg. Sie und sein Onkel hatten sich zwar damit abgefunden, dass es für Annette vorerst keine andere Lösung geben würde, aber wer weiß? Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, den Aufenthalt auf der Ordensburg zu umgehen. Doch gleichzeitig wusste er, dass ihm dies nicht gelingen würde.

Es war bereits dunkel, als er völlig durchnässt und erschöpft nach Hause kam.

Onkel Carl war wieder einmal zu Besuch. Rasch wanderten Maximilians Blicke zwischen ihm und seiner Stiefmutter hin und her.

Bei dem Sauwetter war es wohl nichts mit einem Schäferstündchen, dachte er bissig. Sein Onkel trug Uniform und machte einen ausgesprochen aufgeräumten Eindruck.

»Na, Junge? Du hast sicher einen Mordshunger nach so einem Tag draußen im Freien.« Als sei er der Herr im Haus, bot Carl seinem Neffen an, am Abendbrottisch Platz zu nehmen.

Gezwungenermaßen musste Max von der Einladung zum Schulungslehrgang auf der Ordensburg erzählen. Er bemerkte Annettes unsichere, zutiefst erschrockene Blicke und wusste genau, was sie dachte. Else sagte zunächst nichts und brachte Vicky nach oben in ihre Wiege. Carls Reaktion fiel geradezu enthusiastisch aus.

»Das ist ja fantastisch, Max! Ein richtiger Glücksfall. Weißt du, wie viele Hitlerjungen einen Lehrgang auf einer Ordensburg machen dürfen? Ganz wenige, nur einige ausgewählte Gruppen! Ihr könnt stolz sein, dass ihr dazugehört.«

»Für mich ist nur eines wichtig.« Max schwieg einen Moment und sah seinen Onkel durchdringend an.

»Was denn?«

Vom Treppenhaus her waren Elses Schritte zu hören. Max wartete, bis sie zurück in die Küche kam, und fuhr dann fort.

»Für mich ist wichtig, dass Annette hierbleiben darf, während ich weg bin. Das müsst ihr mir versprechen.«

Else runzelte die Stirn, lächelte kurz und sagte beinahe flapsig: »Was heißt versprechen? Denkst du etwa, wir liefern sie an die Gestapo aus? Dann sind wir doch selbst dran.«

Annette, die gewöhnlich nicht viel aß, hatte sich über den Teller gebeugt und löffelte hastig ihre Suppe, als könnte es die letzte Mahlzeit sein.

»Du brauchst dir um Annette keine Sorgen zu machen«, versicherte Carl seinem Neffen. »Sie bleibt hier. Ich hoffe nur, dass wir nicht doch eines Tages auffliegen, dann gnade uns Gott!« Entschlossen nahm er seinen Löffel und aß weiter.

Max hatte seinen Blick nicht von ihm gewandt. »Ich möchte, dass du mir dein Ehrenwort gibst, Onkel Carl. Dein Ehrenwort als Offizier, dass ihr sie nicht wegschickt oder dass sonst was geschieht.«

Erneut hielt Carl beim Essen inne. »Was meinst du denn mit ›sonst was‹, Max?«

Max zuckte mit den Achseln. »Also, gibst du mir dein Ehrenwort?«

Carl tauschte einen raschen Blick mit Else, dann lächelte er.

»Ich weiß nicht, wofür du mich hältst! Natürlich gebe ich dir mein Ehrenwort, Maximilian. Wenn du das brauchst, gebe ich es dir. Aber ich hätte eigentlich mehr Vertrauen von dir erwartet.«

Max antwortete nicht, sondern wechselte das Thema. Ohne seine Stiefmutter anzusehen, richtete er eine Frage an sie.

»Wann kommt Papa eigentlich das nächste Mal auf Urlaub?«

»Keine Ahnung. Heute kam ein Feldpostbrief, den kannst du nachher lesen, wenn du willst. Dein Vater schreibt, dass die Russen den Verteidigungsring in Ungarn durchbrochen haben und dass sein Regiment in starke Gefechte verwickelt ist. Er ist dort unabkömmlich. Ich hoffe nur, dass ihm nichts passiert!«

Diese falsche Ziege!, dachte Max. Er schlug eine der Decken um seine Knie. Im Keller war es kalt. Annette saß auf der Kante des Feldbettes und wärmte ihre Hände an dem kleinen Heizofen. Ausnahmsweise gab es heute Abend keinen Stromausfall.

»Dabei ist es genau das, was sie sich wünscht«, fuhr Max im Flüsterton fort. »Dass Papa gar nicht mehr zurückkommt.«

»Damit sie dann deinen Onkel heiraten kann?«

»Ganz genau. Meinen Vater liebt sie ja gar nicht. Wenn er bloß bald Urlaub hätte, dann könnte ich mit ihm reden.«

Annette rieb sich die Hände. Sie waren gerötet und wurden langsam warm.

»Ist vielleicht besser, wenn er nicht so schnell Urlaub bekommt. Meinetwegen, meine ich. Wenn du jetzt wegfährst.«

»Da brauchst du keine Angst zu haben. Mein Vater ist ein Ehrenmann.« Plötzlich geriet er ins Stottern. »Er … er würde Frauen und Kindern nie was antun. Er würde dich irgendwo in Sicherheit bringen.«

»Glaubst du das wirklich?«

Max spürte, dass er rot wurde. »Ich … ich weiß nicht. Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll.« Unsicher blickte er sie an.

Annette stand auf und ging zu Max. Sie hockte sich neben seinem Schemel nieder und umschlang seinen mageren, knochigen Körper.

»Ich habe Angst, wenn du weg bist«, flüsterte sie.

»Brauchst du nicht«, erwiderte er und blieb reglos. »Mein Onkel hat mir sein Ehrenwort gegeben. Und in unserer Familie bricht man das nicht.«

Er spürte Annettes Atem an seinem Gesicht. Wie wild pochte sein Herz, so stark fühlte er sich ihr verbunden.

»Heute Nacht gehe ich nicht nach oben«, flüsterte er. »Ich bleibe hier bei dir.«

Es war unbequem auf der durchgelegenen Militärpritsche, und die Decken reichten nur notdürftig für zwei. Max hielt Annettes Hand und hatte seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt. Er sehnte sich nach Geborgenheit, nach Schutz in einer Welt, in der ihn vieles verstörte und er sich nicht mehr so selbstverständlich zurechtfand wie zuvor.

Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich keinem Menschen so nah gefühlt wie Annette. Seinen Vater liebte und respektierte er auf eine distanzierte Weise. Maximilians Verhältnis zu ihm war in dem Augenblick brüchig geworden, als Annette Zuflucht im Hause Paalsick gefunden hatte. Das Bild des ritterlichen Vaterlandsverteidigers und das des überzeugten Judenhassers (so stufte Max ihn jetzt ein, wie alle anderen in seinem Umfeld) wollten nicht zusammenpassen.

Er dachte an seine verstorbene Mutter. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie häufig krank gewesen und hatte Monate in Sanatorien verbracht. Wie hätte sie sich Annette gegenüber verhalten, wenn sie noch am Leben gewesen wäre? Hatte auch sie früher verächtlich und voller Hass über die Juden geurteilt? Max konnte sich nicht entsinnen, dass dieses Thema je von ihr erwähnt worden war.

»Woran denkst du, Max?«

»An meine Mutter.«

»Du hast mir nie richtig von ihr erzählt.«

»Was soll ich dir erzählen? Sie war …« Hier stockte er. Plötzlich standen Tränen in seinen Augen, und seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Du hast sie geliebt, und sie fehlt dir. Ich kann dich gut verstehen, Max. Es tut mir unendlich leid, dass sie so früh gestorben ist.« Sanft strich Annette mit dem Finger über seine Wange und wischte die Tränen fort, die er nicht zurückhalten konnte. »Meine Mutter fehlt mir auch. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Diese Ungewissheit ist für mich schlimmer als alles andere.«

Max wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es gab keine tröstenden Worte für Annette, genauso wenig wie für ihn. Im Überschwang seiner Gefühle nahm er sie in die Arme. Ganz nah waren sich ihre Gesichter, ihre Blicke. Im schummrigen Licht der schwach flackernden Kerze schimmerten Annettes Augen in der Farbe eines tiefblauen Nachthimmels.

Jenseits aller Worte schien es ein stummes Einverständnis zwischen ihnen zu geben, ein festes Band, das niemand je zerstören könnte. Wie selbstverständlich küsste Max Annette auf den Mund. Als hätte sie diese Geste erwartet, erwiderte sie den Kuss. Es war das erste Mal, dass sie sich so nahe kamen. Zunächst behutsam, dann immer drängender erforschten sie einander, ließen sich hineinfallen in einen Strudel nie gekannten Glücks und erster Erfüllung.

Als wenig später die Kerze heruntergebrannt war, draußen ein pfeifender Wind die Schatten der Alleebäume auf die Hauswände warf, schliefen Maximilian und Annette bereits. Eng umschlungen, zwei Liebende, ruhten sie auf ihrer schmalen Lagerstatt.