Seit Tagen regnete es. Wie ein schmutziges Leichentuch spannte sich der Himmel über Hügel und Ebenen, Wälder und kleine Ortschaften. Der Schlamm stand knöcheltief in den ungepflasterten Straßen. In Scharen floh die Zivilbevölkerung aus dem Kriegsgebiet.
Wie Heinrich befürchtet hatte, waren die Rumänen abtrünnig geworden und hatten Deutschland und Ungarn den Krieg erklärt. Ganze rumänische Regimenter liefen zu den Russen über, die mit einer Übermacht von sechshunderttausend Soldaten, schwerem Geschütz und Panzern die ungarische Grenze überrollt hatten. Die Verbände der Heeresgruppe Süd, unter deren Befehl die Division »Florian Geyer« gestellt worden war, versuchten verzweifelt, die jeweiligen Frontabschnitte zu halten, die oft schneller wechselten als die Stunden des Tages. Die Verluste waren hoch, und der Feind drängte unaufhaltsam voran.
Immer wieder brach die Front zusammen, und Heinrichs Regiment war gezwungen, die Stellungen zu räumen und den Rückzug anzutreten. Das Regiment litt unter starker Ausdünnung. Es bestand nur noch aus achtzig Mann, zu denen etwa dreißig versprengte Wehrmachtssoldaten zu zählen waren, die sich Heinrichs Befehl unterstellt hatten.
Eines Abends, während einer Feuerpause, die einige Stunden anhielt, kam Heinrich zur Lagebesprechung auf den Gefechtsstand, der ständig wechselte und seit dem frühen Morgen in einem verlassenen Bauernhof am Rand eines Waldstücks lag. Der Standartenführer erklärte den Führungsoffizieren der Division in knappen Worten die militärische Situation angesichts der russischen Großoffensive, ohne die Lage zu beschönigen.
»Die Absichten des Feindes sind klar. Er will so schnell wie möglich nach Budapest. Der Führerbefehl lautet: um jeden Preis verhindern, dass ihm das gelingt. Die Stadt wird bis zum letzten Blutstropfen verteidigt, so wie jeder Frontabschnitt bis zuletzt gehalten wird.«
Nach der Besprechung nahm der Standartenführer Heinrich beiseite.
»Es kann zum Äußersten kommen, Paalsick. Unsere Verluste sind hoch, und der Feind wirft starke und frische Kräfte an die Front. Dass die Rumänen abgefallen sind, könnte uns das Genick brechen.« Er blickte Heinrich forschend in die Augen. »Sie sind ein hervorragender Truppenführer, Paalsick, aber Sie sind nicht mehr der Jüngste.«
Heinrich runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das, Standartenführer?«
»Ich meine, dass der Winter kommt, dass die Gefechte noch erbitterter geführt werden und dass hier jüngere Leute ihre Bewährungschance erhalten sollten.«
Heinrich sah ihn fassungslos an. »Ich tue meine Pflicht für Führer und Vaterland!«
Der Standartenführer schlug ihm beruhigend auf die Schulter. »Ich weiß, und niemand zweifelt an Ihren Fähigkeiten. Ich wollte Ihnen nur anbieten, in einen ruhigeren Gefechtsabschnitt zu wechseln. Dort werden Männer wie Sie genauso gebraucht.« Er hielt einen Moment inne und sagte dann mit verhaltener Stimme: »Ich befürchte, dass der Feind Budapest schneller erreicht, als uns lieb ist. Und wenn Budapest fällt, ist das Tor nach Westen offen.«
»Bitte um Erlaubnis, bei meinem Regiment bleiben zu dürfen, Standartenführer.«
»Natürlich, Paalsick, ich verstehe, dass Sie sich in Ihrer Ehre gekränkt fühlen! Aber das war ganz und gar nicht meine Absicht. Denken Sie über meinen Vorschlag nach. Zumindest sollten Sie demnächst ein paar Tage Urlaub nehmen. Soweit ich weiß, haben Sie Ihre kleine Tochter noch gar nicht gesehen.«
Auf dem Rückweg vom Gefechtsstand zum Regiment, das zwei Kilometer weiter in Stellung lag, dachte Heinrich über die Worte seines Vorgesetzten nach. Er ärgerte sich zunächst über dessen Vorschlag. Gewiss, er war kein junger Mann mehr, und er hätte sich aufgrund seines Alters schon längst versetzen lassen können, doch das wäre unter seiner Würde gewesen. Nach dem Tod von Amalia und nach den gescheiterten Rom-Plänen hatte man ihm den geruhsamen Posten eines Lagerkommandanten im Osten angeboten. Doch Heinrich wollte keine Tätigkeit als Verwalter von Häftlingszahlen, Gasvorräten und Todeslisten, er wollte an der Front seinen Beitrag zum Endsieg leisten.
So beschloss er, seinen Ärger herunterzuschlucken und die guten und kameradschaftlichen Absichten zu sehen, die den Worten des Standartenführers zugrunde gelegen hatten. Und ein paar Tage Urlaub – die würde er sich nicht entgehen lassen.