Er hängte seinen regennassen Mantel am Garderobenhaken auf und legte Hut und Handschuhe auf die Kommode. Es war dunkel. Noch immer fiel hier regelmäßig der Strom aus.
Sie küssten sich und gingen ins Wohnzimmer, wo Kerzen brannten, die eine heimelige, beinahe adventliche Stimmung verströmten.
»Hast du gegessen, Carl?«
»Ja, danke, im Kasino. Um ein Haar hätte ich nicht kommen können. Doch die Lagebesprechung wurde kurzfristig abgesagt. Der General musste zum Führer in die Wolfsschanze. Kein angenehmer Flug bei dem Sauwetter. Im Südosten bricht die Front zusammen. Die Russen stehen in Ungarn.«
Also dort, wo Heinrich ist … Else wusste, dass an diesem Frontabschnitt (wie an allen anderen) täglich Tausende Soldaten und Offiziere fielen. Sie sagte nichts, blickte Carl nur an. Beide dachten dasselbe.
»Was macht Vicky? Schläft sie schon?« Zärtlich berührte Carl mit seinem Mund Elses Haare, die nach Kamille dufteten.
»Ja, sie liegt oben. Wie lange wirst du wegbleiben?«
»Kann ich noch nicht sagen«, murmelte er und küsste Elses Nacken. »Aber bis Mitternacht bin ich sicher zurück.«
Else schob ihn sanft von sich, richtete ihre Frisur. Carl verließ das Wohnzimmer und betrat die Küche, wo eine Petroleumlampe schwaches Licht verströmte. Else folgte ihm. Er öffnete die Kellertür. Am Fuß der Treppe sah er den schwachen Lichtschein der Kerze.
»Annette?«, rief er. »Kommst du mal rauf?«
Ohne zu antworten, erhob sich das Mädchen vom Schemel, blies die Kerze aus und ging die Stufen hoch. Sie verschränkte die Arme über der Brust, blickte Carl und dessen Schwägerin fragend an.
»Ja?«
Carl lächelte jovial. »Du ziehst dir jetzt was Warmes an und kommst mit. Ich habe eine Lösung gefunden. Menschen, die dich aufnehmen, wo du in Sicherheit bist. Hier bei uns ist es zu gefährlich für dich. Mein Bruder kann jeden Tag auf Urlaub kommen. Und er wäre nicht so tolerant wie Maximilians Mutter und ich.«
Annette fing an zu zittern. Die Kälte der letzten Stunden und die Angst, die sie plötzlich ansprang wie ein hungriges Tier, ließen sie erschauern. Sie trat einige Schritte zurück, lehnte sich wie Schutz suchend gegen die Küchenwand.
»Sie haben Max Ihr Ehrenwort gegeben, dass ich nicht wegmuss«, sagte sie leise.
Carl hob beruhigend die Hand. »Ja, ja, natürlich, und das halte ich! Dir wird nichts geschehen. Du kommst nur an einen Ort, der viel sicherer ist.«
»Wohin denn?« Annettes Mund war ganz trocken. Tränen stiegen in ihr auf, doch es gelang ihr, sie zu unterdrücken.
»Es gibt Mittelsmänner, die Verstecke für euch Juden organisieren. Wo das sein wird, kann ich dir nicht sagen. Auf jeden Fall bei Leuten, die dich nicht verraten.«
»Und woher kennen Sie solche Mittelsmänner, Herr von Paalsick?«
»Das ist ja völlig egal«, mischte sich Else ein. Ihre Stimme klang ungeduldig. »Hauptsache, der Kontakt ist hergestellt! Sei froh und dankbar, dass der Herr Major das für dich in die Wege geleitet hat.«
Else ging in den Flur und nahm einen alten Wintermantel aus dem Garderobenschrank.
»Hier, zieh das an«, sagte sie. »Einen Schal finde ich auch für dich«, fügte Else hinzu. »Es ist kalt draußen, und wir wollen ja nicht, dass du dir eine Grippe einfängst.«
Carl nahm den Mantel und hielt ihn Annette galant hin. Sie blickte ihn forschend an, als wollte sie den Grund seiner Seele erkunden.
»Sie versprechen, dass mir nichts geschieht?«
»Was soll dir denn geschehen? Glaubst du, ich lüge dich an?«
Annette war unsicher, ob sie das glauben sollte. Maximilians Onkel hatte sie zwar stets gut behandelt, freundlich mit ihr gesprochen und keine Feindseligkeit gezeigt, aber auch netten Menschen konnte ein Mädchen wie sie nicht vertrauen. Feindseligkeit verbarg sich oft hinter einem ablenkenden Lächeln. Doch hatte sie eine Wahl? Zögernd trat sie einen Schritt näher und schlüpfte in den Mantel.
»Und Max? Sagen Sie ihm dann Bescheid, wo ich bin?«
»Natürlich. Wir sagen ihm, dass du in Sicherheit bist. Wenn der Krieg vorbei ist – und ich glaube, er ist bald vorbei –, kann er dich besuchen.«
Wieder stieg eine Welle von Angst in Annette hoch. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn der Krieg vorbei ist und Deutschland ihn gewinnt, wird sich nichts ändern. Dann bin ich niemals in Sicherheit, und irgendwann schnappen sie mich. Doch vielleicht verlor Deutschland ja den Krieg. Herr Seiffert war seinerzeit überzeugt davon gewesen, und die Frontberichte auf Radio London schienen ihm recht zu geben.
Inzwischen hatte Else aus der Flurkommode einen dunkelblauen Schal und ein wollenes, kariertes Kopftuch geholt. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Mit entschiedener Geste schlang sie Annette den Schal um den Hals und knotete das Kopftuch fest.
»So, das wär’s. Willst du noch irgendwas mitnehmen? Proviant brauchst du nicht, weil du heute noch in dein neues Versteck kommst. Da sind Leute, die für dich sorgen.«
Annette lief rasch in den Keller, holte ihr grünes Büchlein, den Bleistiftstummel und steckte beides in die Manteltasche.
Stufe für Stufe ging sie nach oben, das letzte Mal. Sie wusste nicht, was sein würde. Sie wusste nur, dass sie für immer Abschied von diesem Haus nahm. Sie wandte sich an Else.
»Kann ich Vicky noch mal sehen? Bitte!«
Else schüttelte den Kopf. »Sie schläft. Die Kontaktleute warten! Und der Herr Major hat nicht ewig Zeit.«
Vorsichtig öffnete sie die Haustür und spähte auf die Straße. Der Regen fiel in starken, gleichmäßigen Bahnen. Keine Menschenseele war zu sehen.
»Also los«, sagte sie zu Annette. »Zu bedanken brauchst du dich nicht. Beeil dich!«
Carl lief auf die Straße und öffnete die Beifahrertür des Sportcoupés. Annette drehte sich noch einmal zur Haustür, doch die fiel in diesem Moment ins Schloss. Sie rannte zum Wagen. Zum ersten Mal nach langer Zeit spürte sie den Regen im Gesicht, die kalte, prickelnde Nachtluft auf der Haut. Das, was sie in diesem Augenblick empfand, war kein Gefühl von Freiheit oder gar Glück. Auch keine Furcht.
Eher eine große Müdigkeit und Leere.